Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1911 Nr. 12

Spalte:

378-379

Autor/Hrsg.:

Schneemelcher, W. (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Religion und Sozialismus. Sieben Vorträge, gehalten beim 5. Weltkongreß für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt, Berlin 1910. 1. Aufl 1911

Rezensent:

Traub, Gottfried

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

377

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 12.

378

Lebensgüter, als daß man achtlos an ihr vorübergehen
dürfte. Auf die Dauer und aufs Ganze gefehen, wird es
dabei bleiben müffen, daß Chriftentum nicht fein kann
ohne Kirche'.

Gießen. M. Schian.

Dibelius, Paft. Lic. Dr. Otto: Unlere Groflltadtgemeinden,

ihre Not und deren Uberwindung. Mit Geleitwort
von Gen.-Superint. Wirkl. Ob.-Konfift.-Rat D. Doeblin.
Gießen, A. Töpelmann 1910. (24 S.) 8° M. —50

Ein aus warmer Liebe zu unferer Volkskirche geborener
Vortrag, der einen neuen Weg zur Hebung der
religiöfen und kirchlichen Not unferer Großftadtgemein-
den mit jugendlicher Begeifterung empfiehlt. Anknüpfend
an Sulzes Gedanken stellt der Verf. uns die Großftadt-
gemeinden Schottlands — er denkt offenbar fowohl an
die fchottifche Staatskirche wie an die unierte Freikirche
— als Vorbild hin. Nicht nachzuahmen, aber zu
lernen gelte es, vor allem dies, ,daß kleine, lebendige
Gemeinden in der Großftadt nicht, wie der Kleinglaube
meint, unmöglich, fondern möglich find. Und diefe Tatfache
foll uns neuen Mut geben, das Ziel, von dem wir
eine Überwindung der großftädtifchen Nöte erhoffen, auf
deutfchen Wegen zu erreichen'. Diefe Wege find nach
D., ,daß man zunächft einmal die engere Gemeinde, die
fich tatfächlich zur Gemeinde hält, zu einer lebendigen
Gemeinde zufammenzufaffen fucht; und wenn dies, etwa
im Geifte Sulzefcher Gedanken, gefchehen ift, dann an
die Arbeit am entkirchlichten Teil der Gemeinde herangeht
'. Die Organifation der engeren Gemeinde hat überall
im Allgemeinen dreierlei zu leiften: die Gemeinde muß
über ihr eigenes Leben orientiert werden; fie muß fich
2. über ihre eigenen Angelegenheiten äußern können
und fie muß 3. zur Mitarbeit herangezogen werden
Ift dies gefchehen, fo hat die Arbeit an den Unkirchlichen
zu beginnen.

Diefer Gedanke der Organifation der engeren Gemeinde
entfpricht nun nicht — das ift klar — dem
fchottifchen Vorbild: dort find fowohl in der Staatskirche
, wie in der Freikirche die »kleinen' Gemeinden
,Parochialgemeinden', nicht organifierte Gemeindekerne
innerhalb der Parochialgemeinden. Das gibt ihnen an
fich einen anderen Charakter, als diefe letzteren haben
würden. Sie würden eine Organifation innerhalb einer
anderen bilden. Denn ich kann D. doch nur fo ver-
ftehen, daß er wirklich an eine rechtliche Organifation
denkt, die offizielle Geltung hat. Denn dächte er nur an
einen freien Zufammenfchluß der kirchlich Intereffierten,
fo würde fein Gedanke nur ausfprechen, was fich heute
fchon in den meiften Großftadtgemeinden von felbft ein-
ftellt: ein Kern von lebendigen Gemeindegliedern fchart
fich um die Pfarrer, und diefe fuchen fie zu einer Art
Kerntruppe zu entwickeln. Der Gedanke: man führe eine
yerfaffungsmäßige Organifation der engeren Gemeinde ein,
ift rafch ausgefprochen; aber er will doch fehr ernft nach
allen Seiten hin erwogen fein. So einfach, wie es er-
fcheint, ift es nicht. Ich vermiffe, daß D. fich auf diefe
Frage nicht näher eingelaffen hat. Sodann, gerade da,
wo die eigentliche Schwierigkeit beginnt, meinte er abbrechen
zu dürfen. ,Die große Gemeinde der Unkirchlichen
erobern', das gilt es. Er fpeift uns damit ab, zu
lägen, daß ,fich nun hundert Möglichkeiten der fliehenden
Liebe eröffnen, an die Herzen der Menfchen heranzukommen
'. Ift das richtig? Und wenn es richtig ift,
welche von diefen .hundert Möglichkeiten' find denn die
empfehlenswerteften, die dringendften und ficherften?
Auch hier läßt uns D. im Stich. Sein Troft, daß der
Erfolg nicht verfagt bleiben werde, kann uns doch nicht
genügen. Das ganze Problem, um das es fich handelt,
fteht jetzt erft vor uns.

