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Ausgabe:

1911 Nr. 16

Spalte:

483-485

Autor/Hrsg.:

Winckler, Hugo

Titel/Untertitel:

Die babylonische Geisteskultur in ihren Beziehungen zur Kulturentwicklung der Menschheit 1911

Rezensent:

Küchler, Friedrich

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483 Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 16. 484

die Überfichtskarten find technifch recht mäßig. Literatur
ift bei den einzelnen Abfchnitten überreichlich zufammen-
geftellt; eine Befchränkung auf das Wichtigfte wäre zweckmäßiger
gewefen.

Eine zufammenfaflende Geographie des Orients in
diefer Umrahmung gab es bisher nicht und man kann
feftftellen, daß der Verfaffer fich mit großem Eifer an
fein Werk gemacht hat, aufgrund von Literaturkenntnis
und eigener Anfchauung eine gut orientierende, knappe
Landeskunde zu liefern. In dem Streben, die Boden-
bedingtheit und das Zufammenwirken der verfchiedenen
geographifchen Faktoren herauszuarbeiten, ift des Guten
faft zu viel getan.

Leider ift die Darfteilung teilweife ungefchliffen. Der Stil ift; oft
gefucht geiftreich und gekiinftelt, infolgedeffen ftellenweife fchwer ver-
(tändlich; fehr häufig ftößt man auf neue oder zum minderten fein-
ungewöhnliche Wortbildungen wie z. B. fich kränzen, infelumlockt, bucht-
umzirkt, fonnficher, fpannkräftig, ländifches Einsfein, planetarifche Volksdichte
ufw. Was foll z. B. die poetifche(??) Ausdrucksweife bei den für
den Nichtfachmaun beftimmten Erläuterungen (am Schluß), wo es doch
vor allem auf Klarheit ankommt! Hier findet fich auch der wenig
gefchmackvolle Vergleich, daß die Erdriude infolge der Abkühlung und
Schrumpfung ein ftändig verändertes Ausfehen habe ,— wie das verrunzelnde
, kummervoll einfallende Geficht einer nie erhörten, ältlichen
Jungfrau (die übrigens doch ein Kind gekriegt hat, nämlich den Mond)'!

Göttingen. Aug. Wolkenhauer.

Win ekler, Prof. Dr. Hugo: Die babylonifche Geifteskultur
in ihren Beziehungen zur Kulturentwicklung der Menfchheit.

(Wiffenfchaft u. Bildg.) Leipzig, Quelle & Meyer 1907.
(III, 152 S.) 80 M. 1 —; geb. M. 1.25

In diefem Heft will Winckler feinen Panbabylonis-
mus der breiten Maffe der Gebildeten zur Kenntnis
bringen. Dieser Wincklerfche Panbabylonismus ift die
Meinung, daß es nur eine altorientalifche, ja nur eine
antike Weltanfchauung gebe, die, ein Erzeugnis der nach
Wincklers irriger Meinung vorgefchichtlichen Sumerer,
um das Jahr 30x00 v. Chr. in allen wefentlichen Zügen ab-
gefchloffen vorgelegen und feitdem wie die altorientalifche
Kultur überhaupt, keinen Fortfehritt, fondern nur
Rückfehritt, Depravation erfahren habe. Entftanden fein
foll fie im 5.—6. Jahrtaufend v. Chr., im Zeitalter der
Zwillingstag- und nachtgleiche. Nach Wincklers Meinung
müffen wir diefe feine Theorie annehmen, ebenfo wie
es nach ihm eine ausgemachte Tatfache ift, daß die
fumerifch-babylonifche Weltanfchauung auf unbekannten
Wegen das Abendland nicht nur, fondern auch Amerika (1)
durchdrungen hat, und daß demnach alle vorkopernika-
nifchen Kulturen der Welt nur Ableger der einen orien-
talifchen Kultur find. Da für Winckler weiter Kultur,
Weltanfchauung und Religion wefentlich identifch find
(Religion ift nach ihm das Wiffen von der Gottheit,
welches diefe felbft den Menfchen offenbart hat, und
welches die alles regelnde Grundlage des Gefellfchafts-
lebens bildet), fo gibt es für ihn eigentlich auch nur eine
Religion, nämlich die altorientalifche Aftrallehre, nach
welcher die Sterne des Himmels zwar nicht die einzige,
aber doch die wichtigfte und deutlichfte Offenbarung der
einen Gottheit find. Nur das populäre Denken und
Empfinden und die ihm fich anbequemende exoterifche
Sprache der Priefter habe in den verfchiedenen Offenbarungen
der Gottheit verfchiedene Götter gefehen; für
die Eingeweihten habe in Wirklichkeit kein Polytheismus
, fondern ein reiner moniftifcher Pantheismus be-
ftanden: für fie habe es, wie nur eine Welt, fo auch nur
eine mit diefer Welt identifche Gottheit gegeben. Die
Aufgabe der Wiffenfchaft aber fei es gewefen, in allen
Erfcheinungen der Natur, befonders aber des Sternhimmels,
die Offenbarung der Gottheit nachzuweifen, was auf dem
Wege geiftreicher Zahlenfpekulation, bei welcher die
Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 7, 12, 60, 70 und 72 eine große Rolle
fpielen, gefchehe; mit deren Hilfe seien die für die Ge-
ftirnbewegung, Zeit-, Raum- und Gewichtsmeffung wefent- |

