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Ausgabe:

1911 Nr. 14

Spalte:

436-437

Autor/Hrsg.:

Häberlin, Paul

Titel/Untertitel:

Wissenschaft und Philosophie, ihr Wesen und ihr Verständnis. 1. Bd.: Wissenschaft 1911

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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435

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 14.

43°~

Fehler des Herausgebers, fondern im Wefen folcher Ausgaben
. Ich habe ehrlichen Refpekt vor der Selbftver-
leugnung, mit der ein Lehrer der fyftematifchen Theologie
hier eine philologifche Arbeit getan hat, die fohwieriger
war als andere neuere kritifohe Ausgaben von Schriften
Schl.'s. Und zu dem Zweck, daß ein Hochfchullehrer
über die Glaubenslehre in ihrer literarifchen Urform unter
der Berückfichtigung der 2. Aufl. Übungen hält, iftStanges
Ausgabe gut. Wenn aber jemand für fich in Schl.'s Werk
wiffenfchaftlich arbeiten und dabei auch den Text der
2. Auflage als Ganzes auf fich wirken laffen will, wird
er auch weiterhin beide Texte in vollftändigen Exemplaren
nebeneinander benutzen; dabei wird St.'s Ausgabe,
wenn fie vollftändigvorliegt, es einem erfparen, die i.Aufl.
der Glaubenslehre antiquarifch zu kaufen — bisher bekommt
man fie ja noch ziemlich billig — und jedem
dadurch wertvoll fein, daß hier die Abweichungen der
2. Aufl. forgfältig zufammengeftellt find. Auch der Text
der I. Aufl. ift, foweit ich nachgeprüft habe, völlig korrekt
wiedergegeben. Unter die Druckfehler, die St. notiert,
ift der Ausdruck ,das Verkehr' zu unrecht aufgenommen;
Schi, hat wirklich fo gefagt. Unbillig fcheint mir das
Urteil, auch die Theologen, die bisher die 1. Aufl. benutzt
und auf ihre Befonderheit hingewiefen hätten, feien dabei
durchaus eklektifch verfahren. Das muß jeder, der nicht
direkt über den Unterfchied beider Auflagen fohreibt;
foll aber gefagt fein, fie hätten die 1. Aufl. inkonfequent
benutzt, hier und da, aber anderswo, wo es ebenfo nötig
gewefen wäre, nicht, fo zweifle ich, ob die Behauptung
in ihrer Allgemeinheit bewiefen werden kann.

Halle a. S. H. Mulert.

Zum 70. Geburtstag Otto Liebmanns. Feftfchrift der ,Kant-
ftudien' mit Beiträgen von Erich Adickes, Bruno Bauch,
Hans Driefch, Hugo Falkenheim, Richard Hönigswald,
Walter Kinkel, Fritz Medicus, Oswald Weidenbach,
Wilhelm Windelband herausgegeben von H. V a i h i n ge r
und B. Bauch. Mit einem Portrait Liebmanns von S.
von Sallwürk. Berlin, Reuther & Reichard 1910. (X,
178 S.) gr. 8° M. 3 —

Otto Liebmann ift einer der feinften und vornehmften
Denker aus der Schule des Kritizismus. Er ift auch einer
der erften gewefen, die nach dem Sturz der Spekulation
und nach der Sturmflut des Materialismus die Lofung:
Zurück zu Kant! verbreiteten. In diefem Sinne ift feine
Programmfohrift ,Kant und die Epigonen' vom Jahre 1865
ein hiftorifches Dokument, das uns heute noch angeht
und Zellers bekannter Programmrede vom Jahre 1862
mindeftens ebenbürtig ift.

Die entfchiedene Wendung zum Kritizismus, mit
welcher Liebmann vor anderthalb Menfohenaltern in die
philofophifche Forfchung eintrat, hat fich in dem Werk
feines Lebens ungemein eigen und anziehend geftaltet.
Denn der Anfchluß an Kant bedeutete für ihn nicht einen
Verzicht auf eigenes Denken, noch weniger eine pünktliche
Reproduktion Kantifcher Einzelpofitionen, fondern
durchaus nur Erneuerung des kritifchen Sinnes und Selbft-
erziehung zu kritifcher Umficht und Befonnenheit. Er
wollte den Geift des Kritizismus, nicht feinen Buchftaben,
und wagte es mit Kant, weil er von Anfang an ent-
fchloffen war, mit der fefteften Bindung an das kritifohe
Prinzip die volle Freiheit des Forfchens zu verbinden und
fyftematifch umzubilden, was an dem Schöpfungswerk des
Meifters feiner Einficht nicht entfprach.

