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Ausgabe:

1911 Nr. 14

Spalte:

419-420

Autor/Hrsg.:

Marett, R. R. (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Die Anthropologie und die Klassiker. Sechs Vorlesungen 1911

Rezensent:

Wendland, Paul

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Seite 1

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419

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 14.

420

Schräder, Prof. Dr. Otto: Begraben und Verbrennen im

Lichte der Religions- und Kulturgefchichte. Ein Vortrag
. [Aus: ,Mittlgn. d. schief. Gefellfch. f. Volkskde/]
(31 S.) gr. 8°. Breslau, M. & H. Marcus 1910. M. — 60

Der außerordentlich lehrreiche Vortrag fchildert in
einer Fülle von wohl gewählten Beifpielen die Sitten und
Grundgedanken des Totenbegräbniffes und der Leichenverbrennung
, die Bräuche des Totendienftes und Ahnenkultus
, die befonders bei den litauifchen und flavifchen
Völkern in überrafchender Weife bis auf die Gegenwart
erhalten find. Für den Bibelforfcher ift befonders bemerkenswert
, daß die Sitte, den Toten in feinem Haufe
zu begraben, eine Sitte, die auch I Sam 25,1 II Reg 2,34
bezeugt ift, auch von römifchen und griechifchen Schrift-
ftellern erwähnt und, wie es fcheint, auch durch Aus- j
grabungen in Böotien wie in Deutfchland beftätigt wird.
Die ,Hockerftellung' erklärt der Verf. anfprechend daraus,
daß den älteften Menfchen diefe Stellung beim Gefpräch,
der Arbeit, dem Effen die natürliche war, fo daß fie auch
den Toten als eine Vorfpiegelung und Nachahmurg des
wirklichen Lebens für das Scheinleben im Grabe gegeben
wurde. Die Feuerbeftattung bedeutet nach dem Verf. die
Befreiung der Seele vom Körper, daß fie imftande fei,
ins Totenreich zu gelangen, und zugleich die Verhinderung
ihrer Rückkehr zu den Lebenden. Im klaffifchen
Griechenland wie in Rom haben beide Beftattungsarten
friedlich nebeneinander beftanden, was denn wohl in kurzem
auch bei uns der Fall fein wird.

Gießen. Hermann Gunkel.

Die Anthropologie und die Klaffiker. Sechs Vorlefungen, gehalten
vor der Univerfität Oxford von ArthurJ. Evans,
Andrew Lang, Gilbert Murray, F. B. Jevons, J. L.
Myres, W. Warde Fowler, herausgegeben von R. R.
Marett. Überfetzt von Johann Hoops. Heidelberg,
C. Winter 1910. (226 S.) gr. 8° M. 5 —; geb. M. 6 —

Diefe Univerfitätsvorlefungen wurden auf Anregung
des Komitees für Anthropologie 1908 in Oxford gehalten.
Die Überfetzung lieft fich ziemlich glatt. Mißverftändniffe
find mir S. 86,2. 3. 151,18. 19, fonft einige Härten und
Ungenauigkeiten aufgefallen.

Evans beginnt mit Ausführungen über weitverbreitete
primitive Bilder- und Zeichenfchriften, die, vielfach ein
Abbild der Gebärdenfprache, durch linearifierte Vereinfachung
den Übergang zu alphabetifchen Zeichen bilden.
,Die konventionalifierte Schriftmalerei Kretas, wenn fie uns
auch nicht den wirklichen Urfprung der fpäteren phöni-
zifchen Buchftaben gibt, bietet uns wenigftens die befte
Erklärung der Elemente dar, woraus fie fich entwickelt
hat'; vgl. Evans, Scripta Minoa, Oxford 1910. Der fehr
anregende Vortrag wird durch ein reiches Material von
Abbildungen erläutert.

In Längs Vortrage über ,Homer und die Anthropologie
' wird zwar viel Ethnographifches berührt, aber
nicht im einzelnen fo eingehend behandelt, wie wir es
von den berühmten Anthropologen wünfchten; es wird
aufgeboten, um die Philologie aus dem Felde zu fchlagen.
L. läßt die modernen Theorien einander verzehren, leugnet
die traditionelle Bewahrung älterer Sitte und archai-
fierende Haltung des Epos, beftreitet die gerade durch
Vergleichung beftätigte Entftehung der großen Epen
durch allmähliche Anfchwellung, nimmt ein Nebeneinander i
abweichender Sitten, ja zum Teil unvereinbarer Begriffe als
durch frühzeitige poetifche Literatur erwiefen an. Homer
ift ihm der Repräfentant einer auf die ägäifch-minoifche
Periode folgenden und ftark unter ihrem Einfluß flehenden
Kulturperiode, der der Dichter der Ilias und Odyffee felbft 1
angehört. Diskutierbar ift diefe Meinung nicht. Warum
fonft die Dichtungen von keiner anthropologifchen Bedeutung
wären, ift mir nicht verftändlich. Rohde und

Dümmler z. B. haben, obgleich von ganz anderen An-
fchauungen ausgehend, mit Erfolg anthropologifche For-
fchung für Homer verwertet.

