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Ausgabe:

1911 Nr. 15

Spalte:

471-473

Autor/Hrsg.:

Reich, Eduard

Titel/Untertitel:

Religion und Seelsorge als Faktoren der inneren Kultur und allgemeinen Wohlfahrt. 2 Bde 1911

Rezensent:

Steinmann, Theophil

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 15.

472

Porten, Dr. med. Max von der: Entftehen von Empfindung

und Bewußtfein. Verfuch einer neuen Erkenntnistheorie.
1. Taufend. Leipzig, Akademifche Verlagsgefellfchaft
m. b. H. 1910. (63 S.) gr. 8° M. 1.60

Die von der Ortsgruppe Hamburg des deutfchen
Moniftenbundes veröffentlichte Schrift mit dem viel verheißenden
Haupttitel und dem nicht ganz anfpruchslofen
Nebentitel geht von der ,großen Frage' aus: ,wie fetzen
fich die phyfikalifch-chemifchen Veränderungen in der
Hirnrinde um in das, was wir Empfindung und Bewußtfein
nennen?' Drei einfchlägige Theorien feien zu unter -
fcheiden. Die eine lautet: die chemifch-phyfikalifchen
Veränderungen find Empfindung und Bewußtfein. Die
zweite: die Veränderungen in der Hirnrinde find begleitet
von gleichzeitigen parallel laufenden Veränderungen der
Pfyche. Die dritte: ,die Pfyche ift durchaus frei, fie ift
imftande die körperlichen Veränderungen zu deuten, ge-
wiffermaßen als eine nur ihr verftändliche Schrift zu lefen'.
Der Autor ift fich klar darüber, daß alle drei Theorien
im Grunde nichts für die Erklärung von Empfindung und
Bewußtfein leiften. Er hofft felbft der Löfung des Problems
näher zu kommen, indem er die fpeziell für die Organismen
charakteriftifche Eigentümlichkeit des Stoffwechfels in
Betracht zieht. Und fo leitet er die Entftehung von Empfindung
und Bewußtfein in letzter Inftanz daraus ab, daß
ein von einem Körper ausgeübter Druck in einem orga-
nifchenGebilde nicht nur einen entfprechenden Gegendruck,
eine genau dem von außen wirkenden Körper entfprechende
,dynamographifche Reproduktion', fondern auch eine durch
den Stoffwechfel bedingte .Ausgleichskraft' erzeugt. Mit
diefer Erklärung verknüpft fich die erkenntnistheoretifche
Thefe, daß unfere auf ,dynamographifche Reproduktion'
der Außenwelt zurückgehende Erkenntnis adäquate Nachbildung
der Wirklichkeit fei. Wir ,fehen', wir ,hören', wir
,fühlen' die Außenwelt, wie fie tatfächlich ift. Es ift
an dem, daß ,die Sonne wirklich leuchtet, die Wälder
wirklich grünen und die Vögel wirklich fingen'.

Unnütz zu fagen, daß, wenn in der fich vielfach an
Semon anlehnenden Schrift etwas geleiftet wird, es fich
um keine neue Auskunft über die Entftehung von Empfindung
und Bewußtfein handelt, fondern beftenfalls um
eine neue Theorie über die phyfiologifchen Bedingungen
von Empfindung und Bewußtfein; wie denn auch der Verf.
der Meinung Ausdruck gibt, feine Lehre vertrage fich
zwar mit jeder der drei oben genannten Theorien, doch
würden fich die Materialiften ,freuen, daß wirklich
alles wieder auf chemifch-phyfikalifche Vorgänge zurückzuführen
fei'. Die vorgetragene Erkenntnistheorie
aber erinnert einigermaßen an gewiffe Naivitäten der älte-
ften Philofophie.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Reich, Dr. Eduard: Religion und Seelforge als Faktoren der
inneren Kultur und allgemeinen Wohlfahrt. Zwei Bände.
Wittenberg, A. Ziemfen 1910. (XLVI, 478 u. XIX, 334
S.) Lex. 8° M. 25 —; geb. M. 30 — ; numerierte Lieb-
haber-Ausg. auf Japanpapier m. dem Bildnis d. Verf.

M. 100 —

Erft 20 Seiten Vorwort. Es leiftet, was ein Vorwort
nur irgend leiften kann: man weiß nach feiner Lektüre
fo ziemlich Befcheid darüber, was von dem umfangreichen
Werke zu erwarten fein wird. Es wird fchon in diefem
Vorwort reichlich viel gefchimpft — anders kann man es
wirklich nicht nennen) wenn mit Worten wie ,Satanaffe',
,Tölpel', .oberer und unterer Janhagel', .rabuliftifche Quer-
und Drehköpfe', .Sudelköcherei blödfinniger Verfucherei'
gearbeitet wird. In diefer energifchen Tonart tritt Verf. ein
für .Religion der Religionen', .pofitive Metaphyfik' (auch
.Philofophie der Philofophien' genannt), gefunde Hygiene,
die alle einen großen Zufammenhang bilden. Er kennt den

