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Ausgabe:

1911 Nr. 17

Spalte:

521-523

Autor/Hrsg.:

Köhler, Walther

Titel/Untertitel:

Idee und Persönlichkeit in der Kirchengeschichte 1911

Rezensent:

Wernle, Paul

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521 Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 17. 522

Formel von Andreas jtQmroxlrjzog findet, die der Periode
des Bilderftreites noch fehlt. Aber bei Schermanns Datierung
bleibt doch eben jene merkwürdige chronologifche
Angabe unerklärt. Haben wir den Verfuch, die kirchliche
Urgefchichte von Byzanz zu fchreiben, nicht in
Paralle zu ftellen zu dem des Hefychius, die IJargia rrjg
Kmvaravzivovxolscoq zu geben (bald nach 518 lj? Nur
infofern könnte Schermann recht haben, als man im 9. Jahrhundert
auf diefe Anfätze des 6. wieder zurückgriff: es
müßte dann eine Grundlage, die bereits den Namen
Dorotheus enthielt, von 525 [es ift die Zeit, da Theodor
definitiv verketzert wurde] und eine byzantinifche Interpolation
von c. 800 unterfchieden werden.

Wie Schermann für die Apoftelviten ein etwas höheres
Alter zugibt — die Urform fieht er hier bei Pf. Epiphanius
erhalten, den er c. 700—750 anfetzt; warum fo fpätf
warum nicht ins 6. Jahrhundert? — fo ift auch die Idee
einer Lifte der 70 (72) Jünger, deren Anfätze wir bei
Clemens Alex, und Eufebius, ausgeführter bei Epiphanius
und Apost. Const. finden, fchon früher durchgeführt
worden; Schermann felbft erkennt einer fyrifch-paläftinen-
fifchen Form ein höheres Alter zu: dies läßt fich aber
auch für die verbreitete byzantinifche Form wahrfchein-
lich machen — trotz Andreas-Stachys, die zunächlt
gar nicht befonders hervortreten. Bisher ganz überfehen,
aber beachtenswert ift, daß auch Onefimus für Byzanz,
als 2. Bifchof, in Anfpruch genommen wird, den eine
ältere Tradition als römifchen Märtyrer bezeichnet
(p.711 Zaccagni, vgl. Sb bei Schermann 343 f.). Schermann
hat in feine Unterfuchung gar nicht die Art der Verteilung
der Bifchofsfitze einbezogen [die alphabetifche
Lifte S. 321 ff. verdunkelt diefe, auch ift das Material darin
nicht vollftändig gefammelt], ebenfowenig die Gefchichte
der Ortsnamen, die Notitiae episcopatuum u. a. Es ift eine
bemerkenswerte Tatfache, daß neben einzelnen Städten
hier vielfach Landfchaften als Bistümer erfcheinen.

Kurz, die Unterfuchungen, fo dankenswert fie find,
dürfen nicht als abfchließend gelten, fie müffen unter
neuen Gefichtspunkten noch einmal geführt werden.

Breslau. von Dobfchütz.

Köhler, Prof. D. Dr. Waith.: Idee und Perlönlichkeit in der
Kirchengefchichte. (Sammlung gemeinverftändlicherVorträge
u. Schriften aus dem Gebiet der Theologie u.
Religionsgefchichte. 61. Heft.) Tübingen, J. C. B. Mohr
1910. (VII, 103 S.) gr. 8° M. 2 —

Diefe Zürcher Antrittsrede enthält unendlich viel
mehr und viel anderes, als der Titel vermuten läßt, nämlich
eine geiftvolle Gefchichte der Kirchengefchichts-
fchreibung in knappen großen Linien,fowie das Programm
zu einer neuen theologifchen Disziplin, der Philofophie
der Kirchengefchichte, und überdies ift der reiche Text
von 40 Seiten Anmerkungen begleitet, die ebenfo fehr
die Dogmatik wie die Kirchengefchichte betreffen und
z. B. der fchweren Tagesfrage nach der Bedeutung der
Gefchichtlichkeit der Perfon Jefu für den Glauben der
Gegenwart mit fehr beachtenswerten Leitfätzen auf den
Leib rücken. Hätte fich der Verfaffer ftreng an fein
Thema gehalten, fo würde er fich auf die Debatten des
19. s. feit der Romantik und ihrer Schätzung der großen
Männer befchränkt haben, denn ftreng genommen entdeckt
erft die Romantik und romantifche Philofophie die
im Individuellen und Endlichen enthaltene Unendlichkeit,
welche das Geheimnis der Perfönlichkeit bildet, und gibt
zugleich den vereinzelten individuellen Offenbarungen
des Univerfums den Hintergrund der Entwicklungsge-
fchichte des Abführten. Ich kann nicht finden, daß Erasmus
oder die Pietiften von dem modernen Sinn des
Wortes Perfönlichkeit und ihrer Bedeutung für die Gefchichte
eine Ahnung hatten; der Pietismus zumal Bammelt
die frommen Einfpänner und Myftiker aus allen