Halle. Paul Drews.

Hinderer, Pfr. A.: Was zur Tat wurde. Bilder aus der
Inneren Miffion in Württemberg. Unter Mitarbeit von
zahlreichen Fachleuten und Kennern der einzelnen
Gebiete hrsg. Stuttgart, Verlag der Evangelifchen
Gefellfchaft (1910). (III, 256 S.) gr. 8° Geb. M. 3.20

Diefes anziehend gefchriebene, reich mit Bildern
gefchmückte und auch fonft trefflich ausgeftattete Buch
macht den Lefer mit einer Reihe bereits heimgegangener
Arbeiter der Inneren Miffion in Württemberg, mit den
verfchiedenen Anftalten der vielverzweigten Liebestätigkeit
in diefem Lande und mit dem Sinne und Geifte, in
welchem dort gearbeitet wird, bekannt. Über den Zweck
diefer Veröffentlichung fpricht fich der Verf. felbft mit
folgenden Worten aus: .Nicht auf Vollftändigkeit und
lückenlofen Überblick über das ganze in Frage kommende
Gebiet oder auch auf erfchöpfende Behandlung einzelner
Arbeitszweige war es (bei Abfaffung des Buches) ab-
gefehen; vielmehr follten anfehauliche, dem Leben entnommene
Schilderungen aus verfchiedenen Feldern der
Arbeit Luft und Liebe zum Werke der Innern Miffion zu
wecken und auch dem einfachen Lefer einen Einblick zu
geben verfuchen in Notftand und Schwierigkeit, Arbeitsweife
und Segen der namhafteften Zweige der Liebestätigkeit
im Lande'. Diefem Zwecke entfprechend ift der
Inhalt des Buches, welches jeder mit Freuden begrüßen
wird, der fich mit dem Studium der Innern Miffion be-
fchäftigt. Es zeigt, wie fein Titel lautet, der fich an ein
Wort Guftav Werners anfchließt, was an geplanter und
gewollter Liebestätigkeit in der evangelifcher Kirche
Württembergs zur Tat geworden ift, und dies muß als
ein Großes bezeichnet werden. — Es liegt außerhalb der
Aufgaben diefer Zeitfchrift, auf den reichen Inhalt diefer
Schrift in feinen Einzelheiten einzugehen, aber wir möchten
es nicht unterlaffen, alle, welche ein Intereffe an dem
Werke der Innern Miffion nehmen, auf das Hinderer'fche
Buch hierdurch aufmerkfam zu machen. Sie werden gewiß
gleich uns eine herzliche Freude an dem haben, was
es bietet und wie es geboten wird.

Göttingen. K. Knoke.

Religion und Sozialismus. Sieben Vorträge, gehalten beim
5. Weltkongreß für Freies Chriftentum und Religiöfen
Fortfehritt, Berlin 1910. Herausgegeben von Lic.
W. Schneemelcher. I.Auflage. Berlin-Schöneberg,
Proteftantifcher Schriftenvertrieb 1910. (72 S.) gr.8°

M. 1.50

Dies wertvolle Heft, ein Ausfchnitt aus den im gleichen
Verlag erfcheinenden Verhandlungen des Weltkongreffes,
umfaßt nach einem guten Vorwort Schneemelchers die
Vorträge von Paftor Elie Gounelle-Paris, welcher den
Standpunkt der franzöfifchen chriftlich fozialen Bewegung
darlegte, mit enthufiaftifcher Frömmigkeit dem Evangelium
zum Sieg im Wirtfchaftsleben zu verhelfen; von Paftor
Bakker-Zwolle, welcher vom fozialdemokratifch-hollän-
difchen Standpunkt aus die Vereinbarkeit des Pfarramts
mit fozialiftifchen Ideen in persona darftellte; von Profeffor
Walter Raufchenbufch-Rochefter, welcher die auf-
ftrebenden fozialen Beftrebungen im gefamten amerika-
nifchen Kirchentum in kurzen Umriffen zeichnete und als
ein Frühlingszeichen kommender Zeit begeiftert und be-
geifternd begrüßte. Den dramatifchen Höhepunkt bildeten
die Ausfprachen von Maurenbrecher und Pfann-
kuche, welche die gegenfätzlichen Pole der deutfchen
Beurteilung fozialer Bewegungen unter chriftlichem Ge-
fichtswinkel bedeuteten. Lic. Naumann führte von diefer
grundfätzlichen Debatte zurück in ein einzelnes Gebiet, das
der religiöfen Diskuffionen mit Sozialiften, und der Unterzeichnete
befchloß den Abend mit einem Ausblick in die
Zukunft der Religion und einer Vertiefung der fozialen
Gegenwartsaufgabe. Die vorliegende Sammlung bedeutet