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Ausgabe:

1911 Nr. 10

Spalte:

299-300

Autor/Hrsg.:

Künstle, Carolus (Ed.)

Titel/Untertitel:

Vita Sanctae Genovefae virginis, Parisiorum patronae 1911

Rezensent:

Ficker, Gerhard

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Seite 1

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299

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 10.

300

zu den Juden in Medina nach feiner Einwanderung und
der Analyfe feines Vertragsverhältniffes zu ihnen (S.49—59)
werden in den weiteren drei Kapiteln die Schickfale der
jüdifchen Stämme, ihre graufame Befeindung und fukzeffive
Ausweifung aus Arabien auf Grund erneuter Unterfuchung
der Quellen mit kritifcher Methode behandelt, wobei fich
dem Verf. in einigen Details von feinen Vorgängern
abweichende Feftftellungen ergeben. Bei der Motivierung
der Befehdung der Nadir (S. 64fr.) hat er jedoch, wie er
felbft zu fühlen fcheint, auch einige freie Phantafie beigemengt
. Zu allererft wird hier in gefchichtlichem Zusammenhange
auf die durch H. Hirfchfeld publizierte, die
Chejbarer Juden betreffende Genizah-Urkunde Rückficht
genommen, ohne daß der Verf. zur Echtheitsfrage entfchie-
dene Stellung nähme. Wir wollen im Zufammenhang damit
nur darauf hinweifen, daß in den Gefchichtsquellen
wiederholt von der Vorzeigung einer folchen Urkunde
durch die Chejbarer zum Zweck ihrer Befreiung von der
Gizja-Abgabe Erwähnung gefchieht, mit der Bemerkung,
daß fie von den Behörden als unecht zurückgewiefen
wurde. Im 11. Jhd. hatte der Chatib Bagdad! (ft. 1071)
eine folche Urkunde zu prüfen (Dahabi, Tadkirat al-huffäz
III 336, 5 ff); ähnliches wird aus dem Jahre 1303 von Ibn
Katir berichtet (Melanges Hartwig Derenbourg H2f.) mit
der Notiz, daß Mäwerdi (ft. 1058) in feinem gefetzwiffen-
fchaftlichen Werke al-Häwi fich mit dem Dokument be-
fchäftigt und daß Ibn Katir felbft (ft. 1373) darüber einen
Traktat verfaßt habe. (Vgl. auch Steinfehneider, Polem.
und apologet. Literatur 398). Der Beweis der Unechtheit
war in dielen Fällen zumeilt auf Konftatierung von Anachronismen
in den Zeugenunterfchriften gegründet. Es
ift allerdings fchwer zu eruieren, ob das Genizah-Dokument
etwa zu diefer Gruppe gehört; die Zeugenunterfchriften
find von den bei den erwähnten Hiftorikern zitierten
Zeugennamen verfchieden. — Zu S. 112,7 (Glaubenseinheit
in Arabien) ift noch Tabari I 1927, 13 (Abu Bekr)
zu erwähnen. Über den Ümfang der praktifchen Ausführung
der Maßregel kann auf Lammens' Mu'äwija
401 ff. und jetzt noch auf I. Friedländer in JQR. New
Ser. I 249ff. hingewiefen werden.

Die islamifche Literatur ift auf jüdifche Beziehungen
bei weitem noch nicht erfchöpfend durchforfcht. Hoffentlich
begegnen wir dem Verf. noch öfters auf diefem Un-
terfuchungsgebiete.

Budapeft. I. Goldziher.

Vita Sanctae Genovefae virginis, Parisiorum patronae.
Prolegomena conscripsit, textum edidit Carolus
Künstle. (Bibliotheca scriptorum medii aevi Teub-
neriana.) Lipsiae, in aedibus B. G. Teubneri MCMX.
(XLVIII, 20 p.) 8° M. 1.20; geb. M. 1.60

Man erinnert fich der lebhaften Debatte, die vor
einiger Zeit zwifchen Br. Krufch, dem hochverdienten
Herausgeber der merowingifchen Heiligenleben in den
Monumenta Germaniae historica, und franzöfifchen Gelehrten
, namentlich L. Duchesne und Ch. Kohler, über
Alter und Glaubwürdigkeit der Vita Genovefae geführt
wurde. Während Krufch nachweifen zu können glaubte,
daß fie reine Fabelei und in das Gebiet der Schwindelliteratur
zu verweifen fei, traten die franzöfifchen Gelehrten
für ihre Glaubwürdigkeit ein; während Krufch
die ältefte Rezenfion erft gegen Ende des S.Jahrhunderts
entftanden fein läßt, fieht Duchesne keinen Grund, an
der Angabe des Autors der Vita zu zweifeln, er habe
fie ca. 520 verfaßt. Man kann nicht fagen, daß die gelehrte
Welt fich ausfchließlich an die eine der ftreitenden
Parteien angefchloffen hätte. Das Gewicht der Gründe,
die gegen Krufch fprechen, verftärkt Künftle, indem
er von einer bisher in dem Streit gar nicht fonderlich
beachteten Rezenfion (=C) nachweift, daß fie in einer
unter und zum Teil von Reginbert (784—846) gefchrie-

