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Ausgabe:

1911 Nr. 13

Spalte:

400-401

Autor/Hrsg.:

Barge, Hermann

Titel/Untertitel:

Frühprotestantisches Gemeindechristentum in Wittenberg und Orlamünde 1911

Rezensent:

Cohrs, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 13.

400

ftrebte Verbindung von Rechtsgefchichte und Formge-
fchichte erfchließt. Daß aber unter hiftoriographifchen
Gefichtspunkten die vielgefchmähte Gefchichtsfchreibung
der Humaniften überhaupt erft zu würdigen, und dann
auch fogleich hoch einzufchätzen ift, liegt im Wefen diefer,
wie fchon die Zeitgenoffen empfanden, bahnbrechenden
literarifchen Bewegung. Natürlich hatte he gerade als
folche auch Schwächen und Gefahren, allein die Erfaffung
großer und einheitlicher Gefchichtsbilder, die dem Mittelalter
nur unter efchatologifchen oder halbbegriffenen antiken
Kategorien gelungen war, verdankt doch die Neuzeit der
Entdeckung, daß alle Erfahrung geftaltlos und nur die
Kunft lebengebend ift; nicht minder verdankt fie die objektive
Kritik der Überlieferung den humaniftifchen Begründern
der Philologie.

Der Verfaffer war bei feiner Arbeit durch die eigenen
eindringenden Unterfuchungen über Sigmund Meifterlin,
den merkwürdigen Benediktiner von St. Ulrich und Afra,
den Gefchichtsfchreiber von Augsburg und Nürnberg,
vorbereitet, und durch einige neuere Monographien, fo
über die Schedel und über Wimpfeling, über Althamer
und Aventin unterftützt; mehrfach kann er eigene oder
anderweitig geplante Studien ankündigen; in der Hauptfache
aber beruht das Buch auf dem originalen Studium
der in Betracht gezogenen Werke und der Briefe ihrer
Verfaffer. Eben deshalb, und weil aus den Werken eine
Fülle bezeichnender Stellen zitiert wird, wären die Anmerkungen
beffer unter den Text gefetzt worden. Ein
für weitere Kreife beftimmtes Lefebuch mag feine Nach-
weifungen hinten anhängen; eine folche Folge von Original-
unterfuchungen dagegen bringt fich eben dadurch um
die befte Wirkung; das Studium ift höchft läftig und die
Unbequemlichkeit einer bald im Vorderhaufe, bald in
den Vorratskammern des Hinterhaufes beliebten Verpflegung
ftört die Bekömmlichkeit der Mahlzeit.

Die erften beiden Kapitel über alte und neue Probleme
(Erudition der Bettelorden, höfifche Anfprüche und ftädti-
fche Chroniftik), über Vorläufer und Vorbilder (Petrarca,
Lionardo Bruni, Flavio Biondo, Valla und Enea Silvio, dazu
in Kap. 4: Antonin v. Florenz und Jac. v. Bergamo)
leiden etwas unter den Beziehungen auf das Folgende
und geben bei diefer Befchränkung keine runde Charak-
teriftik. Dagegen ift das 3. Kapitel über ,Scholaftifchen
Humanismus' lehrreich und die geringere Einfehätzung
Wimpfelings neu begründet; im Grunde gehörte auch die
.Humaniftifche Weltchronik' (Kap. 4) mit in diefen Zu-
fammenhang, obwohl in der Tat Johannes Nauklerus als
Welthiftoriker des jungen Tübingen bereits die neue Zeit
kräftig repräfentiert. Mit Kap. 5 (Entdecker und Kritiker)
kommt die Darftellung auf die Höhe, und die Art wie
hier, fo wohl zuerft, Beatus Rhenanus als Glied des erlauchten
Basler Kreifes ganz überlegen hervortritt, zeigt
den Fortfehritt unferer Kenntnis im Sinne kräftigerer
Handhabung von Maßftäben. An den unvollendeten
Libri III rerum Germanicarum des Beatus Rhenanus
ift zuerft die gefunde philofophifch-hiftorifche Kritik zu
rühmen, die der Widerfprüche in der Überlieferung
rationell Herr zu werden fucht; fodann feine Ab ficht auf
Schilderung des Zuftändlichen im Gegenfatz zu der vorwiegenden
Richtung italienifcher Humaniften; denn nicht
bloß die Anlage des Tacitus, fondern ausgebreitete Verwertung
infehriftlicher, urkundlicher und rein fprachlicher
Quellen beftärkte den Elfäffer in diefer Richtung. Wie
viel er dem Erasmus in Bafel verdankt, wird ebenfo richtig
hervorgehoben wie die unhiftorifche Art diefes moralifchen
Rationaliften. Im 6. Kap. ift die dem Frühhumanismus
z. T. im Sinne der den Alten eigentümlichen Verbindung
von Gefchichte und Länderkunde unter dem
Thema Germania illuftrata abgehandelt; das 7. fchließt
einftweilen die Darfteilung mit einer Befchreibung der
um Maximilian gruppierten Beftrebungen.