Jahrhunderten und hebt an ihnen die gleichen Züge der
Bekehrung und Heiligung hervor, löft fie dadurch aus
der Zeit und konfequent auch aus der Individualität heraus
. Aber die uberfchreitung des im Titel gegebenen
Themas wird jeder Lefer gern in den Kauf nehmen gegen
den reichen Gewinn, den gerade fie ihm bringt. In
großen Zügen verfolgen wir zuerft die fupranaturaliftifche
Gefchichtsfchreibung, die von Gott und feinem Heilsplan
aus die Kirchengefchichte als Illuftration der Glaubens-
erweckung und Befeligung oder ihres Gegenteils wertet,
und erleben dann im Aufklärungsjahrhundert ihren völligen
Zufammenbruch in dem Semlerfchen Relativismus,
der bloß noch Einzelnes und Mannigfaltiges in der Hand
behält ohne geiftige Verbindung. Es folgt dann das
Wiederaufleben der Idee, nicht mehr der fupranaturalen,
fondern der immanenten, im deutfchen Idealismus, für
die KG in Baurs Werken am großartigften offenbar, dann
die Reaktion mit dem Motto: .Perfönlichkeit' in der
Ritfchlfchen Schule, zuletzt die Gegenwirkung der neu-
eftenZeit mit materialiftifcher Mafien- und Milieubetonung,
in der Profangefchichte deutlicher hervortretend als in
der KG. Der praktifche Schluß ift für den Verfaffer zu-
nächft, daß der rechte Kirchenhiftoriker nicht Entweder-
oder, fondern Sowohl-als-auch zu fagen hat, die Durch-
fchlagskraft der originalen großen Perfönlichkeit, wie die
in ihr fich materialifierende und ihr übergreifende Idee
uns aufzeigen foll. Aber unfer zum Vermittler wenig
veranlagter Verfaffer bleibt dabei nicht flehen, er will
das höhere Recht der Idee zum Ausdruck bringen durch
das Poftulat einer bis jetzt noch nicht vorhandenen Philofophie
der Kirchengefchichte, die unter Vorausfetzung
der Kenntnis des hiftorifchen Stoffs, die in der KG. wirkenden
Ideen herauszuarbeiten, womöglich auf eine Zentralidee
, die Idee des Chriftentums, zurückzuführen und
aus diefer dann wieder abzuleiten hat. Als ein Beitrag
zu diefer Philofophie der KG. will auch diefer Vortrag
aufgefaßt werden.

Das erfreuliche an diefer Schrift ift der energifche
Hinweis auf eine Gefahr, die unferer gegenwärtigen KG.
wirklich droht, über den Stoffmaffen und Details wieder
einmal den Geift und die Ideen aus den Augen zu verlieren
. Tritt man aber feiner Forderung näher, fo gerät
man bald in fehr nebelhaftes Land hinein. Gefchichts-
philofophie fetzt felber fchon eine Metaphyfik des Geiftes
und feiner Entfaltung voraus, die Hegelfche Gefchichts-
philofophie z. B. ift nur vom Hegelfchen Grundgedanken
vom Geift aus verftändlich, es ift der abfolute
Geift, der die Ideen fetzt und fich in ihnen fukzeffive
realifiert; ohne diefe Grundlage würde fie fich fofort im
trivialften Relativismus des jedesmal an feinem Ort notwendigen
Gefchehens verlieren und geiftlos werden. Aber
diefe oder jede ähnliche idealiftifche Metaphyfik des
Geiftes ift jedenfalls beim gegenwärtigen Zuftand auch
der deutfchen Philofophie das Gegenteil des Selbftver-
ständlichen, und der gegen den Supranaturalismus so
überaus kritifche Autor fcheint alle die ernften, fchwerften
Fragen, um die heut geftritten wird, als in feinem Sinn
erledigt vorauszufetzen. Er foll uns erft feine Philofophie
vorführen und begründen, bevor wir mit ihm zur
Gefchichtsphilofophie Vertrauen gewinnen. Ohne den
feilen metaphyfifchen Unterbau fchwebt feine Idee gänzlich
in der Luft und läßt bei ihm felbft ganz entgegengefetzte
Deutungen zu, fie fchwankt zwifchen dem Allgemeinbegriff
, auf den wir die Wiederholungen und Analogien
des Gefchichtsverlaufs zurückführen, und dem
Kaufalgefetz, das fie hervorbringt; daraus ergeben fich
dann Kompromißformeln wie das Poftulat eines Ge-
fetzes der Gefchichte, das doch ohne abfolute Notwendigkeit
gefaßt werden foll. Und wenn uns dann o-efagt
wird, daß wir nach der Reduktion der Vielheit der Ideen
auf die eine Zentralidee der chriftlichen Religion das
Spiel auch umkehren dürfen und die Vielheit aus der
Einheit entwickeln follen, fo zeigt uns gerade der Aus-