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Ausgabe:

1911

Spalte:

343-344

Autor/Hrsg.:

Rust, Hans

Titel/Untertitel:

Gustav Claß‘ Philosophie in systematischer Darstellung, nebst einem Versuche ihrer Weiterbildung 1911

Rezensent:

Scholz, Heinrich

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Seite 1

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343

Theologffche Literaturzeitung 1911 Nr. II.

344

gefelligen Kreife hat er feine Studenten zu hochfinnigem
Streben angefeuert. Es ift rührend zu fehen, wie er fich
der Lehrerfchaft in ihren Konferenzen annahm, und die
fchier endlofe Reihe von Vorträgen, die er im Kauf-
männifchen Verein hielt, aufgezählt zu lefen. Keiner
Wohltätigkeitsarbeit, die nach ihm die Hände ausftreckte,
ift er fremd geblieben. Aber feine Liebe war der Guftav-
Adolphverein, deffen ökumenifcher Charakter feiner alle
evangelifchen Kirchen mit gleicher Liebe umfaffenden
Seele befonders entfprach. In Schleswig-Holftein hat er
den fchon erlofchenen Eifer für diefe Arbeit zur hellen
Flamme angefacht; und in Leipzig hat er Jahrzehnte lang
an der Spitze des Vereins geftanden, deffen Gefchichte
unauflöslich mit feiner Perfon verknüpft ift. Daß er
bei fo umfaffender Tätigkeit keine Zeit übrig behielt für
größere fchriftftellerifche Arbeiten, wird niemand wundern.
Einige feinfinnige exegetifche Arbeiten aus Programmen
find nachher erfchienen; und wer die Skizze feiner
Vorlefung über Dogmatik lieft, die ein dankbarer
Schüler dem Buche einverleibt hat, wird zugeben, daß er
auch auf diefem Gebiete namhaftes hätte leiften können.
Viele feiner Predigten find gedruckt oder in Sammlungen
erfchienen, welche die homiletifchen Grundfätze,
die er in den Kreifen von Kandidaten und jüngeren
Geiftlichen entwickelte, muftergiltig veranfchaulichen. In
den mannigfaltigften Kreifen feines Wirkens fühlte man
es ab, daß es ihm immer nur auf die Sache ankam,
nie auf die Perfon, am wenigften auf die eigene. Dennoch
hat es ihm an Anerkennung, an Liebe und Dank
für feine Lebensarbeit nicht gefehlt. Ich möchte glauben,
daß er einen Feind nicht gehabt hat.

Die Biographie ift von feinem Schwiegerfohn ge-
fchrieben. Man begreift die Zurückhaltung, mit welcher
der Sohn nicht der Lobredner des Vaters werden wollte;
aber manchmal vermißt man doch den wärmeren Ton,
der gerade diefem Leben gegenüber am Platze gewefen
wäre; das Buch ift, wie der Verfaffer felbft fagt, rein
aktenmäßig gearbeitet. Nur die zweite Epoche der
Leipziger Wirkfamkeit Frickes hat er andern Händen anvertraut
, wo jede Seite derfelben ihren begeifterten Lobredner
gefunden hat von folchen, die ihm im Leben
näher getreten find. Ein Zweites, was man vermißt, ift
die Zeichnung des Kreifes, in dem Fricke, der die Ge-
felligkeit liebte, gelebt hat, ein Hintergrund feiner Geftalt,
der doch auch auf die Perfon felbft fein Licht wirft. Vor
allem vermißt man neben ihr die Geftalt der Frau, deren
hohe wirtfchaftliche Begabung mit unermüdlichem Eifer
und mütterlicher Fürforge nicht nur in dem reichen
Kinderkreife, fondern auch über denen waltete, die dort
gaftliche Aufnahme fanden. Denn fie hat allezeit mit
offener Empfänglichkeit, ja mit Begeifterung die reichen
geiftigen Intereffen des Mannes geteilt. So mögen denn
diefe kurzen Pinfelftriche aus eigenfter Lebenserfahrung
ergänzen, was die Diskretion des Schwiegerfohnes ver-
fchwieg.

Berlin. B. Weiß.

Ruft, Dr. Hans: Guftav Claß' Philorophie in fyftematifcher
Darftellung, nebft einem Verfuche ihrer Weiterbildung.
(Abhandlungen zur Philofophie u. ihrer Gefchichte.
Heft 10.) Leipzig, Quelle & Meyer 1909. (III, 101 S.)
gr. 8° M. 3 —

Der feine, vornehm-perfönliche Denker, der hier im
Bilde vor uns tritt, Guftav Claß, Profeffor der Philofophie
in Erlangen (1836—1908), war durch den Einfluß
der Brüdergemeine für die Erforfchung der inneren Welt,
durch eine gründliche Vertiefung in Leibniz, Kant, Schleiermacher
und Hegel für ein lebendiges Gefühl der Probleme
und prüfend-durchgedachte Begriffe, endlich, durch Natur
und Begabung, zu Leiftungen eigener Kraft berufen. Er
hat fie in drei Hauptwerken niedergelegt: Ideale und Güter,

