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Ausgabe:

1911 Nr. 17

Spalte:

526-527

Autor/Hrsg.:

Beyerle, Konrad

Titel/Untertitel:

Von der Gnade im deutschen Recht 1911

Rezensent:

Bonwetsch, Gerhard

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 17.

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Das bleibt nun beftenfalls reine Hypothefe. Verführe-
rifch ift fie, denn fie erklärt das silentium Hippolyti. Ob
fie richtig ift, werden wir bei gegenwärtigem Stand des
Materials unferer Forfchung nicht erfahren. Der Wert von
Effers Arbeit hängt indeffen von diefer Hypothefe nicht
ab. Die Arbeit ift nüchtern, klar und geeignet, die Nebel
ganz zu zerftreuen, die für manchen noch über dem
Praxeasproblem, fo weit es die eingangs genannten Gelehrten
frei gefchaffen haben, hängen möchten.

Gießen. G. Krüger.

Macewen, Prof. Alex.R., D. D.: Antoinette Bourignon, Quie-
tist. London, Hodder & Stoughton 1910. (XI, 219p.
w. portr.) 8° s. 3.6

Diefe neuefte Arbeit über A. Bourignon bietet dem
deutfchen Lefer Neues und Wertvolles in ihrer Einleitung,
indem fie hier bei einer Überficht über die Quellen und
die Literatur befonders forgtältig der Verbreitung ihrer
Schriften und Ideen auf englifchem Boden nachgeht. Wir
erfahren hier (vgl. auch p. 209) nicht allein von einer eng-
lifchen Überfetzung ihrer Schriften durch Robert Boyle,
fondern wir lernen auch, daß nach ihrem Tode bis in
die erften Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts hinein in England
wie in Schottland eine kleine Gemeinde fich an ihren
Schriften erbaute, daß die fchottifche General Assembly
v. 1709, 1710 u. 1711 fich veranlaßt fah, vor den gefährlichen
Irrtümern des ,Bourignonism' zu warnen, daß
noch John Wesley einen ihrer Traktate verbreitete, daß
dann die englifchen Swedenborgianer 1786 ,La Lumiere
du monde' englifch im Abriß verbreiteten, und daß noch
1863 diefelbe Schrift in einem Neudruck der englifchen
Überfetzung von 1696 eine Neuauflage erlebte. Des weiteren
gibt uns der Verfaffer in 11 Kapiteln teils ihre Biographie
, teils eine Darftellung ihrer Lehre und fucht ab-
fchließend ihren gefchichtlichen Platz zu beftimmen. Sein
Urteil über die feltfame Frau lautet um etwas günftiger,
als wie zuletzt v. d. Linde 1895 in feiner fcharffinnigen
Monographie über A. B. ihr Charakterbild gezeichnet hat.
Auch günftiger, als ich felber in Bd. III der R. E.:t 1897
es getan habe. Er fucht vor allem in dem Milieu, in dem
fie lebte, und in dem Dunkel, das die herrfchenden Kirchen
fuchenden Seelen boten, eine Entfchuldigung auch für
das Ungefunde, das uns bei ihr abflößt. Die von ihr
vertretene quietiftifche Myftik nimmt er fehr viel ernft-
hafter, als ich es zu tun imftande bin, obgleich er felber
anerkennen muß, daß von Originalität in ihren Ideen recht
wenig zu finden ift, und er felbft Sabellianifche und Soci-
nianifche Gedanken bei ihr findet, anderes wiederum einfach
als aus Jakob Böhme entlehnt anerkennt. Ich möchte
darauf hinweifen, daß fchon urteilsfähige Leute unter den
Zeitgenoffen, wie V. L. v. Seckendorf und Spener es aus-
gefprochen haben, daß alles, was in ihren Schriften gut
fei, fchon von anderen Erbauungsfchriftftellern, und zwar
beffer, gefagt worden fei, daß aber ihr Eigenes phan-
taftifch und anftößig fei. Im Einzelnen wird ja fehr fchwer
ein endgültiges Urteil darüber zu gewinnen fein, wie weit
bei dem Hineinfpielen von Finanzfpekulationen in ihre
Unternehmungen fie felbft und einzelne ihrer Getreuen
dabei als intakte Perfönlichkeiten gelten können. Der Verf.
beurteilt z. B. den Niederländer de Cort infofern günftiger
als ich, als er bei ihm mit außerordentlicher Uner-
fahrenheit in weltlichen Dingen operiert, und manches für
ehrliche Einfalt hält, was mir in einem andern Lichte er-
fcheinen will. Auffällig ift mir, daß der Verfaffer, der
fich in der Literatur gründlieh umgefehen hat, doch
gerade von dem, was in Deutfchland in Zeitfchriften
veröffentlicht worden ift, keine Kenntnis erhalten hat.
Weder kennt er Bodemanns Publikationen in Z. K. G.
XII 362 ff, die für die letzten Lebensjahre der Bourignon
in Friesland von Bedeutung find, noch ift ihm bekannt
geworden, was Lieboldt in Schriften des Vereins für Schles-
wig-Holfteinfche Kirchengefchichte 2. Reihe III 193 fr. über

