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Ausgabe:

1911 Nr. 13

Spalte:

403-405

Autor/Hrsg.:

Natorp, Paul

Titel/Untertitel:

Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften 1911

Rezensent:

Jordan, Bruno

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4°3

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 13.

404

Natorp, Prof. Dr. Paul: Die logifchen Grundlagen der exakten
Wiffenrchaften. (Wiffenfchaft und Hypothefe, Bd. XII.)
Leipzig, B. G. Teubner 1910. (XX, 416 S.) 8° Geb. M. 6.60

In der rühmlich!!, bekannten Sammlung ,Wiffenfchaft
und Hypothefe', die mit der gleichnamigen Abhandlung
Poincares fo glänzend eingeführt wurde, find insbefondere
im letzten Jahre eine Reihe überaus wertvoller Werke
herausgekommen, die nicht bloß für den Fachmann
außerordentlich wichtig find und z. T. für ihn eine pro-
grammatifche Bedeutung haben, fondern die auch in erfter
Linie geeignet erfcheinen gemäß den Abfichten des Verlags
, den feften Befitz und zugleich das pulfierende Leben
der einzelnen Wiffenfchaften weiteren Kreifen zu übermitteln
, eine Brücke zu fchlagen zwifchen den einzelnen
in Umwälzungen befindlichen Wiffensgebieten.

Natürlich darf in diefer Regiftratur der Grenzftreitig-
keiten auch eine Unterfuchung der Beziehungen zwifchen
Wiffenfchaft und Religion nicht fehlen; damit ich in
dem freundlichen Lefer für das fogleich von mir zu be-
fprechende Werk ein gutes Vorurteil erwecke, brauche ich
ihn nur an das anregende Buch von Boutroux (Band X)
zu erinnern.

Es ift nun aber im höchften Grade charakteriftifch,
daß neben diefem einen Werk fich gleichzeitig in dem
letzten Jahre (1910) nicht weniger als drei Abhandlungen
mit einem völlig anders gearteten, dem diametral entgegengefetzten
Grenzftreit befaffen, mit den Beziehungen
der Philofophie, der feindlichen Schwerter der Religion,
zu den Wiffenfchaften. Das fcheint darauf hinzudeuten,
daß die Wiffenfchaften gegenwärtig ein viel größeres
Intereffe haben, fich mit der Philofophie als mit der
Religion auseinanderzufetzen.

Die echte Religionswiffenfchaft unferer Tage ift in
der Tat viel zu fehr mit ihren eigenen Problemen und
der Vertiefung und Umbildung ihrer Grundanfchauungen
befchäftigt, als daß fie genötigt wäre, fich unmittelbar
mit den Umwälzungen, die fich ebenfowohl in einzelnen
Wiffenfchaften als in den Grundgebieten der Philofophie
vollziehen, näher zu befaffen. Gleichwohl täte fie gut
daran, diefe bedeutfamen Vorgänge mit lebhafter Auf-
merkfamkeit zu verfolgen, auch wenn fie in Einzelheiten
weit entfernt zu fein Rheinen, weil über kurz oder lang
auch fie, wenn in ihrem Lager Ruhe nach der Befeftigung
der gewonnenen Grundpofitionen eintritt, vor ähnliche Aufgaben
insbefondere methodifcher Art geftellt fein wird.

Die philofophifche Bewegung der Gegenwart hat
trotz der Mannigfaltigkeit und Zerriffenheit im einzelnen
doch einen gemeinfamen Grundcharakter; in ihr ent-
fcheidet fich der Kampf des im Grunde deutfchen Idealismus
gegen den Pfychologismus und den Pragmatismus
als feine gefährlichften Gegner.

Die Revolution der Logik insbefondere durch Huf-
ferls bohrenden Scharffinn, im Grunde mehr eine Re-
ftauration der vertieften kantifchen Logik, hat den
Pfychologismus wohl endgültig zerfchmettert. Mit dem
Pragmatismus wird fich insbefondere auch die Religions-
pfychologie auseinanderzufetzen haben. Aus jenem Kampf
kann fie die Methode erlernen.

In den exakten Wiffenfchaften hat vor allem die
Mathematik immer wieder eine Revifion ihrer Grundelemente
erfahren müffen. Jener Siegeszug der ,reinen'
Logik mag nun wohl dazu beigetragen haben, daß auch
in der Mathematik das ,Logifche' in den Mittelpunkt des
Intereffes gerückt wurde. Auch das ift für die Zukunft
von programmatifcher Bedeutung.

Die äußerfte Spitze diefer ganzen Bewegung ift erreicht
, wenn einerfeits in den exakten Wiffenfchaften vor
allem die Mathematik, in diefer wiederum in erfter Linie
das Logifche intereffiert, und andrerfeits die Logik mög-
lichft ,rein' hingeftellt, nur auf reinem Denken bafiert wird.