benen berühmten Reichenauer Handfchrift (jetzt in der
Landesbibliothek zu Karlsruhe, Codex Augiensis XXXII)
und in einem aus Salzburg flammenden Passionarium vom
Ende des 8. Jhs. (jetzt Cod. Palat. Vindobon. lat. 420)
vorliegt, und darzulegen verfucht, daß fie, wenn fie auch
nicht die Originalvita ift, fo doch diefer viel näher fleht
als die beiden anderen Rezenfionen A und B, die bisher
hauptfächlich in der Debatte berückfichtigt wurden. Diefe
Rezenfion C gehöre noch in das 6. Jh. und beweife, daß
Genovefa ,in der Tat die tapfere Jungfrau in der Zeit
des Hunneneinfalles, die foziale Helferin und Tröfterin
ihrer Landsleute in der Zeit der Not, die Vermittlerin
zwifchen Romanen und Germanen bei Childerich und
Chlodovech fei'. C ift nämlich gerade bei dem Hunneneinfall
etwas ausführlicher als die beiden anderen Rezenfionen
. Ich geftehe, daß ich durch Künftles Ausführungen
nicht überzeugt worden bin; mir ift ent-
fcheidend, daß K. felber die Vita Genovefae für nur in
den Grundzügen echt hält. S. IX f.: ,Damit foll aber, wie
jeder, der fich mit hagiographifchen Texten je befchäf-
tigt hat, wohl verfteht, nicht gefagt fein, daß ein Bericht
vorliege, der in allen Stücken Glauben verdiene und der
nach felbft erlebten Tatfachen oder auf Grund von offiziellen
Aktenftücken gefchrieben fei'. Steht es fo mit
der Rezenfion C, wer wird dann entfeheiden können, was
,echt' fei und was ,unecht', was ,Grundzüge' und was aus-
fchmückendes Beiwerk. Ober haben nur Wundererzählungen
erfunden werden können?

Soviel ich urteilen kann, ift die Ausgabe der Vita,
die nach den genannten beiden Handfchriften veranftaltet
ift, fehr forgfältig gearbeitet. Die kritifchen Fragen find
in den Prolegomena lebendig erörtert; dort ift auch die
Gefchichte des Streites um die Vita gründlich erzählt,
freilich nicht ohne unnötig fcharfe Urteile über Krufchs
Äußerungen.

Kiel. G. Ficker.

Goetz, Walter: König Robert von Neapel (1309—1343), feine
Perfönlichkeit und fein Verhältnis zum Humanismus.
(Programm.) Tübingen, J. C. B. Mohr 1910. (III, 72 S.)
Lex. 8° M. 2 —

Die Abhandlung hat ein dreifaches Intereffe, ein
politifches, ein kirchengefchichtliches und ein literar-
gefchichtliches. Politifch hat die deutfehe Gefchichte von
König Robert — leider — meift nicht viel wiffen wollen;
war er doch der vornehmfte Gegner unferes tragifchen
Kaifers Heinrich VII., des Luxemburgers, in Italien; und
bekämpfte er doch auch in ihm, felbft mit der Feder
(Denkfchrift von 1314, S. 21 ff.), grundfätzlich das römifche
Kaifertum deutfeher Nation; diefer König war alfo auch
zu Dante das realpolitifche Gegenftück. Noch mehr
bemerkenswert wird der König den Lefern diefer Zeit-
fchrift fein als theologifch-moralifcher Schriftfteller; er
war als folcher fruchtbar; feine Briefe find zahlreich;
fein Tractat de paupertate evangelica Hellt ihn mitten
in das moraltheologifche Problem feiner Zeit, die Dicta
et opiniones philosophorum find ein Jugendwerk; der
fpäteren Zeit gehört das Teftament an, und die Fülle
von Predigten! In fehr lehrreicher und vernünftiger Weife
hat Goetz feine Charakteriftik unterftützt durch ein Verzeichnis
aller 289 handfehriftlich vorhandenen Predigten
und den Abdruck einer einzelnen, die den ftark formal-
literarifchen Charakter erkennen läßt und als Repräfentant
für alle anderen dienen kann: es ift Wort und Satzarchitektur
, keine ,zu Herzen gehende' Rede; immerhin, König
Robert fleht in der Genealogie der predigenden Fürften,
die in der chriftlichen Zeit mit Conftantin anhebt (vgl.
zuletzt Schwartz bei Pauli-Wiffowa VI, 1427). Um fo
merkwürdiger, daß diefer ,mittelalterliche Menfch' an feinem
Hofe zugleich die früheften Keime des Humanismus gehütet
haben foll (S. 38fr.). G. legt Wert darauf, daß diefe