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Ausgabe:

1911 Nr. 12

Spalte:

375-376

Autor/Hrsg.:

Seeberg, Reinhold

Titel/Untertitel:

Kirche, Gnadenmittel und Gnadengaben 1911

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Seite 1

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375

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 12.

376

Seeberg, Reinhold: Kirche, Gnadenmittel und Gnadengaben.

Vortrag, gehalten auf der Kurmärkifchen Konferenz
in Potsdam am 10. Mai 1910. Berlin, Vaterländifche
Verlags- und Kunftanftalt 1910. (48 S.) 8° M. - 60

Gottes Geift wirkt in den Gedanken der Offenbarung,
wie fie in der Kirche verkündet werden. Er wirkt ein
gefchichtliches Gefamtleben. In diefem Gefamtleben ift
eine innere Einheit gegeben, die ihrem Urfprung ent-
fpricht, und es muß in ihm daher auch äußere Einheit
und Ordnung eingehalten werden. Neben der allgemeinen
Wirkfamkeit des Geithes in Wort und Sakrament weckt
diefer felbe Geift auch in einzelnen Perfönlichkeiten Kräfte
und Gaben, die die alten Charismen der apoftolifchen
Kirche in mannigfachen neuen, unferer Zeit entfprechen-
den Geftalten darftellen. Die Frage, ob es noch Gnadengaben
gibt, ift entfchieden zu bejahen; es find aber Gaben,
deren unfere Zeit bedarf, und fie find nicht geringer und
nicht minder wunderbar als Zungenreden oder Krankenheilungen
. Das Wefen der Charismen ift nicht an eine
finnlich und fichtlich wunderbare Erregung und Wirkung
gebunden, fondern es befteht in der Steigerung der individuellen
Kraft durch die Gemeinfchaft mit Gott zur
Förderung des Gemeindelebens. Solche, noch heute in
der Kirche, freilich in gefchichtlich modifizierter Er-
fcheinungsform wirkfame Gnadengaben find z. B. das
Charisma der theologifchen Genialität, wie es in einem
Auguftin, einem Luther oder einem Schleiermacher wahrnehmbar
ift. Als Träger und Spender folcher Charismen
dürfen wir auch anfehen: die großen bahnbrechenden
Prediger, die Meifter der Apologetik, die Evangeliften,
die Seelforger, die Meifter der Organifation, die Führer
in dem Kampfe mit den verfchuldeten und unverfchul-
deten Nöten des phyfifchen und des pfychifchen, des
individuellen und des fozialen Ruins, die großen Herolde
der äußeren und inneren Miffion; ja felbft für das Zungenreden
dürfte das Kirchenlied und die Kirchenmufik einen
Erfatz liefern, der fchöner und größer ift als das Original
felbft. Alle diefe Gnadengaben führen nicht fort von
den Gnadenmitteln, fondern führen zu ihnen hin. In
diefer Weife dient das befondere Wefen des einzelnen
an der Gnade der Fortpflanzung und Ausbreitung des
allgemeinen Gnadenwirkens.

Diefe Grundgedanken des auf der Kurmärkifchen
Konferenz in Potsdam am 10. Mai 1910 gehaltenen Vortrags
liegen ohne Zweifel in der Konfequenz der pauli-
nifchen Beurteilung der Charismen und entfprechen auch
dem Prinzip, das Luther gelegentlich zum Ausdruck gebracht
hat, als er neben den öffentlichen Gottesdienften
kleinere Kreife gefördeterer Chriften zu gemeinfamer Erbauung
nicht nur duldete, fondern gut hieß. Klar und
beftimmt hat auch S. aus diefer fruchtbaren Löfung des
hier behandelten Problems die Konfequenzen in der
Stellungnahme zu den Gemeinfchaften gezogen. Zu den
von ihm bekämpften Auswüchfen derfelben gehört in
erfter Linie der undisziplinierte Biblizismus, der zum Erweis
des Rechtes bedenklicher Extravaganzen auf die
Äußerlichkeiten der apoftolifchen Zeit zurückweift und
diefe wiederholen will, als wenn fleh je etwas in der Ge-
fchichte einfach wiederholen ließe. Zum Schluffe preift S.
die chriftliche Hausgemeinfchaft als die erfte, nächfte und
notwendigfte Gemeinfchaft, deren das religiöfe Leben
bedarf.

