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Ausgabe:

1911

Spalte:

369-370

Autor/Hrsg.:

Kahl, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Der Rechtsinhalt des Konkordienbuchs 1911

Rezensent:

Tschackert, Paul

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Seite 1

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369

37o

Obrigkeit geworden feien. An diefem Punkte letzt die
foeben erfchienene Abhandlung von Karl Holl, Luther
und das landesherrliche Kirchenregiment, Tübingen 1911,
ein und fucht gegen Müller nachzuweifen, daß doch
zwifchen Luthers Auffaffung und der des Kurfürften ein
deutlicher Unterfchied zu beobachten fei. Luther trage
diefe landesherrliche Ordnung doch nur als einen Notbehelf
und als ein Proviforium. Holl nimmt die Bezeichnung
des Kurfürften als eines Notbifchofs viel gewichtiger,
als Müller es will, und hebt hervor, daß Luthers häufige
Benennung der Vifitatoren als der ,Archiepiscopi' dem
Intereffe entfpringe, ihre Selbftändigkeit der landesherrlichen
Gewalt gegenüber zu betonen. Luther verteidige
in jenem Vifitationsunterricht in deutlicher Unter-
fcheidung von den Intentionen des Kurfürften die
,Eigenftändigkeit der Kirche' der weltlichen Obrigkeit
gegenüber. Es find das Einwendungen gegen Müllers
Auffaffung, die jedenfalls zu genauer Nachprüfung herausfordern
. Zu Müllers Darfteilung auf S. 73, wo er Sohms
Behauptung von der nur .ftoßweifen und vorübergehenden'
Art der Vifitationskommiffionen anerkennt und dann S. 74
vom Superintendentenamt als der ftfindigen Vifitation
fpricht, möchte ich doch hervorheben, daß ja, wie bekannt,
die Vifitatoren keineswegs nur bei ihren Vifitationsreifen
in Tätigkeit traten, fondern daß fie auch außerhalb der-
felben als eine Händige landeskirchliche Behörde fungierten
. Wir haben viele Schriftftücke Luthers und feiner
Wittenberger Kollegen, die fich als Korrefpondenzen
einer Behörde fchon äußerlich dadurch von feinen Briefen
abheben, daß fie ftets vom Vifitationsfchreiber gefchrieben
find und nicht mit den Namen der Theologen unterzeichnet
find, fondern ftatt deffen ihre Siegel als Beglaubigung
tragen; das find ihre Korrefpondenzen als
Händige Vifitationskommiffion. Namentlich die Fürforgefür
die Befetzung der Pfarrftellen gehört fortgefetzt zu ihrer
amtlichen Aufgabe. Finden auch die Vifitationen felbft
nur ftoßweife ftatt, ihren Beruf als Vifitatoren tragen fie
als einen Händigen an fich.

Wie Holls eben erfchienene Schrift zeigt, kommen
die Fragen, die Müllers Abhandlung behandelt, noch
nicht zur endgültigen Erledigung. Müller hebt ja hervor,
wie die große Veränderung der Verhältniffe in den erften
Jahren der Reformation auch eine große Beweglichkeit der
Gedanken Luthers hervorrief. Daß er dabei feiner Grund-
anfchauung über die Art geiftlichen Regimentes und über
die Schranken des Rechtes der weltlichen Obrigkeit ftets
treu geblieben ift, ftellt auch Müllers Arbeit aufs Neue
ins Licht. Gleichwohl bietet die Interpretation der zahl-
lofen Äußerungen Luthers manche Schwierigkeit, und
auch hier werden wir daran erinnert, wie wenig er Syfte-
matiker war. Mancher feiner Ausdrücke fügt fich fchwer
in einen klaren Aufbau feiner Gedanken hinein. Einen
bedeutenden Beitrag zur Klärung hat uns Müller jedenfalls
mit feiner fcharffinnigen, grade auch in der Interpretation
des Einzelnen förderlichen Arbeit geliefert.

Berlin. G. Kawerau.

Kahl, Wilhelm: Der Rechtsinhalt des Konkordienbuchs.

Sonder-Abdruck aus der Feftgabe der Berliner
juriftifchen Fakultät für Otto Gierke zum Doktorjubiläum
21. Auguft 1910. Breslau, M. & H. Marcus
1910. (II, 47 S.) gr. 8» M. 1.50

