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Ausgabe:

1911 Nr. 10

Spalte:

307-308

Autor/Hrsg.:

Schultz, Julius

Titel/Untertitel:

Die Maschinen-Theorie des Lebens 1911

Rezensent:

Wobbermin, Georg

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307

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 10.

308

Schultzjulius: Die Mafchinen-Theoriedes Lebens. Göttingen,
Vandenhoeck&Ruprecht 1909. (IV,258S.) gr.8° M6.40

Der Verfaffer der hier zu befprechenden Arbeit hat
fich dem philofophifch intereffierten Publikum bereits durch
eine Anzahl früherer Publikationen bekannt gemacht.
Unter diefen find befonders ,Die Bilder von der Materie'
(1905) und ,Die drei Welten der Erkenntnistheorie'(1907)
hervorzuheben. Beide Bücher kennzeichneten den Verfaffer
als einen höchft gelehrten und fehr fcharffinnigen, aber
auch als einen recht eigenfinnigen Denker. Und alle diefe
Eigenfchaften bewährt er auch in dem neuen Buch. Es
berührt fich mit den früheren, zumal mit demjenigen über
,Die drei Welten der Erkenntnistheorie' aufs engfte. Ja
die Lehre des Verfaffers von diefen drei Welten der
Erkenntnistheorie ift geradezu das tragende Fundament
der .Mafchinen-Theorie des Lebens'. Die ,dritte' Welt
der Erkenntnistheorie, die im ,Erlebnis des Erlebens felber'
beftehen foll, bleibt hier allerdings — glücklicherweife —
aus dem Spiel. Nur das Verhältnis der beiden erften
,Welten' zu einander kommt in Betracht, ift aber auch
für die Gefamtpofition des Verfaffers ausfchlaggebend.
Während ihm nämlich die erfte Welt der Erkenntnistheorie
die empirifche Welt der wiffenfchaftlichen Forfchung ift,
gewinnt er feine zweite Welt durch Poftulierung eines nurquantitativen
Kosmos der Reize, der behufs völligen Ver-
ftehens den Phänomenen zu Grunde liegend zu denken
fei. Nun ift aber diefe letztgenannte Annahme in diefer
Formulierung und Ausdehnung nicht mehr eine wirklich
erkenntnistheoretifche, fondern eine folche fpekulativ-meta-
phyfifchen Charakters. Und fo beruht denn auch des
Verfaffers konfequent durchgeführte Mafchinen-Theorie
des Lebens auf diefer ihm im Voraus feftftehenden petitio
principii. Ein wirklich kritifches Denken wird nur eine
Welt der Erkenntnistheorie anerkennen, die Welt des em-
pirifchen Erkennens, neben der dann freilich voller Raum
für die auf das religiöfe Erlebnis zu gründende Welt des
Glaubens bleibt.

Trotz diefes fundamentalen Bedenkens gegen das
Gefamtunternehmen des Verfaffers ift gleichwohl die Einzeldurchführung
infolge feiner umfaffenden Gelehrfamkeit und
feines nicht gewöhnlichen Scharffinns vielfach lehrreich
und bietet befonders in der Auseinanderfetzung mit den
verfchiedenartigften biologiichen Theorien manche Wahrheitsmomente
. Für den Theologen ift die Auseinanderfetzung
mit der Pofition von Hans Driefch befonders wichtig,
da ja diefe von Rudolf Otto in feinem bekannten Buch
,Naturaliftifche und religiöfe Weltanficht' übernommen ift.
Daß Driefch — und ebenfo dann Otto — in der Bekämpfung
und Ablehnung der Mafchinen-Theorie im Sinne der Ver-
gleichung der Lebensvorgänge mit den Struktur- und
Funktions-Verhältniffen der Mafchinen über das (an fich
freilich fehr berechtigte) Ziel hinausfchießen, ift mir nie
zweifelhaft gewefen; und bei Driefch wird es gerade in
feiner neueften zufammenfaffenden Publikation, der ,Philo-
fophie des Organifchen' (die Schultz noch nicht heranziehen
konnte) deutlich.

Ein folcher Vergleich ift und bleibt berechtigt, freilich
nicht um das Verftändnis der Lebenserfcheinungen abzu-
fchließen, wohl aber um es vorzubereiten. Auch zum Verftändnis
der Mafchine bedarf es bereits einer teleologifchen
Betrachtung und Beurteilung und zwar einer folchen
im ftrengen Sinne der Zielftrebigkeit; jede Mafchine ift
ein teleologifch wirkfames Syftem. Das verkennt freilich
auch Schultz im Intereffe feiner einfeitig-radikalen Durchführung
der Mafchinen-Theorie. Und er verkennt daher
auch weiter, daß die Organismen die Teleologie der
Mafchinen fpezififch überbieten. Damit hängt dann wieder
fein Eintreten für die ftrenge Darwinfche Lehre zufammen,
deren Beurteilung ja in der Tat von der Stellungnahme
zu den biologifchen Prinzipienfragen abhängig ift. Wie
einfeitig und unhaltbar diefe letztere bei Schultz ift, läßt
fich an feiner programmatifchen Definition S. 16 leicht