Unterfuchungen zur Ethik 1886, Unterfuchungen zur Phänomenologie
und Ontologie des menfchlichen Geiftes 1896
und Die Realität der Gottesidee 1904. Durch diefe drei
bedeutenden Schriften hat der wenig beachtete Denker
fleh mit befonnener Energie in die vorderen Reihen derer
geftellt, die eine Wiedergeburt des religiöfen Idealismus auf
gefchichtsphilofophifch-kritifcher Bafis erftreben. Er gehört
in die Linie Eucken—Troeltfch, auf der er jedoch felbftändig-
eigene, vielleicht noch nicht hinreichend gewürdigte Poli-
tionen erarbeitet hat. Eine eigentliche Religionsphilofophie
hat er nicht gefchrieben, aber wertvolle Prolegomena, die
tief in die Sache felbft hineinführen.

Wichtig und wertvoll erfcheint mir vor allem, im
Einklang mit dem Referenten, der in dem zweiten Hauptwerk
gelieferte Entwurf einer Pneumatologie, d. i. einer
Analytik des naturüberlegenen, zeitlich-zeitlos fchaffenden
Geiftes, der der Schöpfungsgeift der Gefchichte ift. Hier
tritt uns die gediegene Behandlung der Frage, die heute
wieder fo brennend geworden ift, nach der Beziehung
und WechfelWirkung von Idee und Perfon im hiftorifchen
Kosmos, befonders eindrucksvoll entgegen. Claß fucht,
wie fein Darfteller treffend zeigt (S. 51 f.), ein auf felb-
ftändiger Prinzipienbildung ruhendes Gleichgewicht der
Kräfte, welches der tieferen Erfahrung entfpricht, ohne
fie einfeitig zu belaften. Er kennt die Hegelfche Idee und
räumt ihr fogar den Vortritt ein, aber nicht als logifchem
Triebmechanismus, fondern in der geläuterten Form des
Ideals als der überlegenen Synthefe, in welcher Gedanken,
Vorftellungen und Gefühle als verbundene Richtkräfte
wirkfam werden. Zum Wefen erwacht die Idee in Perfonen,
nicht fo, daß diefe nur Handlanger find, wie bei Hegel,
auch nicht fo, daß die Idee in ihnen verfchwindet, wie es
am Ende bei Carlyle herauskommt, fondern fo, daß die
Perfonen als die zwar gänzlich unberechenbaren, aber
durchaus nicht tumultuarifchen, fondern aus dem Gehor-
fam gegen die Sache entbundenen Konkretifierungen der
höher liegenden Ideale verftanden werden.

Aus der philofophifchen Theologie, zu der die .Realität
der Gottesidee' die Umriffe und Grundlinien geliefert
hat, ift befonders hervorzuheben die Ergänzung des kate-
gorifchen Imperativs durch den kategorifchen Indikativ.
Unter dem kategorifchen Indikativ verlieht Claß das eigen-
tümlichfte und ergreifendfte Erlebnis höher organifierter
Naturen: die transfzendente Zufage ,es wird gehen', wenn
wir vor fchwerfte Forderungen geftellt find (S. 40f.). Daß
hier eine wertvollfte Beobachtung vorliegt, die weiter ausgebaut
werden müßte, fcheint mir nicht zweifelhaft zu
fein. Ich folge auch hier dem Referenten, deffen ver-
ftändnisvoll-kritifche Darfteilung überhaupt fehr gut dazu
dienen kann, dem nicht nach Gebühr gewürdigten Denker
Freunde und Förderer zu gewinnen.

Berlin Heinrich Scholz.

Hinderlin, Friedrich von: Die Lehre vom All. Philofophifch-
religiöfe Betrachtungen. Leipzig, O. Wigand (1911).
(127 S.) gr. 8" M. 3 —

Der Verfaffer läßt uns an feiner Hand eine Wanderung
durch den Tempel der Erkenntnis unternehmen.
In der Vorhalle, die griechifch-römifche Formen zeigt (!),
wird die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis ge-
löft (S. 5—27). TJnfre Erkenntnis liegt in einer dreifachen
Feffel: Raum, Zeit und Dualismus des Denkens. Raum
und Zeit wurden von dem fcharffinnigen Kant als Formen
unfers Denkens (!) erwiefen. Weil wir an Zeit und Raum
gebunden find, können wir uns nicht zu den Begriffen
der Ewigkeit und Unendlichkeit des Seins, die in Wahrheit
identifch find, auffchwingen (!). Unter der dritten
Feffel, dem Dualismus, bzw. Pluralismus, der Begriffe,
verlieht der Autor den Umftand, daß wir genötigt find,
die Plrfcheinungen unter allerhand, und zwar mindeftens
zwei, bisweilen aber noch viel mehr Begriffe, als da find:
groß und klein, dünn und dick (!), zu ordnen, Begriffe,