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Ausgabe:

1911 Nr. 16

Spalte:

497-499

Autor/Hrsg.:

Hübner, Heinrich

Titel/Untertitel:

D. Rudolf Rocholl. Ein Lebens- und Charakterbild auf Grund seines schriftlichen Naschlasses und anderer erster Quellen dargestellt 1911

Rezensent:

Knoke, Karl

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 16.

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jekte, die lediglich darum betrachtet werden, weil irgendeine
Wirkung, und wäre fie noch fo platt und gemein,
von ihnen ausgegangen ift. Ungleich belehrender, als
die Gefchichtswerke felbft eines Livius und Plutarch, find daher
, für den Menfchenforfcher, die literarifch vielfach ganz
minderwertigen Biographien fchöner Seelen, namentlich
wenn fie afketifch waren und einen Hang zur Myftik hatten.

Der vierte Gegenftoß gegen die Gefchichte erfolgt
mit dem Rüftzeug des Peffimismus und Irrationalismus.
Es gibt keinen Fortfehritt in der Gefchichte, weil alles
fogenannte Gefchehen nur Selbftbewegung des blinden
Willens um feine eigene Axe ift. Das Agens der Gefchichte
ift der grundlofe Zufall, der in Wahrheit alle fchiebt,
während fie aus Irrtum und Verblendung felbft zu fchieben
glauben.

Das ift die vierfach geteilte Wurzel der Schopen-
hauerfchen Gefchichtsverneinung. Ihre Zergliederung ift
das Werk der vorliegenden Schrift, die zur Sache nichts
Neues zu fagen hat.

Berlin. Heinrich Scholz.

Hübner, Paft. Heinrich: D. Rudolf Rocholl. Ein Lebensund
Charakterbild auf Grund feines fchriftlichen Nach-
laffes und anderer erfter Quellen dargeftellt. Illuftriert
von Theodor Rocholl mit Benutzung von Originalen
feines Vaters. Elberfeld, Lutherifcher Bücherverein
1910. (VIII, 390 S. m. färb. Bildnis.) gr. 8° Geb.M. 5.50

Rudolf Rocholl (1822—1905) war zweifellos eine der
hervorragendften und dabei originellften Perfönlichkeiten,
welche bei der Entwicklung der evangelifchen Kirche
lutherifchen Bekenntniffes in den letzten Dezennien des
abgelaufenen Jahrhunderts perfönlich ftark beteiligt war.
Mit einem weltoffenen Empfinden für die Schönheiten
der Natur und der Erzeugniffe der Kunft ausgeftattet,
entfaltete er ein nicht gewöhnliches dichterifches Talent,
welches vielleicht mehr noch in feinen Profafchriften als
in feinen Gedichten in vollendeter Form der Darfteilung
hervortrat, und warf mit leichter Hand eine Reihe von
Skizzen auf das Papier, die durch ihre lebensvolle, dra-
ftifche, oft mit Humor durchwobene Ausdrucksweife das
Auge entzückt. Mit fcharfer Beobachtungsgabe und hingebendem
Intereffe für die Eigenart unferes Volkes ausgerüstet
, hat er uns z. B. in feinem Chriftophorus mit
Meifterfchaft anziehende Einblicke in deffen Sinnen, Leben
und Streben verfchafft, wie kaum ein anderer Volksfchrift-
fteller. Seiner großen Begabung für gefchichtliche For-
fchung und feinem nachhaltigen Fleiße verdankt die
Wiffenfchaft den Befitz von Werken aus feiner Feder,
welche bleibenden Wert beanfpruchen dürfen; zu ihnen
gehören u. a. feine Monographien über Rupert von Deutz,
über Beffarion und fein großes Werk über Philofophie
der Gefchichte. Sein fcharfer Verstand, der fich bei
ihm mit einer merkwürdigen Begabung zu fpekulativem
Denken verband, reifte in ihm eine Reihe von Arbeiten
aus, die in das Gebiet der fyftematifchen Theologie gehören
. Zu ihnen find zu rechnen: die Realpräfenz,
Finitum infiniti capax, Altiora quaero (über Spiritualismus
und Realismus) u. a. Es find Schriften, in welchen gut
evangelifche Gedanken nicht feiten durch myftifche und
theofophifche Vorftellungsreihen überwuchert werden.
Die gewiffenhafte Treue, mit welcher er feine Berufs-
pflicht in den verfchiedenen Ämtern, in die er berufen
war, ausrichtete, zeitigte in ihm einen Idealismus sittlicher
Lebensführung, welcher feiner Perfönlichkeit einen
Stempel, man möchte fagen, des Unwiderstehlichen aufdrückte
. Ein Beleg dafür ift die kleine Schrift: des
Ffarrers Sonntag, die zu den Perlen der praktifch-theo-
logifchen Literatur gehört. Aber gegenüber all diefen
Seltenen Gaben, mit welchen Rocholl ausgeftattet war,
und gegenüber all den fchriftftellerifchen Leistungen, die
wir von ihm haben, liegt der Wert diefes feltenen Mannes