Daß er mit diefen Vorbehalten kein orthodoxer Kantianer
werden konnte, ift klar. Daß er es nicht geworden
ift, beweift nicht nur feine abweichende Haltung in wichtigen
theoretifchen Pofitionen — z. B. fein Urteil über die
Idealität des Raumes und der Zeit, die er nach reiflicher
Erwägung aller kritifchen Inftanzen und unter geiftreicher
Berückfichtigung der metageometrifchen Phänomene

fchließlich doch nur für eine gut fundierte, tieffinnig-wahre
Hypothefe, nicht für eine unanfechtbare Theorie zu halten
imftande ift —, fondern vor allem der kräftige Zug zur '
Metaphyfik, der den kritifchen Genius feiner Philofophie
im innerften Grunde ergriffen hat.

Es verlieht fich, daß nicht eine dogmatifche Metaphyfik
vom Wefen der Dinge als Ziel und Vorwurf ins
Auge gefaßt ift. Der fpekulative Dogmatismus ift auch
nach Liebmann durch Kant grundfätzlich und endgiltig
überwunden. Aber nicht überwunden ift das Unternehmen
einer kritifchen Metaphyfik, die fich, von Kant belehrt,
befcheidet, eine ftrenge Erörterung menfchlicher Anflehten,
menfehlicher Hypothefen über das Wefen der Dinge zu
fein. ,Wir halten fie feft. Sie bleibt nach wie vor eine
aus tiefwurzelnden, unausrottbaren Geiftesbedürfniffen her-
vorwachfende Gedankenarbeit und eine logifche Verftan-
despflicht.'

Diefer vornehme Begriff von Metaphyfik, der kritifohe
Gedankenklarheit mit einer wahrhaft philofophifchen Einficht
in den Reichtum des menfehlichen Geiftes verbindet,
liegt den fchönften und lcharffinnigften Unterfuchungen
Liebmanns zum Grunde und gibt feiner vorfichtig prüfenden
Art die lebendige Kraft und Weite, die man bei
manchen neueren Kantianern vermißt und die auch den
Theologen für die Probleme diefes ernften Naturphilofo-
phen in hohem Grade gewinnen muß. Es ift immer ein
gegenftändliches Denken, was fich in Liebmanns philofophifchen
Schriften klar und gediegen vor uns entfaltet,
und nur an einigen letzten Punkten fcheint durch den
transparenten Schleier einer ungewöhnlichen Darftellungs-
gabe die Dichterfeele des Denkers hindurch, die im Aöyoq
und der 'Ayani] fich felbft und den Weltgrund gefunden
hat. Liebmanns bekanntefte und bedeutendfte Schriften
find die zwei Bände .Gedanken und Tatfachen' und die
Abhandlungen ,Zur Analyfis der Wirklichkeit', die eben
in vierter Auflage erfchienen find.

Die Kantgefellfchaft hat Liebmanns Verdienfte um
die Philofophie des Kritizismus durch eine Feftfchrift
geehrt, die als Sonderheft der Kantftudien zu Liebmanns
70. Geburtstag erfchienen ift. Es ift eine Sammlung von
Auffätzen über Liebmann, an der fich Windelband, Adickes
Falkenheim, Kinkel, Driefch, Hönigswald, Bauch, Medicus
und Weidenbach mit größeren Beiträgen beteiligt haben.
Befonders beachtenswert erfcheinen mir neben Windelbands
fohöner Introduktion die Auffätze von Adickes:
Liebmann als Erkenntnistheoretiker, und von Hönigswald
: Zu Liebmanns Kritik der Lehre vom pfychophy-
fifchen Parallelismus. Hier ift mehr als Reproduktion,
hier ift eigene Philofophie, die fich mit tiefem und gründlichem
Ernft der gemeinfamen Frageftellungen bemächtigt
und würdig zu den Dingen fpricht.

Die Liebmann-Feftfchrift ift ein Einführungswerk von
bleibendem Wert. Sie ift zugleich ein fchönes Bekenntnis
zur Philofophie des progreffiven Kritizismus, die, wenn
nicht alle Zeichen trügen, die Philofophie der Zukunft ift.

Berlin. Heinrich Scholz.

Häberlin, Priv.-Doz. Dr. Paul: Wiflenfchaft und Philofophie.

Ihr Wefen und ihr Verhältnis. 1. Bd.: Wiffenfohaft.
Bafel, Kober 191 o. (VII, 360 S.) 80 M. 6—; geb. M. 8 —

Als das höchfte Ziel alles Philofophierens bezeichnet
der Autor, der fich bereits durch eine Kritik Spencers
hervorgetan hat, die Erarbeitung einer ,Weltanfchauung',
das heißt, einer .idealen Pofition über den Widerfprüchen
und Problemen des Kultur- und Einzellebens'. Er fügt
hinzu, daß er darunter nicht nur einen rein theoretifchen
Wert verliehe, nicht nur ,die einheitliche und umfaffende
Löfung aller Erkenntnisprobleme'. Vielmehr gehöre ,dazu
auch, und zwar wefentlich, eine feile, harmonifche Einheit
der praktifchen Stellungnahme zu allen Eventualitäten des
Lebens — und diefe letztere Einheit darf jener einheitlichen