liehen Größen als Komponenten eines großen Syftems ausgewichen
worden. Um die Exiftenz diefer Zahlenfpeku-
lationen für die Zeit um 30x00 v.Chr. zu belegen, wo er
das ausnahmsweife einmal für nötig hält, greift er auf
der Klaviatur der Gefchichte kühn bis zur Arfakidenzeit,
ja bis zu dem griechifchen Schriftfteller Achilles Tatius
hinauf, der im 5. nachchriftlichen Jahrhundert natürlich
genau darüber informiert war, was die ,Chaldäer' um 3000
v. Chr. gefagt und gemeint haben. Dagegen legt er uns
in diefer Schrift fo wenig wie in früheren die altbabylonifchen
Texte vor, aus denen diefe angeblich altbabylonifche
Weisheit fich deutlich ergäbe. Solche Texte müßte es
doch gegeben haben und müßten gefunden worden fein,
da das ganze Syftem, wenn es exiftierte, viel zu kompliziert
war, als daß es nur durch mündliche Tradition hätte
gelehrt werden können.

Eine exakte Widerlegung der Wincklerfchen Theorie
ift außerordentlich fchwierig, vielleicht an vielen Punkten
auch überhaupt unmöglich. Trotzdem kann diefe Theorie
falfch fein. Die Beweislaft aber fällt (das muß immer
wieder betont werden) dem zu, der eine folche Theorie
aufftellt, nicht dem, der fie bezweifelt. Für das alte Baby-
lonien aber könnte die Exiftenz des von Winckler behaupteten
Syftems nur durch altbabylonifche Texte bewiesen
werden, nicht durch beliebig alte oder junge
,Zeugniffe', die Winckler anfeheinend neben der öfteren
Wiederholung feiner Behauptungen für ausreichend hält.