Der Verfaffer gibt uns in diefer ftreng wiffenfchaft-
lichen Abhandlung eine zufammenfaffende Darfteilung
des gefamten Rechtsinhaltes der lutherifchen Bekennt-
nisfchriften. Er gruppiert ihn unter fechs Gefichtspunkten:
I. Das Verhältnis der fymbolifchen Schriften der lutherifchen
Kirche zum kanonifchen Recht; II. Weltliches Regiment
und geiftliche Gewalt; III. Grundlagen evangelifcher
Kirchenverfaffung; IV. Kirchenzucht; V. Ehe; VI. Jus
divinum. Prinzipiell urteilt der Verfaffer fo, daß die

rechtlichen Beftimmungen der Symbole nicht Rechtsfätze,
fondern Rechtsgrundfätze find. ,Als folche hatten fie
inftruktionelle Natur für die landeskirchliche Gefetzgebung
und haben fie noch gegenwärtig normative Bedeutung.'
Es kann fich natürlich in diefer Abhandlung nicht darum
handeln, aus dem Konkordienbuche unbekannte Dinge
herauszuholen; denn das, was der Verfaffer bietet, ift in
der Hauptfache dem Kenner der lutherifchen Konfeffions-
fchriften bekannt; aber für die einheitliche Zufammen-
faffung der vielen in Betracht kommenden Stellen unter
beftimmten Gefichtspunkten wird man dem Verfaffer
aufrichtig dankbar fein. Er bietet uns reiche Belehrung;
denn er kennt die Symbole gründlich und fchätzt fie
richtig ein. Ein Arbeit von außerordentlicher Mühe und
Sorgfalt ift gleich der erfte Abfchnitt über das Verhältnis
zum kanonifchen Recht. Hier werden alle
Zitate aus dem kanonifchen Rechte im Konkordienbuche
zufammengeftellt, über den Kirchenbegriff, das Papfttum,
die bifchöfliche Gewalt, Sakramente, Buße und Traditiones
humanae. Eine folche Zufammenftellung hatten wir bisher
nicht. Ebenfo dankenswert ift der Schlußabfchnitt
I über das Jus divinum. Auch das Konkordienbuch kennt
ein Jus divinum, begründet es aber anders als die
I römifche Kirche: Jus divinum ift alles, was fich unmittel-
1 bar auf das Evangelium gründet, alfo dadurch Gottes unwandelbaren
Willen bezeugt. Diefer Abfchnitt ift fehr
lehrreich und befonders zu beachten, weil er in den
theologifchen Lehrbüchern der Symbolik meift ignoriert
wird. — Der Verfaffer benutzt die fymbolifchen Schriften
nach dem lateinifchen Texte des Jahres 1584. Aber rein
hiftorifch wird man doch Bedenken haben, Schriften, die
original deutfch gefchrieben find, in Überfetzungen zu
gebrauchen. Original deutfch find die beiden Katechismen
Luthers, die Schmalkaldifchen Artikel und die Kon-
kordienformel. Auch die Augsburgifche Konfeffion ift
in deutfcher Sprache Beftandteil der Reichtagsakten, und
ihr deutfcher Text ift gut verbürgt, wie ich in meiner
kritifchen Ausgabe Leipzig 1900, ihn dargeboten habe.
Als original lateinifch kommen nur Melanchthons Apolome
der Augsb. Konfeffion und fein Traktat de poteftate^et
primatu papae von 1537 in Betracht.

Göttingen. P. Tfchackert.

Heiner, Audit, apoft. Protonot, päpftl. Hauspräl. Dr. Franz:
Die Maßregeln Pius X. gegen den Modernismus nach der
Enzyklika Pascendi vom 8. Sept. 1907 in Verbindung
mit dem Motu proprio vom 1. Sept. 1910 verteidigt
und erläutert. 1.—3. Taufend. Paderborn, Bonifacius-
Druckerei 1910. (VII, 100 S.) gr. 8° M. 1.50

Man wird in diefer Schrift des ,Auditors der römifchen
Rota, apoftolifchen Protonotars und päpftlichen Hausprälaten
' — die Würden flehen alle auf dem Titelblatt —
den offiziöfen Kommentar zu den antimoderniftifchen Maßnahmen
des gegenwärtig regierenden Papftes erblicken
dürfen. Das macht fie intereffant und auch in gewiffem
Sinne wertvoll; nicht nur, daß einzelne Stellen der Enzyklika
Pascendi ihre Interpretation erhalten, es wird vor
allem der Geift des Ganzen klar herausgearbeitet. H. fucht
zunächft klar zu machen, warum dem Modernismus gegenüber
die kirchliche Lehrgewalt eingreifen mußte, es be-
ftand für den Katholizismus eine wirkliche Gefahr feitens
des,Agnoftizismus' und der ,vitalen Immanenz', der beiden
Grundfäulen des Modernismus, die H. genaueftens erklärt.
Nicht immer ganz gerecht, wie das übrigens die Enzyklika
felbft auch nicht getan hat. So kann z. B. der moderni-
ftifchen Gefchichtsfchreibung nicht sans phrase vorgeworfen
werden, daß ihre hiftorifchen Ergebniffe ,von
vornherein von der Philofophie diktiert' feien, es fei denn,
daß man die allgemeine hiftorifche Methode als Philofophie
betrachten will, was ja nicht ganz unrichtig ift (vgl. G.
Simmel: Hauptprobleme der Gefchichtsphilofophie). Darum