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Ausgabe:

1911 Nr. 17

Spalte:

527-529

Autor/Hrsg.:

Schmidlin, Joseph

Titel/Untertitel:

Die kirchlichen Zustände in Deutschland vor dem Dreißigjährigen Kriege nach den bischöflichen Diözesanberichten an den Heiligen Stuhl. 3. Teil: West- und Norddeutschland 1911

Rezensent:

Bossert, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 17.

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entzug, hat Köftler zum Gegenftand einer eindringenden
Unterfuchung gemacht. Bereits im römifchen Rechte
findet fich, was bisher kaum beachtet worden ift, die
Drohung kaiferlicher Ungnade und zwar als unmittelbarer
Folge des Zornes Gottes über alle, die nicht ,der
Religion des hl. Petrus' angehören. Juftinian bediente
fich diefer Formel, um damit fchwere Religionsdelikte
feinem perfönlichen Gericht vorzubehalten. Denn für ihn
,war es Gewiffensfache, Religionsverbrechen gehörig zu
beftrafen, um nicht felbft vom Zorne Gottes getroffen zu
werden' (S. 8). Eine Auffaffung, die im fchroffften Gegen-
fatz fteht zu der heidnifch-römifchen Anfchauung, daß
die Rache an ihren Beleidigern nur der Gottheit felbft
zukomme.

Im fränkifchen Reich unterfcheidet K. fchärfer als
Beyerle zwifchen Huldentzug gegenüber den Beamten
und gegenüber den Untertanen. Jenen führt auch er als
,eine Eigenbildung des fränkifchen Rechts' auf das Treueverhältnis
zurück. Dagegen fieht er ,die letzte Wurzel'
für die Anwendung der Strafe des Huldentzugs gegenüber
den Untertanen in der chriftlichen Lehre von der
Gnade Gottes und in der chriftlichen Anfchauung, daß der
König der Vertreter Gottes auf Erden ift. Wie mir fcheint,
hat hier K. die von B. ftark betonte Umwandlung des
Verhältniffes von König und Untertanen, die fich unter
den Merovingern vollzog, doch nicht richtig eingefchätzt.
— Auf die weitere Darftellung der Gefchichte des Huldentzugs
im Mittelalter kann hier nicht eingegangen werden
. Dagegen muß ausdrücklich hingewiefen werden auf
den dritten Abfchnitt, der die Ungnade im kirchlichen
Recht behandelt. Auffallend fpät, nämlich erft zu Beginn
des 1 I.Jahrhunderts, findet fich die päpftliche Gnade neben
der Gottes und der Heiligen verheißen. Androhung des
Huldentzugs findet fich zuerft unter Alexander IL im
Jahre 1063. Wie vieles andere in diefer Zeit päpftlicher
Kanzleireform ift auch diefe Strafe aus der kaiferlichen
Kanzlei übernommen. Gegenüber dem Kirchenbann bedeutet
fie eine Strafminderung, ift aber zugleich ein Ausdruck
der gefteigerten Strafgewalt des Papftes. Seit dem
Beginn des 12. Jahrh. ftehen Formel und Anwendungsgebiet
(Privilegienverletzung jeder Art) feft. Die Formel
felbft, längft inhaltslos geworden, führt in den Erlaffen
der päpftlichen Kanzlei bis auf den heutigen Tag noch
ein Scheindafein; aus der kaiferlichen Kanzlei ift fie erft
unter Maria Therefia verfchwunden.

Die Unterfuchung hätte m. E. an Klarheit noch gewonnen
, wenn der Verf. nicht jedesmal zuerft Ausbildung
und Inhalt der Strafe in den einzelnen Rechtsgebieten,
dann erft ihre Herkunft befprochen hätte. Bei Umkehrung
der Reihenfolge wäre wohl manche Wiederholung
fortgefallen.

Marburg. Gerhard Bonwetfch.

Schmidlin, Prof. Dr. Jofeph: Die kirchlichen Zuftände in
Deutfchland vor dem Dreißigjährigen Kriege nach den
bifchöfl. Diözefanberichten an den Hl. Stuhl. 3. (Schluß-)
Teil: Welt- und Norddeutfchland. (Erläuterungen u.
Ergänzungen zu Janffens Gefch. d.deut. Volkes. VII. Bd.,
5. u. 6. Heft.) Freiburg i. B., Herder 1910. (V, 254 S.)
gr. 8° M. 7 —

Überrafchend fchnell hat Schmidlin feine Darfteilung
der kirchlichen Zuftände in Deutfchland vor dem dreißigjährigen
Krieg vollendet. Der Schlußband gibt die Gefchichte
von Konftanz, Straßburg, Bafel, Mainz, Trier,
Köln, Lüttich, Breslau, Ermland und Kulm und fchließt
mit einem Überblick über die Diözefen, aus welchen keine
Berichte vorliegen, Münfter, Paderborn, Minden, Osnabrück
, Hildesheim, Halberftadt, Magdeburg, Bremen-
Hamburg, Lübeck. Die übrigen oftelbifchen Bistümer
faßt Schm. in wenige Sätze zufammen. Das Gefamtbild
ift trübe. Wohl hat fich in einzelnen Diözefen die alte

