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Ausgabe:

1911 Nr. 1

Spalte:

22-23

Autor/Hrsg.:

Roi, Joh. de le

Titel/Untertitel:

Neujüdische Stimmen über Jesum Christum, gesammelt 1911

Rezensent:

Fiebig, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 1.

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Stände. Das Haupteerippe fei kurz angedeutet. Der innerfte j Fortfetzung der Rothefchen betrachten. Nun wird fich

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Gehalt der Reformation Luthers ift ein neues Verhältnis
der Seele zu Gott, eine neue Sittlichkeit, eine neue
Weife der kultifchen Gottesverehrung, und zwar alles
auf Grund der im Lichte des neuen Gottesglaubens ge-
lefenen Bibel. Aber verbunden damit bleibt das alte
Dogma, ja die ganze auguftinifche Weltanschauung, und
die Vorftellung der Einen dogmatifch formulierbaren
Wahrheit, d. h. ein gut Teil Katholizismus. Die pro-
teftantifche Geftalt gibt dem Auguflinismus erft Calvin;
er wendet die Grundsätze der Reformation auf die Neuordnung
von Staat und Kirche an und fchafft fo eine
eigene Kultur, die allmählich den Glanz der neu erblühten
katholifchen Kultur verdunkelt. Freilich beharren
konnten die Neubildungen nicht in der altpro-
teftantifchen Geftalt. Von Luther her und beftändig
durch das Vorbild feiner Perfönlichkeit gereizt, wird der
Proteftantismus ,die unveimeidliche ewige Unruhe der
Geifter in Beziehung auf die Wahrheit' (S. 7). Auf cal-
vinifchem Boden bildet fich dazu eine wirkliche Toleranz
heraus, Staat und Kirche lernen jedes auf Sich

m. E. diefe Auffaffung nicht durchführen laffen. Denn
ebenfo die moderne Einficht in die Eigenart und Selbständigkeit
der Religion, wie der wachfende Übergang
von idealiftifchen Konstruktionen des kulturellen Lebens
zur empirifchen Beobachtung der wirklich vorhandenen
Kulturzuftände und Staatsformen fprechen dagegen.
Wenn Seil mit Recht von einem , Kulturelend der
abendländifchen Christenheit' (119) redet, werden wir
gut tun, die notwendige Spannung zwifchen Religion
und Kultur auch in dem Nachdenken über Gedankengehalt
und Dafeinsformen der Religion nicht zu ver-
geffen. Dann aber wird uns eine dauernde Sonder-
ftruktur des religiöfen Lebens in Erkenntnis wie Praxis
als durchaus nötig erfcheinen. Schon daraus ergibt fich
eine Verschiebung des Tones gegenüber der vielfach
herrfchenden Auffaffung: Leitmotiv ift auf geistigem Gebiete
nicht die Auflöfung des Dogmas durch die felb-
ftändige Weltbildung, fondern die pofitive innere Um-
prägung der christlichen Motive und Gedanken zu einem
neuen und doch echt christlichen Ganzen; auf dem Ge-

felbft zu beruhen. Des weiteren muffen dann Pietismus | biete der Verfaffung nicht die Auflöfung des Zwangs

und Aufklärung gleichmäßig zu diefer Entwicklung beitragen
, die den Glauben zur perfönlichen Sache jedes
Einzelnen, zum autonomen Erlebnis macht. Ihren Höhepunkt
aber erreicht Sie erft im deutfchen Idealismus. Hier

kirchentums durch den Protestantismus, fondern gerade
die pofitive Ausbildung neuer kirchlicher Formen, die
dem Wefen des Christentums adäquater find als das
eng mit dem Staat verquickte, überwiegend auf Rechtswird
das auf feinen einfachen Kern zurückgeführte Christen- ! Ordnung und dogmatifche Uniformität gegründete Zwangs-
tum als die höchste Form der menfchlichen Religion über- ; kirchentum. Seil könnte dem erften, aber nicht dem
haupt erkannt; als eine Lebensmacht, die fich durch ihre j zweiten Satze zustimmen. Drängt Sich der Vergleich mit
Fruchtbarkeit für die Stiftung eines höheren, befferen, | Tröltfch überall auf, fo ift er an diefem Punkte befonders
glücklicheren Menfchendafeins immer von neuem als be- ! lehrreich. Allein die Auffaffung von Rothe und Seil entrechtigt
ausweifen muß (S. 85 f.). Von Zwangskirchentum
kann hier nicht mehr die Rede fein; und fo Steigen im
19. Jahrhundert unter zweckentfprechender Anpaffung
an die Gefamtlage des Christentums allmählich neue
Formen .christlicher Gefittung und Vergesellschaftung'
(S. 93) empor. In diefem Zufammenhang werden Hei-
denmiffion, theologifche Wiffenfchaft, Lockerung des
Bandes von Staat und Kirche, vor allem aber der wirt-
fchaftlich-fittliche Sozialismus, der kirchlich-politifche
Ultramontanismus und der religiös-philanthropifche Methodismus
(in der Heilsarmee charakteriftifch zugefpitzt)
befprochen. Die letzten beiden Erfcheinungen find die
wichtigsten: hier ein ,asketifcher WeltproteStantismus',
der mit einem Heilandswerk beweist, daß im Himmel
und auf Erden ein Heiland lebt, dort ein politischer
Weltkatholizismus, der Sich von feiner religiöfen Grundlage
immer weiter abdrängen läßt (S. 119).