erkennen: ,Die Mafchine, an die alle vitalen Vorgänge
eigentlich gebunden find, ift weder Tier, noch Pflanze, noch
ein Protift, noch auch nur ein Bakter; fie fteht zwifchen
dem kleinften Lebewefen und der größten chemifchen
Molekel in der Mitte; fie ift felber, genau genommen,
noch nichts ,Lebendiges', fondern das Element,
aus dem Lebendiges fich baut'. Nun, wenn dies fog.
,Element' — diefer Begriff wird bei diefer Definition in
feiner Unbeftimmtheit und Mehrdeutigkeit mißbraucht —
noch nichts Lebendiges bedeutet, dann erfchließt es alfo
auch keinerlei Verftändnis des Lebendigen!

Und wenn Schultz dann fchließlich feine ftreng me-
chaniftifche Betrachtungsweife ohne weiteres auch für die
Gefamtweltanfchauung geltend macht, fo ift das wieder
eine unberechtigte Überfchreitung der Grenzen des kritifchen
Denkens. Unberechtigt ift fie fpeziell fchon für das Gebiet
menfchlichen Handelns und praktifch ethifcher Lebensführung
. Denn der Satz: ,kann es Typovergenzmafchinen
(Lebensmafchinen) überhaupt geben, fo muß diefes Denkmittel
grundfätzlich auch für die Erklärung der höchften
tierifchen Strukturen, ja der menfchlichen Handlungen
auslangen (S. 43)', — ift ja eine glatte petitio principii,
welche die Selbftändigkeit und den Eigenwert des Ethifchen
kurzerhand ftreicht. Erfreulicher Weife hat der Verfaffer
in feinem III. Kapitel ,Metaphyfifches' diefen Sachverhalt
felbft anerkannt: ,Ethifche Bedürfniffe vollends erkennt
unfere Metaphyfik nicht als letzte Denkgründe an. Wer
den Sinn des Kosmos in feinem moralifchen Endziele fucht,
der macht ein hiftorifches Produkt erdenmenfchlichen
Gemeindelebens zur Angel von Milchftraßenfyftemen.
Mit fo kindlichen Überreften eines volkstümlichen Theismus
follten wir Philofophen unferen Wanderfack nicht mehr
belaften' (S. 95). Irreführend ift dann nur, daß der Verfaffer
den Lefer glauben machen will, diefe Metaphyfik
fei für feine fonftige Denkweife gleichgültig.

Breslau. Georg Wo bb er min.

Lüdemann, Prof. Dr. Hermann: Das Erkennen und die

Werturteile. Leipzig, M. Heinfius Nachf. 1910. (VIII,
231 S.) gr. 8° M. 6 —

Das Buch zerfällt in zwei Teile: einen ,erften pofi-
tiven Teil', in dem die Frage nach der Allgemeingültig-
1 keit der Werturteile und die Frage nach dem Verhältnis
| der Werturteile zur Seinserkenntnis erörtert werden, und
I einen ,zweiten kritifchen Teil', in dem der Autor mit
einzelnen Philofophen einerfeits, mit einzelnen Theologen
anderfeits Abrechnung hält.

Der erfte Teil geht davon aus, daß bei der Bildung
der Werturteile das Bedürfnis des Subjekts ,als konfti-
tuierender Faktor mit im Spiel' fei. Da dies Bedürfnis
eine ftark variable Größe ift, können Werturteile einen
Anfpruch auf Allgemeingültigkeit nur dann aufrecht
erhalten, wenn es fich um normale, um der Norm ent-
fprechende Bedürfniffe handelt. Der Maßftab alfo für
die Geltung der Werturteile find die Normen. Weshalb
eben zwifchen ,bloßen Bedürfniswerturteilen' und ,Norm-
werturteilen', die allein ,die fachlich berechtigten, allgemeine
Anerkennung beanfpruchen dürfenden Werturteile
find', zu unterfcheiden ift. Was aber das Verhältnis der
Werturteile zur ,Seinserkenntnis' betrifft, fo muß zunächft
der Fall ins Auge gefaßt werden, wo fich die Werturteile
auf einen ,real gegebenen' Gegenftand beziehen. Da
leuchtet inbezug auf die bloßen Bedürfniswerturteile
von felbft ein, daß fie keine gültigen Seinsurteile ergeben
, vielmehr Seinserkenntnis fchon vorausfetzen. ,Das
Bedürfnis-Werturteil ift alfo in all feinen Formen aus
der Reihe der Erkenntnismittel auszufcheiden, und zwar
fowohl was allgemeingültige Wertbeftimmung als auch was
Seinserkenntnis des realen Gegenftandes betrifft'. Indeffen
auch die Normwerturteile fetzen, fofern fie fich auf ,aktuell
anfchauliche Gegenftände' beziehen, ihrerfeits bereits Seins-