doch in der Gefchloffenheit feines feit ausgeprägten
Charakters. Nachdem er fich im Laufe feiner Lebensführung
und im Zufammenhange feiner Studien theo-
logifch und kirchlich zu einem überzeugten Lutheraner
entwickelt hatte, faßte er die Aufgabe, die ihm damit
gestellt war, mit dem vollen Ernste der Verantwortung
in feinem Berufe wie in feiner Gewiffensstellung zu der
lutherifchen Bekenntniskirche auf. Diefe Stellung hat ihn
bekanntlich dahin geführt, fein Verhältnis zu der unierten
Kirche in Waldeck, der er durch Geburt und Berufung
ins Pfarramt angehörte, zu löfen, und hat ihn wiederum
bestimmt, den Pfarrdienlt in der ihm fo lieb gewordenen
hannoverfchen lutherifchen Landeskirche aufzugeben und
fich in den Dienst der altlutherifchen Freikirche in
Preußen zu begeben. Aus naheliegenden Gründen drängt
fich dem Referenten die Frage auf, was Rocholl beftimmt
haben muß, fein Verhältnis zur hannoverfchen Landeskirche
zu löfen. Er war doch für fie gleichkam fchon
vorbereitet durch die Erziehung, welche er bei feinem
Oheim, dem nachmaligen Clausthaler Generalfuperinten-
denten Steinmetz in Moringen am Solling, erhielt. Er
wuchs in fie während der fast zwanzigjährigen Zeit hinein,
die er das Pfarramt zunächst in dem kleinen wend-
ländifchen Dorfe Brefe und dann an der Johanniskirche
der Univerfitätsftadt verwaltete. Er stand in dem lebhaftesten
geistigen, zum Teil freundfehaftlichften Verkehre
mit den damaligen leitenden Perfönlichkeiten der Landeskirche
, mit Lichtenberg, Niemann, Uhlhorn, Petri, Münkel,
Münchmeyer u. a. Er war durch mehrere Wahlperioden
hindurch Mitglied der Landesfynode und beteiligte fich
mit innerster Anteilnahme an ihren Verhandlungen. Er
war eine in weiten Kreifen geachtete und hochangefehene
Perfönlichkeit im hannoverfchen Lande. Und doch kam
es bei ihm zum Bruche mit diefer Kirche. Wie war das
möglich? Irrig ift die Anficht, daß die Faffung des hannoverfchen
Traugefetzes bezw. der im Zufammenhange
mit diefem promulgierten Trauliturgie ihn zum Austritte
bewogen. Seine Weigerung, fie anzuerkennen, war doch
nur eine vorübergehende. Der äußere Anlaß zum Austritte
war vielmehr die Härte, mit welcher mehrere Amtsbrüder
mit ihrer Bitte, das ältere Trauformular weiter
gebrauchen zu können, abgewiefen wurden. Der tiefere
Grund war aber der, daß er der Überzeugung war, die
hannoverfche Landeskirche könne durch die kirchen-
politifche Zwangslage, in welche fie feit 1866 geraten fei,
auf die Dauer ihren Bekenntnisftand nicht aufrecht erhalten
, fondern werde in naturgemäßer Entwicklung der
Union verfallen müffen, wenn ihr diejenigen verfaffungs-
mäßigen Garantien nicht gewährt würden, die er für nötig
hielt. Er hat fich darüb er in mehreren Schriften ausgesprochen
, z. B. in der Schrift: Die Lage der lutherifchen
Kirche in den neuen Provinzen; Das proteftantifche Elend;
Denkfchrift über den Zufammenfchluß der deutfehen
evangelifchen Landeskirchen. Er hat auch perfönlich
dahin zu wirken gefischt, daß eine Zentralbehörde zur
Leitung der lutherifchen Kirchen in Berlin begründet
werden möchte. Er war überzeugt, daß bei Bismarck
der gute Wille vorhanden gewefen, ,der Stellung der
lutherifchen Kirche in den neuen Provinzen im vollen
Umfange gerecht zu werden' S. 250. Er konnte einen
Brief veröffentlichen, in welchem der damalige preußifche
Kultusminister v. Mühler zu der abfehlägigen Antwort,
welche die vorhin erwähnten Geistlichen auf ihre Bitte,
die alte Trauliturgie gebrauchen zu dürfen, erhalten
hatten, fich ihm gegenüber dahin äußerte: ,Ich fühle
mich nicht frei von Schuld; es ist nicht alle Gerechtigkeit
erfüllt worden' S. 257. Er hörte den Ausfpruch von
Lichtenberg, der ihn über einen ihm wegen feines Verhaltens
in der Trauungsfache erteilten .Verweis' mit den

Worten zu befchwichtigen fischte: ,Ach feien Sie still 1 _

was will man denn machen, wenn fo ein Ding von Berlin
herkommt' S. 257. Diefe Vorgänge im Verein mit der
Gefamtftimmung Rocholls muß man in Erwägung ziehen,