Kirche kräftiger erhalten, als in den meiften andern, wie
z. B. Trier. Wohl gibt es eine Reihe wackerer Kirchen-
fürften, wie der Kardinal Andreas von Öfterreich und
Jakob Fugger in Konftanz, Joh. Schweikard von Kronberg
in Mainz und fein Weihbifchof Stephan Weber, ,ein
heiligmäßiger Mann', der Breslauer Andreas Jerin. Aber
neben ihnen fteht Ernft von Baiern, der fünf Bistümer
an fich brachte, ein Mann von ,ungeiftlicher, Ärgernis
erregender Lebensweife'7 der, obwohl geweihter Priefter,
nie als folcher fungierte, fich ,der Jagd, dem Trunk und
Spiel, ja gefchlechtlichen Ausfchweifungen ergab' (S. 149).
Die Tätigkeit der Kurie zum Betten der Kirche erfcheint
fehr befcheiden.

Trotz des Tridentinifchen Konzils geftattete Rom
die Kumulation von Pfründen und Bistümern. Immer
noch gabs zu klagen über Provifionen, wodurch minderwertige
Leute zu Ämtern kamen (91. 170), und römifche
Prozeffe (S. 170). Die Refidenzpflicht ltand vielfach nur auf
dem Papier. Die geforderte visitatio liminum und relatio
Status unterblieb oft ohne Furcht vor den gedrohten
Strafen. Der Befcheid auf jene Berichte beftand vielfach
in fchönen Worten ohne Taten. Die Tätigkeit der
Bifchöfe war durch ungenügende Fakultäten zum Dispens
in Ehefachen oder zur Abfolution von Konvertiten gehemmt
. Das Staatskirchenrecht katholifcher Staaten
machte ihrer Jurisdiktion die größten Schwierigkeiten. Z. B.
gab die öfterreichifche und die fpanifche Regierung Anlaß
zu bittern Klagen, aber auch der reichsunmittelbare
Adel (S. 13. 14. 76. 135. 170). Nach Akten des Staatsarchivs
Zürich, welche Schmidlin nicht kannte, erließ Erzherzog
Ferdinand ein Gebet- und Kreuzgangsmandat, was
der Bifchof von Konftanz als Eingriff in feine Jurisdiktion
betrachtete. Beftrafung von Prieftern durch katholifche
Grafen und Herren und Vergewaltigung von Klöftern find
nicht unerhört. 1607 befchwert fich die fchwäbifche
Ritterfchaft über die Befetzung von Stiftspfründen in Konftanz
mit Doktoren und graduierten Perfonen ftatt mit
ihren Söhnen (Ebd.). Vifitationen und geplante Synoden
finden immer wieder Hinderniffe. Unwillkürlich reizt
Schmidlins Arbeit zum Vergleich mit der evangelifchen
Kirche, deren Organismus viel ficherer und ruhiger
arbeitet. Der kalvinifche Kurfürft von Brandenburg kommt
treu feinen vertragsmäßigen Verpflichtungen gegenüber
den Katholiken in Königsberg nach, forgt durch Edikte
für Sicherheit ihrer Priefter und gibt das Geld für ihren
Gehalt und die Ausftattung der Kirche (S. 213.) Dem
,häretifchen' Volk Schiebens rühmt der Bifchof von Breslau
nach, es bezeuge den katholifchen Geiftlichen ,höchfte Verehrung
' (S. 195). Wie die Katholiken über die Proteftanten
und ihre Kirchendiener urteilten, tritt auch in den Statusberichten
zutage. Diefe gewähren uns meift nur Auskunft
über die Geiftlichkeit hoch und nieder, über ihre
Bildung und Lebenshaltung und über die Klöfter. Tiefere
Einblicke in das Gemeindeleben geftatten fie wenig. Der
Stand der Priefterfchaft ift ein fehr niederer. Allgemein
ift die Klage über den Konkubinat, der den Bifchöfen die
meinte Sorge macht. Dabei wird überfehen, daß viele
Priefter auf Grund des Interims in rechtmäßiger Ehe lebten,
fo in Franken. (Vgl. mein ,Interim in Württemberg'S. 174.)
Ihre wiffenfchaftliche Bildung ift gering. Der Bifchof
von Konftanz nennt fie ,grobe Efel' (S. 8). Einer meinte,
die ,rote Schrift' im Meßbuch nicht lefen zu müffen, und
unterließ darum die Konfekration in der Meffe. Die Anforderungen
an die Examinanden waren fehr befcheiden:
Kenntnis des Lateins und 2 Jahre Studium der Kafuiftik
oder Moral (S. 27) in Konftanz. Das Bistum Culm hat
noch die alten Pfalmen und Meßritus (S. 204). Brevier
und Miffale in Konftanz find reich an,Albernheiten'(S. 12).
Unter den Orden gelten in Konftanz Dominikaner und
Pauliner für die verdorbenften (S. 8). Unleugbar find
die Verdienfte der Jefuiten um Hebung der Kirche und
Bildung. Von ihnen erwarten die Bifchöfe alles Heil, wie
von ihren im Germanicum gebildeten Alumnen. Aber