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Ausgabe:

1911 Nr. 16

Spalte:

501-503

Autor/Hrsg.:

Hildebrand, Rudolf

Titel/Untertitel:

Gedanken über Gott, die Welt und das Ich 1911

Rezensent:

Wendland, Johannes

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 16.

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fie nach dem Verf. noch nicht mit der nötigen Klarheit
erkannt haben, daß dort, wo immaterielles, geiftiges Ge-
fchehen ift, auch ein einheitlicher, fubftanzieller Träger
desfelben angenommen werden muß, eine Behauptung,
die freilich wieder nur durch eine Berufung auf den gefunden
Menfchenverftand geftützt werden kann. Außerdem
zeugen nach C. für die Subftanz der Seele der allgemein
verbreitete Unfterblichkeitsglaube(!), ihre Fähigkeit
, fich in der Meditation, eventuell auch in Ekftafe,
Somnambulismus, ganz in fich felbft zurückzuziehen, die
Konftanz des Ichbewußtfeins und anderes, für ihre Im-
materialität die prinzipielle Unvergleichbarkeit alles fee-
lifchen Gefchehens in Gedanke, Erinnerung, Bewußtfein,
Wille, Gefühl mit Vorgängen in Gehirn und Nerven; die
Geiftigkeit der Menfchenfeele endlich, d. h. ihre Vernünftigkeit
und Freiheit, erhellt durch einen Vergleich mit der
Tierfeele, die im Gegenfatz zur Menfchenfeele unablösbar
an den Leib gebunden ift. Zwifchen der Menfchenfeele
und dem Leibe ift übrigens nach C. das Verhältnis der
Wechfelwirkung anzunehmen, der Parallelismus abzulehnen.
Im einzelnen find die Ausführungen nicht feiten unge-
fchickt, vielfach anfechtbar, doch ift das redliche Bemühen
des Verf., fich in die vielverzweigten Probleme einzuarbeiten
, anzuerkennen. Bemerkt werden mag noch, daß
C. fich, obwohl er fich an die Kirchenlehre gebunden
weiß, freieren Gedanken nicht unzugänglich zeigt. So
meint er, die Überzeugung von der kaufalen Bedingtheit
alles Gefchehens und von der Richtigkeit des Entwicklungsgedankens
laffe fich auf das Gebiet der Offenbarung
ungehindert anwenden (S. 245), und fpricht von dem Bedürfnis
des chriftlichen Gemütes, den alten und bewährten
Dogmen der Kirche zu einer einigermaßen (sie!) rationellen
Ausdrucksweife zu verhelfen (S. 251).

Iburg. W. Thimme.

Hildebrand, Rudolf: Gedanken über Gott, die Welt und das

Ich. Ein Vermächtnis. Jena, E. Diederichs 1910. (479 S.)

gr. 8° M. 8 —

Die Tagebuch-Aufzeichnungen des Leipziger Germa-
niften Rudolf Hildebrand (1824—1894) hat Georg Berlit
herausgegeben. Sie find in den Jahren 1878—1894, meift
an Sonntagen von dem vielbefchäftigten Gelehrten eingetragen
. Sie follten ihm einen Erfatz bieten für den
Verkehr mit feiner 1874 geftorbenen Frau, mit der Hildebrand
geiftige Gemeinfchaft bis an fein Ende bewahrte.
Sie haben fo denfelben Urfprung wie die .Tagebuchblätter
eines Sonntagsphilofophen', 1896 veröffentlicht.
Es ift: dem Herausgeber zu danken, daß er diefe Blätter
geordnet, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und mit

Regifter, Verweifungen und Literaturnachweifen verfehen j glauben, was dem Leben und der fittlichen Gemeinfchaft

brand vor 3 Jahrzehnten gefchrieben hat, lieft fich wie
eine Schilderung der gegenwärtigen zerfahrenen Kultur.
Er fleht in Kampfesftellung gegen eine wiffenfchaftliche
Abftraktionsarbeit, die den Zufammenhang mit dem
Leben verloren hat oder wenigftens den Rückweg zum
Leben hin nicht mehr findet. Syftemfucht und nichts-
fagende Schlagworte wie Monismus, Dualismus find ihm
zuwider. Er kämpft gegen eine zerfafernde Pfychologie,
die ihren Gegenftand zuerft zerfchneidet und tötet und
daher den Zufammenhang alles Lebendigen nie erfaffen
kann, gegen das ,Stubendenken', das nicht aus dem Leben
fchöpft, gegen jede Erkenntnistheorie, die nicht von dem
lebendigen Zufammenhang von Ich und Außenwelt ausgeht
, gegen Peffimismus und den Naturalismus, der nicht
fieht, daß im geiftigen Leben andersartige Zufammen-
hänge herrfchen wie im Naturleben. Die Polemik wirkt
nie verletzend. Denn Hildebrand bekennt von fich felber,
daß er ein gut Teil aller Zeitkrankheiten in fich felber
trage und fich erft durch innere Arbeit von ihnen befreien
müffe. Seine goldige Lebensfreude hat er im
Kampf gegen Anwandlungen von hypochondrifchem Peffimismus
gewonnen. Er kennt zu gut aus eigener Arbeit
die Abftraktionskraft der wiffenfchaftlichen Methode, um
vorfchnell über fie abzuurteilen; aber wo das Wiffen das
Leben ertöten und zerfetzen will, fetzt er das volle reiche
Empfindungsleben in fein Recht ein.