Für die Kirchengefchichte im befonderen fällt bei
dem älteren Humanismus wenig ab. Man fteht noch

ganz einesteils unter dem Einfluß der Italiener, z. B. der
Vitae pontificum des Piatina, anderfeits der Klaffiker;
deshalb die vorwiegende Beschäftigung mit der alten
deutfehen Gefchichte und (als wiffenfehaftliche Verwertung
romantifcher Genealogie) mit den deutfehen Stämmen.
Immerhin tritt mehr als einmal nach den Stimmungen
der Zeit der Vergleich des alten Rom mit dem neuen
Rom hervor, und der neugewonnene Nationalheld Arminius
regte den inzwifchen zum Reformator in Franken gewordenen
Althamer an, in Luther den ,Cherusker' zu begrüßen
, der Germanien von Aberglauben und Vielgötterei
befreite. Auch die deutfehe Kaiferzeit, die Kirchenkämpfe
Heinrichs IV. und Barbaroflas, begann man mit andern
Augen zu betrachten, als die bisher maßgebende Gefchichtsfchreibung
, und in der unmittelbarften Nähe Maximilians
wagte Cuspinian vom Papft zu fprechen als
,Vicarius Chrifti, ut sese vocat, von dem heiligen
Herzensfchrein der Päpfte, in dem doch eine Konfpiration
mit dem Sultan ihren Platz findet'.

Möchte eine dankbare Aufnahme des Buches den
Verfaffer zur Fortfetzung ermutigen!

Göttingen. Brandi.

Barge, Hermann: Frühproteftantifches Gemeindechriftentum
in Wittenberg und Orlamünde. Zugleich eine Abwehr
gegen Karl Müllers ,Luther und Karlftadt'. Leipzig^
M. Heinfius Nachf. 1909. (XXVI, 366 S.) gr. 8° M. 10 —

Das vorliegende Buch ift hervorgerufen durch die
mannigfache Kritik, die des Verfaffers .Andreas Bodenftein
von Karlftadt' (Leipzig 1905) gefunden; vor allem richtet
es fich gegen Karl Müllers .Luther und Karlftadt' (Freiburg
1907). Sein Nebentitel: .Zugleich eine Abwehr...'
ift mindeftens ebenfo berechtigt, wie fein Haupttitel; faft
Seite für Seite nimmt es auf Müllers Buch Bezug. Wollte
man ihm wirklich gerecht werden, fo müßte nicht nur
Müllers Buch ftets herangezogen, fo müßte genau genommen
verfucht werden, auf Grund der Quellen zwifchen beiden
eine Entfcheidung zu treffen.

Diefe Schwierigkeiten und Unfchlüffigkeit, wie ich die
Anzeige, zu der ich fchon wiederholt die Feder angefetzt,
geftalten follte, haben diefe bisher aufgehalten. Offenbar
geht eine Befprechung, die das Buch voll würdigte, über
das in einer Anzeige Mögliche hinaus. So fcheints mir
denn richtiger, über die Einzelpunkte nur kurz zu referieren
und nur die prinzipiellen Darlegungen, die das Buch mit
dankenswerter Deutlichkeit gibt, weiterer Befprechung zu
unterziehen.

Ganz bei Seite laffe ich die Schluß-Exkurfe, obgleich
gerade in ihnen Barge auch meiner Anzeige des II. Bandes
feines .Karlftadt' (Theolog. Lit. Zeitung 1908 Nr. 14) einen
kurzen Abfchnitt widmet. Nur das fei bemerkt, daß meine
Ausführungen keine .Angriffe' fein follten, fondern nur
Bedenken, die mir beim Lefen gekommen waren, und die
| ich nicht unausgefprochen laffen wollte. Trotz Barges
Erwiderung kann ich auch heute noch nicht ganz des
Eindrucks mich erwehren, daß die Darlegungen des Barge-
fchen Buches vorwiegend den Charakter der Defenfive,
um nicht zu fagen: der Ehrenrettung, tragen; wer aber
verteidigt, wird immer in Gefahr ftehn, das Gegenteilige
— wenn nicht zu Überfehn, fo doch vielleicht nicht genügend
zu berückfichtigen; nur daraufhabe ich hinweifen wollen.
Dabei darf ich darauf aufmerkfam machen, daß die fehr
günftige Befprechung der gleichen Abfchnitte des Bar-
gefchen Buches durch den verftorbenen E. Egli (Zwingliana
III S. 77 ff.) doch auch ihre Bedenken äußert.

Übrigens teilt Barge fein Buch in 5 Kapitel: 1. Der
I Beginn des Kampfes um die Meffe; 2. Das Wittenberger
| Gemeindechriftentum und die Ordnung der Stadt Wittenberg
v. 24. Januar 1522 ; 3. Das Nürnberger Reichsregiment
I und Friedrichs des Weifen Vorgehen gegen die kirchlichen
j Neuerungen in Wittenberg; 4. Luthers Rückkehr von der