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Ausgabe:

1911 Nr. 12

Spalte:

373-374

Autor/Hrsg.:

Dannemann, Friedrich

Titel/Untertitel:

Die Naturwissenschaften in ihrer Entwicklung und in ihrem Zusammenhange dargestellt. 1. Bd 1911

Rezensent:

Beth, Karl

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Seite 1

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373

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 12.

374

Leben gehabt hat, als man ihm gewöhnlich zutraut. Daß
er Galanterie gegen Frauen zu üben verftand, geht keineswegs
bloß laus Siefen fünf Briefen hervor, fondern auch
aus anderen Tatfachen, die der Verfaffer zum Teil anführt
, zum Beifpiel eine Geburtstagsgratulation an die
Schwäbin Friderike Robert. Sodann gibt der Verfaffer
einiges aus Hegels Berliner Zeit. Über feinen Befuch in
Dresden bei Karl Förfter, der unter anderem bemerkt,
daß Hegel bei aller Dialektik viel warmen, regen Sinn
für Kunft und Leben zeige, insbefondere aber fich für das
Technifche intereffiere, und über dem Analyfieren des
Kunftwerkes den Eindruck des Ganzen verliere. Dann
ift ein Brief da an Varnhagen von Enfe, in dem Hegel
Angriffe Alexander von Humboldts als auf einem Mißverständnis
beruhend in freundfchaftlicher Weife ablehnt.
Es find dann noch ein paar kleine Notizen angefügt, zum
Beifpiel über das Gleichnis von Kreuz und Rofe, das er
in Anlehnung an das Symbol der Rofenkreuzer gebraucht
haben foll. Zum Schluß fei mir noch die Frage geftattet,
ob die biographifche Einzelforfchung fich nicht in Gefahr
befindet, über einer Fülle von Einzelbeobachtungen den
Blick von dem großen Gedankenzufammenhang abzulenken
, der doch immer für den Philofophen das Charak-
teriftifche bleibt, ob man fo nicht in die Philifterei zu
verfallen droht, über die Goethe mehrfach in den Ge-
fprächen mit Eckermann klagt (II, 28 I, 189). Wer freilich
der Meinung ift, daß die philofophifche Weltanschauung
wefentlich durch die individuelle Perfönlichkeit und ihre
Erlebniffe beftimmt fei, der wird auch ein größeres In-
tereffe für die minutiöfe Erforfchung des Lebens, als für
das richtige Verftändnis der philofophifchen Ideen haben.

Königsberg i. Pr. Dorner.

Dannemann, Friedrich: Die Naturwiffenichaften in ihrer
Entwicklung und in ihrem Zufammenhange dargeftellt.
Erfter Band: Von den Anfängen bis zum Wiederaufleben
der Wiffenfchaften. Mit 50 Abbildungen im
Text und mit einem Bildnis von Ariftoteles. Leipzig,
W. Engelmann 1910. (VII, 373 S.) gr. 8° M. 9 —

Ein Beweis, daß der in neuerer Zeit mehr denn
früher gegen die Naturwiffenfchaften oder gegen einige
ihrer Zweigdifziplinen erhobene Vorwurf dogmatifcher
Einfeitigkeit nicht ungehört verhallt, und daß die Vertreter
diefer Wiffenfchaft felbft fich der Hemmungen eines
zuweilen drohenden Dogmatismus bewußt werden, ift das
rege gewordene Bemühen der Naturwiffenfchaften um
das Verftändnis ihrer Gefchichte. Je lebhafter eine Wiffenfchaft
die Gefahr des Dogmatismus verfpürt und je
bereitwilliger fie ift, fich gegen diefelbe zu Schützen, um
So entfchloffener und umfichtiger pflegt fie ihre eigene
Gefchichte. Unter diefem Gefichtspunkt neben anderen
will die Tatfache betrachtet fein, daß die Entwicklung
des Naturerkennens in den letzten Jahren eine Reihe
von Darftellungen erhalten hat. So verfaßten für Paul
Schlenthers ,Das neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands

Entwicklung' Siegfried Günther die .Gefchichte der an- einzelnen Auffätzen zusammengearbeitet; manches wird