ihren Aufenthalt in Schleswig-Holftein 1671—76 gefchrie-
ben hat. Über die Perfönlichkeit ihres zweideutigen Anhängers
Kniphaufen ift aus erfterer Publikation doch
Bedeutfames zu entnehmen. Und beide Arbeiten verdienen
auch um deswillen Beachtung, als fie uns die Bourignon
im Urteil von Leibniz, Seckendorf und Spener kennen
lehren. Schon Leibniz wirft die Frage auf: war fie trompee
ou trompeuse? Wer fich ihren ganzen Lebensgang vergegenwärtigt
, ihre Liebe zum Geld, ihre Kunft, Männer
an fich zu feffeln und diefe ihren Frauen zu entfremden,
ferner die Eitelkeit und die Unwahrhaftigkeit in einer
Reihe ihrer autobiographifchen Erklärungen, dem fällt
es fchwer, fie als religiöfe Perfönlichkeit und als Haupt
einer geiftlichen Jüngerfchar ganz ernft zu nehmen. Aber
freilich, wie vieler Widerfprüche ift die menfchliche Natur
fähig! Ihre Bedeutung fleht der Verf. abfchließend darin,
daß fie die mittels Selbftverneinung für jeden erreichbare
unmittelbare Vereinigung — without official help — mit
der Gottheit, verbunden mit einer weder durch Natur
noch durch Gnade aufgehobenen Verantwortlichkeit lehre,
und daß fie die von den kirchlichen Lehrfyftemen auf
beftimmte vergangene Zeiten bezogene Offenbarung Gottes
in eine historical continuity of redemption umwandle.
Das waren aber bei ihr keine originalen Gedanken. Das
kirchengefchichtlich Bedeutfame an der Rolle, die fie
gefpielt hat, ift m. E. nur, daß der Anhang, den fie fand,
uns zeigt, wie groß die Zahl derer war, deren religiöfes
Bedürfnis nicht mehr im offiziellen Kirchentum Befriedigung
fand.

Berlin. G. Kawerau.

Beyerle, Prof. Dr. Konr.: Von der Gnade im deutfchen Recht.

Rede, zur Feier des Geburtstages Sr. Maj. des Kaifers
und Königs am 27. I. 1910 geh. (22 S.) Lex. 8°. Göttingen
, Vandenhoeck & Ruprecht 1910. M. —40
Köftler, Priv.-Doz. Dr. Rud.: Huldentzug als Strafe. Eine
kirchenrechtl. Unterfuchg. m. Berückficht, des röm. u.
des deutfchen Rechtes. (Kirchenrechtliche Abhandlungen
. 62. Heft.) (XVI, u8S.)gr.8°. Stuttgart, F. Enke
1910- M. 4.80

Beyerle verfolgt in feiner Rede die Entwicklung
des Gnadenrechts in der germanifch-deutfchen Rechtswelt
von feinem Urfprung im altgermanifchen Rechte an bis
auf unfere Tage. Die Ideen von Gnade und Gnadeverluft
im deutfchen Rechtsbewußtfein find herzuleiten aus
der Inftitution der germanifchen Gefolgfchaft, aus Huldbeweis
und Ungnade des Herrn gegenüber dem Mann.
In der fränkifchen Zeit verbindet fich der Gefolgseid,
jetzt Huldefchwur des Gefamtvolkes geworden, mit der
Treupflicht des Untertanen gegen den König als Träger
der Staatsgewalt. Zur praktifchen Wirkung kam freilich
auch jetzt das königliche Begnadigungsrecht faft aus-
fchließlich dem engeren Kreis derer gegenüber, die in
einem perfönlichen Abhängigkeitsverhältnis zum Könige
ftanden als Beamte oder Lehensträger. Der chriftliche
König führt feit Karl d. Gr. feine Gnade auf Gott zurück,
fo daß Treue gegen den König eins wird mit Treue gegen
Gott. Im Laufe der nächften Jahrhunderte nahmen das
allmählich erwachfende Fürftentum und ihm folgend alle
Territorialgewalten auch das Gnadenrecht für fich in An-
fpruch, das dadurch in enge Verbindung mit dem Richteramt
kam. Seit dem 16. Jahrh., das auch in diefen Dino-en
einen tiefen gefchichtlichen Einfchnitt bedeutet, fetzte fich
,die Konfolidierung der Begnadigungsgewalt in der Hand
des Landesherrn' durch. — Trotz der gebotenen knappen
Zufammenfaffung erläutern zahlreiche Beifpiele die
Äußerungen des Gnadenrechtes im deutfchen Rechtsleben;
auch das Zutagetreten germanifcher Gnadeanfchauung
in Gebet und Kirchenlied wird kurz berührt.

Den negativen Teil des Gnadenrechtes, den Huld-