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Ausgabe:

1911 Nr. 15

Spalte:

455

Autor/Hrsg.:

Rothstein, J. Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Nachtgesichte des Sacharja. Studien zur Sacharjaprophetie und zur jüdischen Geschichte im ersten nachexilischen Jahrhundert 1911

Rezensent:

Frankenberg, Wilhelm

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455

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 15.

456

Rothftein, Prof. DJ. W.: Die Nachtgefichte des Sacharja.

Studien zur Sacharjaprophetie u. zur jüd. Gefchichte
im 1. nachexil. Jahrb.. (Beiträge z. Wiff. vom A.T. 8.)
Leipzig, J. C. Hinrichs 1910. (IV, 219 S.) gr. 8°

M. 6 —; geb. M. 7 —

Die Arbeit hat zwei Ziele: einmal die vifionären Bilder
und ihre durch den Mund des Engels vermittelte Deutung
in ihrer urfprünglichen Geftalt feftzuftellen, zum
andern zu unterfuchen, was in ihnen der jüdifchen Gemeinde
gefagt werden foll. Demnach zerfällt die Betrachtung
der heben Vihonen durchgehends in eine text-
kritifche Unterfuchung und in eine Befprechung der zeit-
gefchichtlichen Motive. So berechtigt die textkritifchen
Unterfuchungen bei dem Zuftand der Überlieferung find,
fo habe ich doch den Eindruck, daß der Verf. in der
Rekonftruktion befonders bei der erften Vifion zu fche-
matifch verfährt, vgl. S. 13 — 16. Wenig glücklich ift
zu Kapitel 1 V. 9 und 10 feine Polemik gegen Wellhaufen.
Seine Deutung der vier Farben der Roffe in der erften
Vifion auf die farbigen Wolken des Morgenhimmels fchei-
tern fchon an der einfachen Tatfache, daß wir es ausdrücklich
mit Nachtgehchten zu tun haben. Ebenfo wenig
hat mich die Deutung der Myrthen S. 50—53 überzeugt.
Glücklicher ift der "Verf. in der Wiederherftellung der
zweiten Vifion, Kap. 2, 1—4. In der dritten Vihon führt
der Verf., wie alle feine Vorgänger, das siörr/xsi (2, 7)
der Sept. auf hebräifches Tay zurück, was aber fprach-
lich und fachlich falfch ift; Sept. lafen 225 und das ift
wieder herzuftellen. Die Veränderungen, die der Verf.
zu V. 6, Kap. 2 vorfchlägt, find unbegründet. Seine Vor-
fchläge zu V. 7 beruhen auf einem Mißverftändnis; der
angelus interpres wird von dem hervortretenden höheren
Engel beauftragt, nicht diefer von jenem. Die zeitge-
fchichliche Begründung S. 76 ff. fcheint mir glücklich zu
fein, wenn ich auch den Verf. in der Beziehung, die er
S. 85 zwifchen dem "125 und Serubbabel herftellt, nicht
folgen kann; 125 ift kein Jüngling in unferm Sinne. Die
Defiderata, die der Verf. Kap. 3 V. 3 u. 4 findet, liegen
zwar nahe, aber ich halte trotzdem die Einfetzung des
Turbans an diefen Stellen für gewagt; warum er nicht
mit Wellhaufen den Schluß von V. 5 zu V. 6 zieht, ift
mir unverftändlich. In der Deutung diefer Vifion kommt
V. 2 b nicht zu feinem Recht. An levitifche Unreinheit
ift bei den fchmutzigen Kleidern des Hohenpriefters ficher-
lich nicht zu denken. Zu der vierten und fünften Vifion
macht der Verf. einige Bemerkungen, die erwägenswert
find. Gar nicht folgen kann ich ihm aber in der Beurteilung
der 7ten Vifion Kap. 6, 1—8, S. 154—217. Das
ganze Gebäude der dort vorgetragenen Verbindung —
v 15 a die (direkte) Fortfetzung von v8 — fcheint mir
fprachlich durchaus unficher fundamentiert. Die Auf-
faffung von v8b "2 iffll fiN II-PD«! ift verkehrt. ,Die den
Ausdruck tragende Vorftellung ift unzweifelhaft die des
wirklichen Hinbringens der rill an den Ort, wo fie dann
zur Ruhe kommt' (S. 189). Durchaus nicht. Der Ausdruck
hat ohne jede lokale Beziehung (cf Ez. 21, 22) die Bedeutung
xaxaicQavvuv &v[tov dadurch, daß man ihn befriedigt
, vgl. auch das fyr. w»iio.

Ziegenhain (Caffel). W. Prankenberg.

Harnack, Adolf: Das Problem des 2. Theflalonicherbriefs.