Murrays fehr anregender Vortrag geht aus von der
Tatfache, die auch Lang betont, daß im Gegenfatz zu Ilias
und Odyffee die fonftige epifche Tradition viele primitive
und rohe Züge enthält, und erläutert einige folche Zeremonien
und Vorftellungen durch ethnographifche Parallelen,
fo die Verbreitung des Dionyfos-Kultes, Kannibalismus
im Kulte des Zeus Lykaios, Überbleibfel des ,Medizin-
Oberhauptes' mit feinem wirkungskräftigen Zauber in
griechifchen und römifchen Traditionen. Sehr richtig ift,
was M. von Mißverftändniffen fagt, die oft aus einer
Gleichfetzung primitiver und geläuterter abftrakter Gottes-
begriffe entliehen.

Jevons tritt mit Recht für die Anficht ein, daß es
fchon vor dem Eindringen der perfifchen Magie bei Griechen
und Italikern magifche Bräuche gegeben habe und
erläutert u. a. in vergleichender Methode die Bedeutung
des ,Singens' (ich verweife auf Ufener, Rh.M. LVI Ita-
lifche Volksjuftiz), des Bildes und des Namens, des Anheftens
im Zauber, den Parallelismus der Todes- und der
Liebesmagie, das Verhältnis von Magie und Religion.

Myres preift Herodot als Vater der Anthropologie
Er will nicht feine Angaben durch modernes ethnographifches
Material erläutern, fondern Methode und Grundsätze
der Forfchung, auch die Motive falfcher Schlüffe
darlegen auf dem Hintergrund der Entwicklung des vor-
fokratifchen Denkens. Der wiffenfchaftliche Fortfehritt
wäre noch vollftändiger zur Anfchauung gebracht, wenn
auch Ariftoteles, über deffen Bedeutung auf diefem Gebiete
befonders auf Grund der Ilolirtlai günftiger zu
urteilen ift als S. 153, und Pofeidonius behandelt wären.
Von den Gefichtspunkten des gefchulten Anthropologen
ift manches zu lernen. Leider hat er oft veraltete Texte
benutzt, z. B. S. 157 für Anaximander (das Richtige bei
Diels, Vorfokratiker 2 S. 17,29 nebft Anm. S. 654), Referate
und Zitate nicht immer genau gefchieden, den Wortlaut
der Quellen mitunter nicht ganz korrekt wiedergegeben.

Ein feinfinniger Auffatz Fowlers über Luftrationsgebräuche
bildet den Schluß. Die fakrale Bedeutung des
Ümganges um die Flur (Ufener, Weihnachtsfeft2 S. 314fr.)
und der ihn begleitenden Zeremonien, die analoge Umgrenzung
der Stadt (Ufener, Vorträge S. 113fr.), Luftration
des Volkes oder des Heeres werden befprochen.

Wie der Titel, fo läßt auch die Vorrede Marrets, des
Herausgebers, den Gegenfatz zwifchen Philologie und Anthropologie
in unnötiger Schärfe erfcheinen, indem jene
im einfeitig humaniftifchen, diefe im weiteften Sinne gefaßt
wird, in dem fie manche fchon zum Gemeingut philologifch-
hiftorifcher Forfchung überhaupt gewordenen Grund-
fätze vertritt. Die Notwendigkeit des Zufammenwirkens
anthropologifcher und philologifcher Forfchung ift heute
anerkannt, und das ift zum guten Teil Verdienft englifcher
Forfchung. Uber die Gefahren, die von vorfchnellen
Gleichfetzungen und Übertragungen anthropologifcher
Forfcher drohen, hat kürzlich L. Ziehen in fehr beachtenswerten
Ausführungen gefprochen (Gött. Anz. 1911 S. ioöff.).
Daß diefe Klippen auch in den vorliegenden Vorträgen
nicht immer vermieden find, habe ich angedeutet. Aber
das Wertvolle überwiegt, und die Namen und Redner
geben der Schrift eine für die wiffenfehaftlichen Strömungen
charakteriftifche Bedeutung.

Göttingen. Paul Wendland.

Hefte zum Chriftlichen Orient. II. Serie. Muhammedaner-
miffion. 1., 5. u. 4. Heft. Potsdam, Verlag der deut.
Orient-Miffion. gr. 8°

I. Awetaranian, P. Johs.: Märtyrer aus den Muhammedanern.
6. Aufl. 1910. (31 S. m. 10 Abb.) M. — 30. .— 5. Awetaranian,
P. Johs. (Emirzadd Muhammed Schükri): Die muhammedanifche