An einer Probe fei die Art von Wincklers Verfahren illuftriert.
In unfrer Notenfchrift gilt bekanntlich das Kreuz 0 als Zeichen der Erhöhung
einer Note um einen halben Ton. Das ift nach Winckler eine
Erinnerung an die alte mythologifche oder kosmologifche Bedeutung des
Kreuzes, welche auf dem Sternenlauf beruhe. ,Die aftrale Erklärung
bietet wieder der alte babylonifche Sternhimmel. In der Zeit der Zwillingstagesgleiche
' (d. h. ca. 5000—3000 v. Chr.) ,war das hervorftechendfte
Sternbild des Südhimmels, das Kreuz, am babylonifchen Himmel fichtbar
und ging zur Zeit der Sonnenwende unter. Die Sonnenwende
und der Vollmond find ja die Vollendung des Laufes. Darum
ift das Kreuz das Zeichen der Vollendung. Es wird in Urkunden
ftatt des Namens gefetzt, um zu zeigen, daß das Schriftftück zu Ende
ift. Das Schriftzeichen, welches in der Buchftabenfchrift das letzte des
Alphabetes ift, ift ein Kreuz und führt den Namen ,Vollendung, Ende',
d. i. tarn, oder in babylonifcher Ausfprache (die auch bei den Hebräern
angenommen ift) taw. Es hängt damit zufammen, wenn im Mythus der
Jahresgott am Ende feiner Laufbahn ,ans Kreuz gehängt' wird'. Darauf
ift Folgendes zu bemerken: 1) ein babylonifcher Mythos, nach welchem
der Jahresgott (wer follte das fein?) am Ende feiner Laufbahn ans Kreuz
gehängt wird, ift bis jetzt nicht bekannt. Daß er außerhalb liabyloniens
häufig wäre, wüßte ich auch nicht. 2) Der letzte Buchftabe des femi-
tifchen Buchftabenalphabets ift allerdings ein Kreuz; aber eine Wurzel
DDPI, welche im hebräifchen .vollkommen fein' bedeutet, kommt im Babylonifchen
nicht vor, fo viel Anlaß zu ihrer Verwendung in den Ritualtafeln
z. B. vorhanden wäre, wenn fie exiftierte (cf. D"U3P1 in den hebr.
üpfervorfchriften). Falls fie aber doch exiftiert haben follte, ift es außerordentlich
zweifelhaft, ob eine hebr. DPI entfprechende Ableitung von ihr im
Babylonifchen taw gefprochen worden wäre. Da außerdem die Buchftabenfchrift
keine babylonifche Erfindung fein dürfte, können die Buchftabeu
auch nicht babylonifche Namen tragen. 3) Die Setzung des Kreuzes in
Urkunden ftatt der Xamensunterfchrift, welche übrigens doch noch wefentlich
andere Funktionen hat als den Schluß der Urkunde zu bezeichnen, war
und ift nur ein Notbehelf für Analphabeten (cf. Hiob 31, 35; hierfür eine weit
plaufiblere Erklärung bei Jeremias ATAÜ2S. 588, Anm. 5). Sein Vorkommen
auf babylonifchen Urkunden ift viel zu feiten, als daß man daraus feine
Bedeutung erkennen könnte. Daß es aber nicht Schlußzeichen ift, erhellt
deutlich aus einem bei Jeremias a. a. ü. abgebildeten Siegelzylinder,
auf dem es am Anfang der Legende fteht. 4) Wenn wirklich das
Sternbild des Kreuzes den Babyloniem Anlaß zu der Vorftellung gegeben
haben follte, daß das Kreuz die Vollendung bedeute, fo follte man erwarten
, daß diefes Sternbild zur Zeit der ,Vollendung des Sonnenlaufes'
am babylonifchen Himmel fichtbar geworden fei, nicht aber verfchwand,
wie Winckler angibt. Aber felbft wenn das Alles zutreffen follte, fo
brauchte man für die Ablefung diefer Vorftelluugsreihe vom Sternhimmel
nicht bis ins graue Altertum der Zwillingstagesgleiche zurückzugehen
; denn dasSternbild desKreuzes ift, wie mirllerrProfefforBaufchinger,
der Direktor der Straßburger Univerfitätsfternwarte, freundlichft berechnet
hat, nicht nur bis zur Zeit der Erfindung der Buchftabenfchrift (+ 1000
v. Chr.), fondern fogar bis zum Beginn uuferer Zeitrechnung vollftändig
und deutlich am babylonifchen Himmel fichtbar gewefen. 5) Das Kreuz

!| als Erhöhungszeichen in der Notenfchrift ift nach Riemanns Mufik-
exikon6 S. 1392 im 13. Jahrhundert nach Chr. lediglich aus einer eckigen
Variante des bekannten j? entftanden (Zwifchenftufe fcj) und hat demnach
mit der angeblichen altbabylonifchen Aftralmythologie nichts zu fchaffen.
Ebenfo aber ergeht es mit vielen anderen Behauptungen Wincklers auf