pragmatische Gefamtgefchichte diefer Wiffenfchaften zu
bieten, indem er ,die Haupttatfachen' aus der Entwicklung
des naturwiffenfchaftlichen Sinnes hervorhebt. Ent-
fprechend dem Umftande, daß auf dem Gebiete der
Naturwiffenfchaften erft fpät das Bedürfnis nach geschichtlicher
Orientierung über das eigene Wefen und Ziel
empfunden ift und diefe GefchichtsSchreibung zu den
jüngften Zweigen hiftorifcher Forfchung gehört, ift von
dem vorliegenden Buche eine gleichmäßige Vollständigkeit
und Genauigkeit in den einzelnen Abfchnitten und
für alle einzelnen Difziplinen nicht zu erwarten. Jedoch
dürfte dem Verf. das, was er fich als Ziel gefetzt hat,
zur Klarheit emporzuarbeiten, im wefentlichen gelungen
fein. Vor allem find nicht einzelne lofe aneinander gefügte
Baufteine vorgelegt, fondern D. hat es verstanden,
Beziehungen aufzudecken, durch welche die einzelnen
Gebiete in ihrem Werdegange fich gegenfeitig beeinflußt
haben, und befonders wichtig ift, wie er die Bedeutung
der Ausbildung des mathematischen Denkens für den
Fortgang der Naturerkenntnis zur Anfchauung bringt.
Gerade dies Zufammengehen von Mathematik und Natur-
finn kommt für das erfte nachweisbare Entstehen eines
methodifchen Naturbegreifens bei Ägyptern und Baby-
loniern, dann bei Indern und anderen afiatifchen Völkern,
und dann wieder bei den Griechen in Betracht. Von
hier führt uns diefer Band des Werkes über die italifche,
die beiden alexandrinifchen und die mittelalterliche
Periode bis zur Neubegründung der experimentellen,
organifchen und anorganifchen Wiffenfchaften auf dem
von der Renaiffance geebneten Boden. Diefer in 14 Kapiteln
abgehandelte Stoff, der der angedeuteten Abficht
gemäß — um das jeweilige Ineinandergreifen der verschiedenen
Erkenntnisgebiete zu veranschaulichen —
nach wiffenfchaftlichen Zeitaltern geordnet ift, wird auch
durch 50 Abbildungen, zum Teil Wiedergaben aus alten
Originalwerken, illuftriert. Wenn ich auch nicht behaupten
will, daß jede einzelne Darstellung vor dem
Gutachten des Spezialforfchers Standhält, wenn vielmehr
feftzuftellen ift, daß manche Gegenstände wie z. B. die
Entwicklung der Anfchauungen über die Erdgeftalt, das
Verhältnis der Araber zu Ariftoteles genauerer Darlegung
bedürftig find, die alten Kosmogonien hingegen
entweder hätten gänzlich verfchwiegen oder wirklich in
ihrer Bedeutung für das Naturerkennen — ähnlich etwa
wie es mit der Alchemie gefchehen ift — veranschlagt
werden müffen: fo kann doch das Gefamturteil nicht
beeinträchtigt werden, daß hier zum erften Male auf
Grund umfaffender und relativ Sicherer Stoftbeherrfchung
eine Gefchichte des menfchlichen Naturerkennens dargeboten
ift, die das fachlich Wefentliche der Fortfehritte
refp. der rückläufigen Bewegungen in lebendigem wechfel-
feitigen Konnex erfcheinen läßt. Andrerfeits darf auch
nicht verfchwiegen werden, daß gelegentliche Ungenauig-
keiten nicht fehlen (z. B. S. 100 findet fich die Bemerkung,
das Problem der Urzeugung fei in der neueften Zeit
.gelöft'), und daß das Buch nicht ganz einheitlich gearbeitet
ift. Man gewinnt oft den Eindruck, es fei aus

organifchen Naturwiffenfchaften' (1901) und Franz Carl

wiederholt ohne Hinweis auf die frühere faft wörtlich

Müller die .Gefchichte der organifchen Naturwiffenfchaften' ! übereinstimmende Ausführung desfelben Punktes (z.B.
'1902) inkl. der Medizin; und der erftere von beiden hat 1 Hippokrates' Bedeutung für die Mathematik S. 68f. u. 119,

fich zudem bei Reclam an zwei Bändchen eines kurzen
Abriffes der Gefchichte der gefamten Naturwiffenfchaften

das Exhauftionsverfahren zur Kreisquadratur S. 65 u. 123,
der Urfprung mittelalterlicher Goldmacherei S. 55 u. 207).

verflicht. Einzelzweige wie Biologie, Atomiftik ufw. haben j Und ebenfo wenig Scheint das Niveau des Leferkreifes
zudem durch Radi, Laßwitz u. a. ihre hiftorifche Dar- einheitlich gedacht zu fein.

Stellung gefunden. Jedes diefer Werke hat fein eigen- -00: r tu

tümliches Gepräge und feinen befonderen Wert. Das ift ßeth.
auch bei dem vorliegenden Buche der Fall, welches als
erfter Band einer auf vier Bände berechneten Gefchichte
der gefamten Nuturwiffenfchaften erfchienen ift. Dannemann
, der Schon einen zweibändigen, für weite Kreife
bestimmten .Grundriß der Gefchichte der Naturwiffenfchaften
' herausgegeben, Stellt fich jetzt die Aufgabe, eine