Der Natorpfche Verfuch, der diefe Spitze bedeutet,
ift, obwohl auf enger Bafis, doch fo tiefbohrend und anregend
, daß er als eine der beften Einleitungen in diefe
Probleme lebhaft empfohlen werden muß.

Zwar die Revifion der Akten der Vernunftkritik, mit
der Natorp feine ,logifche Begründung der exakten Wiffenfchaften
' einleitet, ift ein bekanntes Erbgut der Marburger
Schule. Mit durchfichtiger Offenheit tritt die
Abweichung von Kant zu Tage: die Ausfchaltung der
.Anfchauung', die Verengung der Synthefis auf das reine
Denken. Intereffant ift, daß Natorp fogar von feinem
Lehrer Cohen in einem wichtigen Punkte immer deutlicher
abrückt. Er fucht deffen ,Ürteil des Urfprungs' nach
der Seite der methodifchen Hypothefis hin zu vertiefen.

Der Hauptdiskuffionspunkt wird fein, ob fich die
völlige Ausfchaltung des Irrationalen — aller mehr oder
minder verfteckte Hinweis darauf ift letzthin doch nur
eine Verfchachtelung des Grundprinzips — die Aus-
merzung der .Anfchauung' in der Mathematik, deren Begründung
auf Logik, aufreinesDenkenwirdhalten laffen.

In der Polemik ift Natorp fehr glücklich. Mit Recht
weift er alle Verfuche, ein .Gegebenes' an den Anfang zu
ftellen, zurück. Ebenfo fordert er durchaus mit Recht
innerhalb der Logik Beweis und Definition auch von den
.Vorausfetzungen'. Befonders geiftreich (manchmal freilich
wohl etwas gekünftelt) ift die Terminologie (Ver-
ftand u. ä.).

Mich dünkt, daß fchon die Hereinziehung des unendlichen
Progreffes der Methode in das ,reine Denken'
deffen Grundcharakter fprengt. Eigentlich ift fchon die
Methode etwas, was außerhalb der fynthetifchen Natur
des Denkens liegt. In Natorp fteckt ebenfowohl Ver-
wandtfchaft mit Kant als mit Hegel. Die Tendenz, die
,Abficht' feiner Gedankenbewegung ift manchmal über-
rafchend ähnlich der Kants. Aber die Natur feines
Denkens, die ihm geftattet, oft ein recht weitmafchiges
logifches Gefpinft über entfchlüpfende Wirklichkeiten zu
werfen, ift ganz hegelfcher Art.

Das Anhypotheton, die Preisgabe einer eigentlichen
.Begründung' und deren Erfatz durch die .Ausführung'
(S. 31), die mindeftens fcheinbare Vertaufchung von
Denken und Erkennen (z. B. S. 41), das Problem, ,wie
follte das Mannigfaltige der Sinne in die Einheit eines
Begriffes kommen' (S. 48), die .doppelte' Synthefis, als
Verftandesfunktion, als Wefensinhalt des reinen Denkens,
die .hypothetifche' Methode (der .konditionale Sinn'), der
Poftulatcharakter (Gegenftand als Aufgabe), der .unendliche
' Charakter (bei Kant etwas inhaltlicher gefaßt) des
reinen Denkens, ohne Frage ein fynthetifches, keineswegs
ein analytifches Prädikat, die Betonung des .Gefetz-
mäßigen' im Denken, die Hineinlegung eines tieferen
.etymologifchen' Sinnes in gebräuchliche Termini und
vieles andere find deutliche kantifche Züge, ganz ab-
gefehen vom Inhalt felbft.

Echt hegelifch ift es aber wiederum, wenn aus der
.Korrelation' inhaltliche Beftimmungen des Gegenwegs
herausgefponnen werden, die Erkenntnis ganz in Syn-
thefe aufgelöft wird, wenn das Pfychologifche als .zeitlich
' und .gegeben' radikal ausgefchaltet wird, fo daß
das Problem der Beziehung zwifchen .Pfychologifchem
und .Logifchem' gar nicht exiftiert, wenn felbft das .Neue'
in der Synthefis als logifcher Charakter des reinen
Denkens zu faffen verfucht wird, ja deutlich genug
die Synthefis nicht als Funktion (wie bei Kant) fondern
als Inhalt in ihrem Wefen als ,Urfprung der Erkenntnis'
bezeichnet wird (S. 47). Das Schillern der Synthefe
zwifchen einer .Handlung' des reinen Denkens und einem
Gefetze des Gedachten, die ftillfchweigende Ausfüllung
des hypothetifchen Gefetzcharakters, eines blutlofen
Schemens, mit einer lebendigeren .Quelle unerfchöpf-
licher Denkbewegung', aus der dann fogar die ,Neu-
fchöpfung' von Begriffen fließt, und vieles andere mehr
ift fowohl Hegel wie Kant eigen.

Ich muß mich hier auf Andeutungen befchränken
und kann naturgemäß in diefem engen Rahmen keine