Der Reichtum des Inhalts, den fchon diefe kurze
Skizze andeutet, ift nun hineingetaucht in eine Fülle
von gefchichtlichen Beziehungen. Wenn Seil im Titel
verfpricht, das Christentum in feinem Verhältnis zur
Weltgefchichte zu fchildern, fo meint er damit keineswegs
nur die politifche, fondern die gefamte Kultur-
und Geiftesgefchichte; es öffnen Sich alfo nach allen
Seiten Perfpektiven von unabfehbarer Weite. Es ift
nur natürlich, daß die konkreten Einzelheiten dabei fehr
ltark zurücktreten müffen. Da Sie aber zum Verftändnis
keineswegs entbehrlich find, fo ergibt fich das Urteil,
daß Genuß und Verftändnis des Buches je nach dem
Grade der Vorkenntniffe verfchieden fein werden.

Den Fachmann intereffiert befonders der Grundgedanke
. Nun ift es offenbar das (an fich überaus dankenswerte
) Ziel Seils, den Reichtum der Gefamtentwick-
lung möglichst ohne Tendenz auf den Lefer wirken zu
laffen. Aber Titel und Inhalt zeigen doch deutlich die

fpricht einer fo weit verbreiteten Stimmung und kann
immerhin fo vieles für Sich geltend machen, daß es ein
Verdienst ift, fie eindrucksvoll und geistreich vorzutragen
— fo fehr, daß man im Intereffe wiffenfchaftlicher Klärung
faft wünfchen möchte, Seil hätte es rückfichtslofer getan.
Auf jeden Fall ift das Buch trefflich geeignet, das leider
vielfach noch recht Schwache und doch für Kirche wie
Theologie bitter nötige Intereffe gerade an der neueften
Kirchengefchichte zu beleben.

Marburg a. d. L. Horft Stephan.

de le Roi, Paft. em. Lic. Joh.: Neujüdilche Stimmen über
Jelum Chriltum, gelammelt. (Schriften des Inftitutum
Judaicum in Berlin Nr. 39. Herausgegeben von H. L.
Strack.) Leipzig, J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung 1910.
(54 S.) gr. 8« M.-75

Verf. bietet hier eine fehr dankenswerte Zufammen-
Stellungvon Äußerungen jüdifcher Gelehrter und Rabbiner
der Gegenwart und jüngften Vergangenheit über Jefus.
Aus Deutfchland, Öfterreich-Ungarn, Schweiz, Frankreich,
Italien, Großbritannien,Schweden, Rußland, Nord-Amerika,
hören wir hier jüdifche Stimmen über Jefus, die in der
Hauptfache der Anerkennung Jefu voll find und nicht
den Haß atmen, den das Judentum in früheren Zeiten
Jefus entgegengebracht hat. Heutzutage ift diefer Haß
in der Hauptfache lediglich in Gegenden zu finden, wo
die Juden in größeren Maffen zufammenwohnen und, wie
in Ofteuropa, kulturell und religiös Stark zurückgeblieben
find. Unter den deutfchen Stimmen vermiffe ich J.
Efchelbacher-Berlin (Das Judentum und das Wefen des
Christentums, 1905), bei den englifchen die Erwähnung
von C. G. Montefiores ,Synoptic Gospels' (London 1909).
t Dem ganzen Büchlein de le Rois gegenüber möchte ich
Auffaffung, daß der Hauptfortfchrftt ein Hinauswachfen ! folgendes zu bedenken geben: der für unfer heutiges

der Religion über die Kirchenform ift, d. h. ein Hinein-
wachfen der Religion in die unfichtbare Seele des Sittlichen
Lebens und damit der Weltgeftaltung, eine Auflöfung
der Sonderexiftenz neben den großen gefchichtlichen
Formen des Kulturlebens. Man darf alfo Seils
Grundanfchauung als eine, obfchon vielfach ermäßigte

religiöfesLeben unbedingt nötigen religionsgefchichtlichen
Aufgabe erften Ranges, d. h. der Auseinanderfetzung des
gegenwärtigen Christentums mit dem gegenwärtigen Judentum
, ift durch eine fo kurze Zufammenftellung, wie
fie de le Roi hier bietet, nicht Genüge gefchehen. Wir
brauchen ein gründlicheres, umfangreicheres Buch über