Die in dem Vortrag mit großer Klarheit und Wärme
vertretenen Pofitionen find zugleich prinzipiell fo ent-
fcheidend und praktifch fo wertvoll, daß der Lefer das
bange Gefühl fchnell los wird, das ihn am Anfang betrat,
als der Verfaffer, der in feinen Ausführungen den Boden
der Gefchichte niemals verläßt, ihn auf die fchwindelnden
Höhen der Spekulation fortriß: ,In dem ewigen Geiftwillen
präexiftiert im Himmel alle wirkfame Kraft, die Fülle von
Perfonen und Kräften, die im Verlauf der Gefchichte die
Kirche bilden... Der heilige Geift im Himmel als wirkfamer

göttlicher Wille faßt in fleh eine gegliederte präexiftente
Gemeinde der Chriftusgläubigen' (S. 4. 5). Es muß dankbar
anerkannt werden, daß die Viflon jener präexiftenten
Größen den Blick des Hiftorikers nicht getrübt noch ihn
verhindert hat, über die Charismen Urteile auszufprechen,
die aus dem evangelifchen Verftändnis des Chriftentums
abgeleitet und auf das Leben der Gegenwart angewendet
worden find.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Die Kirche im Gerichte ihrer Gegner. Vier Vorträge, gehalten
in Frankfurt am Main. Frankfurt a. M., M. Diefterweg
1911. (119 S.) 8° M. 1.60; geb. M. 2.40

1. Unwahrhaftig? Von Oberlehr. H. Schufter. —■ 2. Uufozial?
Von Pfr. D. E. Foerfter. — 3. Unnatürlich? Von Senior Prof.
D. W. Borne mann. — 4. Irreligiös? Von Pfr. W. Veit.

Die vier Frankfurter Theologen, die fchon dreimal
zu gemeinfamer Vortragsreihe fleh verbunden hatten,
haben 1910 als viertes Generalthema die Angriffe gegen
die Kirche behandelt. Wenn fie die Anklagen auf
Unwahrhaftigkeit (H. Schufter), unfoziale Gefinnung
(E. Foerfter), Unnatürlichkeit (W. Bornemann) und Irreli-
giofität (W. Veit) befprachen, fo haben fie damit zwar
nicht alle, fleher aber die gewichtigften Anklagen beleuchtet
; und die meiften anderen landläufigen Vorwürfe
konnten dabei mit berührt werden. Alle Redner verfahren
fo, daß fie die etwa in den Befchuldigungen
fteckenden Wahrheitsmomente mit großer Objektivität
rundweg zugeben, manchmal an Einzelpunkten noch ein
Plus von Kritik hinzufügen, dann aber in ernfthafter fachlicher
Auseinanderfetzung Gerechtigkeit für die Motive
des kirchlichen Handelns fordern, das Licht dem Schatten
gegenüberftellen, die Notwendigkeit der Kirche zeigen und
zu gemeinfamer Arbeit an der Abftellung der Schäden
auffordern. Sämtliche Ausführungen bleiben einer Hörer-
fchaft, die für folche Fragen überhaupt Sinn hat, ver-
ftändlich; im einzelnen ftellt Foerfter mit tiefergreifenden
fozialwiffenfchaftlichen Darlegungen etwas ftärkere Anforderungen
an die Aufnahmefähigkeit als die anderen;
Bornemann hat, wo er der Behauptung begegnet, daß
die kirchliche Art unnatürlich fei, weil fie nicht dem aufrichtigen
Gefühl, dem natürlichen Takt entfpreche, be-
fonders populär gefprochen; wo er über die Wertung der
Natur durch die Kirche handelt und der im flachen Sinn
fich natürlich nennenden Sittlichkeit — fehr gut! — die
Wahrheit fagt, mußte auch er dem Hörer prinzipiellere
Sätze zumuten. Schufter wird fehr wirkfam, wo er Pfarrer
und Kirchenmänner gegen den Vorwurf der Lüge und
der Heuchelei in Schutz nimmt; er fpricht es als feine
Überzeugung aus, daß fie, ,und unter ihnen gerade die
beftgehaßten, die Orthodoxen, im ganzen durchaus von
fubjektiver Ehrlichkeit erfüllt und geleitet find' (S. 12).
Veit unterfcheidet hinfichtlich der Irreligiofität klar und
fcharf eine dreifache Kritik: die des religiöfen Enthufias-
mus, die des Methodismus, die des religiöfen Individualismus
. Von Gegnern, die befonders reichlich zu Wort
kommen, feien Max Nordau (bei Bornemann) und Kierkegaard
(bei Veit) erwähnt. Auf die zugrunde liegenden,
ausgefprochenen oder nur angedeuteten eigenen An-
fchauungen der Verfaffer, kann hier nicht näher eingegangen
werden; ihre Pofition ift im allgemeinen die
der modernen Theologie; im einzelnen würden auch
moderne Theologen wohl hier und da anders formulieren,
z. B. bei der Beftimmung des Wefens der evangelifchen
Wahrheit (S. 25). Doch das ift im Zufammenhang diefer
Vorträge nebenfächlich. Die Sammlung bedeutet auf alle
Fälle eine fchöne, fehr zu begrüßende Förderung der in
dem Vorwort ausgefprochenen Überzeugung: ,Die Kirche
ift aus innerer Notwendigkeit erwachfen, aus zwingenden
Bedürfniffen des frommen Fühlens; auch trägt fie in fich
ein viel zu großes Erbe echtefter, bleibend wertvoller