Aus den oft tieffinnig grübelnden, oft humorvoll erzählenden
Mitteilungen Hildebrands fcheint mir folgendes
das Charakteriftifche zu fein: Es gibt ein über die Individuen
übergreifendes Geiftesleben, an dem jeder Teil
gewinnen foll. Ein wahres Selbft kann niemand werden,
der fich von der ihn tragenden Gemeinfchaft loslöft oder
zurückzieht, von Familie, Volk und der Gemeinfchaft der
Arbeit. Die wahre Vollendung gewinnt der Einzelne nur
durch Liebe; zwei überhöhen fich gegenfeitig durch die
wahre Gemeinfchaft fuchende Liebe. Der Inhalt der
ganzen Ewigkeit ift der: mit allen Geiftern, die waren,
find und fein werden, jene das eigene Selbft und das
des anderen überhöhende und aneignende Gemeinfchaft
zu gewinnen und auch den Böfen durch jene umfaffende
Liebe vorwärts zu bringen. Auch alle wiffenfchaftliche
Arbeit braucht als fittliche Tat jenes Gemeinfchaftsgefühl,
das die eigene Arbeit im Zufammenhang mit anderen und
als Dienft am Ganzen übt. Hildebrand hat ein lebendiges
Gefühl einer die Zeit überdauernden Gegenwart eines
Ewigen, die ihm befonders als Ewigkeit echter Liebe
nahe tritt. Hier werden Klänge echter Myftik laut, für
die Hildebrand Anknüpfungspunkte bei Meifter Eckehard
u. a. fucht.

Ein großer Rückfehritt feit der Zeit des deutfehen
Idealismus befteht nach Hildebrand d arin, daß gerade
die fortgefchrittenften Geifter über das hinauszufein

hat. Sowohl der, der Hildebrand fchon kennt, als auch
der, der ihn erft aus diefem Buche kennen lernt, wird
die reiche Perfönlichkeit liebgewinnen und gerne zuhören,
was er über Philofophie, über Wiffenfchaft und Leben,
über Erziehung, über Nationalität und Völkergemeinfchaft,
vor allem über das fittliche Leben, über Liebe und Religion
fagt oder genauer felbft bekennt. Denn das ganze
Buch gibt erlebte Lebensweisheit, fo perfönlich, wie Hildebrand
fie nur empfand, auch da, wo er an neu erfchienene
Bücher, z. B. von Ree, Duboc, Gizycki, Paulfen, Eucken,
Hartmann, Wundt u. a. anknüpft.

Hildebrands Lebensanfchauung wurzelt tief im deutfehen
Idealismus. Befonders find ihm Goethe und Herder
die Männer, die das hatten, was unferer Zeit und unferer
Gelehrfamkeit oft verloren gegangen ift Ihr Denken
wurzelte im Leben, in lebendiger Anfchauung und Empfindung
. Glauben und Wiffen war ihnen kein aus-
fchließender Gegenfatz. Ihre gefamte Lebensempfindung
ftrebte danach, in Gott den Einheitspunkt und die innere
Kraft ihrer Geftaltung zu gewinnen. — Vieles, was Hilde-

erft Ziel und Zufammenhalt gibt, den Gottesglauben.
Wer Gott nicht findet, kann auch fein wahres Selbft nicht
finden. Gott foll man nicht getrennt von der Welt im
Jenfeits fuchen, fondern als Einheits- und Zielpunkt aller
Perfönlichkeiten wie aller Gemeinfchaften anfehauen. Am
liebften bedient fich Hildebrand mathematifcher Veran-
fchaulichungsmittel: Der Geilt verhält fich zum Stoff wie
die Kegelfpitze zum Kegel: fie beherrfcht das Ganze und
ift doch für fich ohne den Körper ein Nichts. Ebenfo
verhält fich der beherrfchende Geilt einer Gemeinfchaft
zu diefer. Denkt man fich viele Kegel mit ihren Spitzen
fich berührend, fo wäre das Verhältnis Gottes zur Welt
nach Analogie des Verhältniffes des Berührungspunktes
aller Körper zu diefen Körpern zu denken: Gott der
Einheitspunkt, von dem die Lebensbewegungen aller einzelnen
Gemeinfchaften wie Individuen ausgehen, und zu
dem alles wahre Leben hinftrebt. Manche Berührungen
ergeben fich ungefucht mit der Gedankenwelt Schleiermachers
. Hildebrands Ausführungen lefen fich oft, als
wären fie heute gefchrieben. Er kann mit dazu helfen,