[Aus: .Sitzungsber. d. preuß. Akad. d. Wiff'](S. 560—578.)
Lex. 8°. Berlin, G. Reimer 1910. M. 1 —

Die vorliegende Unterfuchung, mit der H. einer Frage
nähertritt, die in den letzten 10 Jahren öfters nachdrücklich
behandelt wurde, kann als dem Andenken Wredes geweiht
bezeichnet werden. Von der Problemftellung, die
Wrede 1903 formuliert hatte, geht H. aus: wie kann
Paulus an die gleiche Gemeinde den zweiten Brief fchreiben,
der fich fo ftark an den erften anlehnt und ihn doch

verfchweigt und in feiner Gefamthaltung, der geänderten
Stimmung der Gemeinde gegenüber, verleugnet? Wrede
hatte die Präge gelöft, indem er die Echtheit von II. Theff.
beftritt, H. fchlägt vor, die Adreffaten des fpäteren Briefes
in einem anderen engeren Kreife zu fliehen als die des
früheren: während I. Theff. an die Gefamtgemeinde geht,
find die Lefer von II. Theff. die Gruppe der Juden-
chriften innerhalb der Gemeinde, die eine Sonderftellung
einnahmen, weil fie mit der Hauptgemeinde im fozial-
kirchlichen Leben noch nicht vollkommen verfchmolzen
waren, und auch weil Paulus ihnen perfönlich nicht fo
nahe ftand wie der heidenchriftlichen Gemeinde, in der er
fich heimifch gemacht hatte. Das Dafein einer juden-
chriftlichen Minderheit inTheffalonich bezeugt Apgfch. 17,4.

Der I. Theff. konnte die Judenchriften in der Gemeinde
nicht befriedigen, weil er zu wenig Rückficht auf fie
nahm und ftreng den heidenchriftlichen Horizont einhielt.
(Aus I. Theff. allein könnte man das Dafein einer juden-
chriftlichen Minderheit überhaupt nicht erkennen.) Darum
entfehloß fich der Apoftel zum zweiten Briefe, den
er zugleich oder wahrfcheinlicher unmittelbar danach an
die Minderheit fandte, um fie zu ehren und um ihre Empfindlichkeit
zu fchonen.

Die Beobachtungen, auf die H. feine Hypothefe ftützt,
find, von untergeordnetem Material abgefehen, zwei, eine,
die auf die Gefamthaltung des Schreibens geht, eine andere,
die an eine Einzelftelle anknüpft. Was die erfte anlangt,
fo weift H. auf die apokalyptifche Haltung hin, die das
ganze Schreiben aufweift. Die jüdifche Apokalyptik ift
der Hintergrund der Abfchnitte 1, 5—10.2,1 —12. 2,13—17
und auch der Paränefe von 3,6—16, fofern die Gefahr
des durch die apokalyptifche Erwartung verurfachten
frommen Müßigganges im heidenchriftlichen Teile der
Gemeinde zwar auch vorhanden, aber doch nicht fo bedrohlich
war wie im judenchriftlichen, darum die offenkundige
Verftärkung von 3,6—16 gegenüber I. Theff 4,11 f.
5,14. Vertrautheit mit der jüdifchen Apokalyptik und
zwar in allen ihren Einzelheiten kann aber nicht bei einer
jungen heidenchriftlichen Gemeinfchaft, fondern nur bei
geborenen Juden vorausgefetzt werden. Die Sonderbeobachtung
knüpft an die Einzelftelle 2,13 f. an, wo H. mit
BGP und anderen Zeugen: axaQ%rjv lieft und dann erklärt
: die Adreffaten find hier als Erftbekehrte bezeichnet,
d. h. als die Erftbekehrten des Apoftels in Theffalonich;
diefe ehrenvolle Benennung konnte nur einem Teile der
Gemeinde gegeben werden, weil die Gemeinde als ganze
in keinem Sinne als djtaQ%r) — weder als heidenchriftliche,
noch als paulinifche, noch als mazedonifche — zu bezeichnen
war; gemeint find die wenigen Juden, die fich
als erfte bekehrten, wie I. Kor. 16 Stephanas und fein
Haus die djrapv?} von Achaja genannt werden.

Die Hypothefe ift vorzüglich und wie alle Hypothefen
H.s in glänzender Beweisführung vorgebracht. Sie erklärt
aufs befte, daß II. Theff. nichts Unpaulinifch.es enthält
, und macht es möglich, ihn im engften Verhältnis
und in der nächften Nähe von I. Theff. gefchrieben fein
zu laffen.

Daß die Hypothefe kein zwingender Beweis ift, gibt
H. felber ausdrücklich zu, er zählt auch felber Bedenken
auf, die feiner Anficht nach dagegen fprechen. Ich
möchte als Gegenüberlegungen, die fich leicht einftellen,
folgende hervorheben: 1. Das Problem der Dittographie
von II. Theff. gegenüber I. Theff. wird auch jetzt noch
nicht vollftändig erklärt, obwohl es fehr erleichtert wird;
war aber Paulus innerlich nicht reich genug, um einen
zweiten Brief an die Gemeinde innerhalb der Gemeinde
zu fchreiben, der fich nicht an den erften Brief anlehnte
und der die Eigenart der Angeredeten als Judenchriften
deutlicher zum Ausdruck brachte? 2. Warum ftand Paulus
dem judenchriftlichen Teile der Gemeinde, der doch auch
ihm feinen neuen Glauben verdankte, fremder und kühler
gegenüber? Wir fehen doch fonft, daß gerade die bekehrten
helleniftifchen Volksgenoffen des Apoftels feinen