.Weltplan Gottes', und verdankte diefe Erkenntnis Sorgfältiger
Beobachtung, geläuterter Erfahrung, Freifein von
Vorurteil, Gewiffenhaftigkeit in allen Dingen und, nachErhalt
guter Prämiffen.ftreng logifcher Folgerung bis zu den letzten
Konfequenzen' (S. X). ,Diefe Art von Philofophie und
Wiffenfchaft höherer Kategorie, fußend auf fefter . . . Logik,
findet unmittelbare Beftätigung in den fogenannten Geheimen
Wiffenfchaften'(S. XI). ,Das ficherfte Kennzeichen
korrekter Vorftellung' ift ihm .wahres Gefühl des Zutreffens
und Empfindung reiner Glückfeligkeit' (S. XIII). Der Verf.
gehört .keiner Rotte, Kafte und Sippfchaft an' (befonders
nicht der .Mehrzahl der Theofophen'; die .Entartung diefer
Gefellfchaft' wird S. XIII fehr draftifch gefchildert): er
hat .Anthropologie und Gefchichte, Theologie und Sozial-
wiffenfchaft, Medizin und Staatswiffenfchaft gleichmäßig
aus den Quellen ftudiert, um Philofophie und Religion zu
erfaffen, Hygiene zu ergründen, pofitive Metaphyfik zu
erlangen' (S. XIX).

Nach der fchon durch diefes Vorwort tatfächlich fehr
eindringlich vollzogenen Warnung vor dem, das nun
kommen wird, richtet der Verf. vor dem Weiterfchreiten
noch eine Warnungstafel vor uns auf: es folgen reichlich
25 Seiten .Inhalt des erften Bandes' in kleinem Druck auf
der zweigefpaltenen Seite. Diefes Inhaltsverzeichnis ift
einfach zum wirblig werden. Immerfort wieder lefen wir
diefelben oder doch ganz ähnliche Worte und Begriffe;
und man fucht trotz einiger Überfchriften vergeblich nach
einem wirklichen Gedankenfortfehritt. Man merkt fchon
hier, wie der Verfaffer immer wieder in diefelben Gedankenwege
gerät, was fich bei Lektüre des Buches in der
allerermüdenften Weife beftätigt; allein auf diefe Weife
bringt es das Buch auf feine 450 Seiten. Für faft jede
Seite haben wir in diefem Inhaltsverzeichnis mehrere
Zeilen Stichworte, für S. 105 z. B. deren 20, alfo je auf
ca. 2 V2 Zeilen ein Stichwort.

Nun endlich der Text felbft. Gleich im Anfang ein
Mufterbeifpiel dafür, wie die .ftrenge Logik' des Verf.
gemeint und angewendet wird: ,Aus den geiftig entdeckten
Tatfachen der Gefchichte, Forfchung und Erfahrung
fchließend, gelangt man zu dem Glauben, daß die Gefamt-
heit der Welten . . . durch einen Akt der Schöpfung
begonnen habe, und daß der Schöpfer Perfon fei ufw.'
,Wir fchließen des weiteren, daß Gott zwei Weltfubftanzen
fetzte ufw.' Alfo einfach Behauptungen, von denen zugleich
lediglich behauptet wird, daß eine dergl. ftrenge
Logik zu ihnen führe. Und fo bleibt es durchweg. Ja
S. 21 nennt der Verf. feine Behauptungen fogar Tatfachen.
Zitiert wird unendlich viel. Es folgt aber keine wirkliche
Auseinanderfetzung, fondern bloß eine Zenfur dazu, Zu-
ftimmung oder Ablehnung des gerade zitierten Satzes in
der Form einer Behauptung. Die Pvrgebniffe der fpiri-
tiftifchen Wiffenfchaft werden ebenfo kritiklos hingenommen
wie die Gefchichtlichkeit des fagenhaften indifchen
Krifchna. Es ift viel gelefen und irgendwie zufammen-
gearbeitet. Aber diefe ganze Gedankenanhäufung mit
ihren Behauptungen hat keinen wiffenfehaftlichen Wert,
wie fehr fie ihn beanfprucht. Die überall dazwifchen auftauchenden
guten Gedanken helfen dagegen wenig. Und
was E. Reich fich perfönlich, fei es auch als Ertrag der
Arbeit eines langen Lebens, irgendwie für Anfchauungen
gebildet hat über die 3 Stufen der phyfifchen Weltfub-
ftanz, über den Umfang des Seelifchen (.magifche Welt-
fubftanz'), über Religion und Perfönlichkeit der Tiere, über
die ätherifche Körperlichkeit der auf diefe ftoffliche
folgenden Stufe, über die Möglichkeit, daß Gott fich
materialifieren könne, über die fortfehreitende Vervollkommnung
der Welt, über die verfchiedenen Formen der
I indifchen Religion, über das Chriftentum, die Ehe, den
Vegetarianismus und unendlich viel fonft noch, das kann
uns alles im beften Falle nur intereffieren, wenn uns
daran gelegen ift, zur Abwechflung einmal irgend Eines
fubjektiv bedingte Weltanfchauung kennen zu lernen. Wir
wünfehten dann nur, das würde uns in weniger zeitraubender