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Ausgabe:

1911 Nr. 9

Spalte:

279-281

Autor/Hrsg.:

Kaftan, Theodor

Titel/Untertitel:

Gemeinsame Weltanschauung, Ultramontanismus, Protestantismus. Vortrag 1911

Rezensent:

Hoensbroech, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 9.

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nun bei all den Lebenserfcheinungen im Selbftaufbau
und der Selbftregulation des Organismus, die z. B. Driefch
fo reichlich fammelt, fo entfchieden wieder, daß es ein
reiner Gewaltakt ift, diefes Gefchehen aus der Analogieerkenntnis
auf Wille, Vorftellung und Zweck hin auszu-
fchließen, am meiften heute, wo fich von andrer Seite her
das Gebiet des dunklen, unbewußten und unterbewußten
Vorftellens fo entfchieden hervortut. In diefer Hinficht
bleibt es auch bei entfchiedenftem Mechanismus bei dem
alten Worte, daß ,der Geift den Körper baut'. Und das
gerade ift der Sinn von Leibniz' Lehre von den plaftifchen
Naturen. (Vgl. auch Immanuel Fichte, den jungem.)

2. DieFrage nach Parallelismus oder pfycho-phyfifcher
Wechfelwirkung fcheint mit dem Energiefatz fälfchlich
in Widerftreit gebracht zu werden. Das Eintreten der
,Energieform' y für die verfchwindende .Energieform' x
in einem beftimmten Momente ift an fich nicht weniger
begreiflich oder a priori einfichtig wie das Verfchwinden
einer .mechanifch-phyfikalifchen' Energieform und das
Dafür Eintreten eines phyfifchen Aktes als feines Äquivalentes
. Zwar läßt fich dort die Äquivalenz formelmäßig
ausfprechen und fo das Gefetz des Vorganges
beftimmt formulieren. Das gelingt hier nicht, da im
Pfychifchen die Mathematik verfagt. Aber die Schwierigkeit
für uns, das Gefetz zu formulieren, fchließt nicht
aus, daß der Vorgang felber gefetzmäßig ift und das Gefetz
befteht. Und Intenfitäten gibt's auch im Pfychifchen,
und fogar ein wenn nicht exaktes, fo doch ungefähres
Abfchätzen und Vergleichen derfelben im Gefühl. Auch im
Verhältniffe der pfychifchen Gefchehniffe untereinander
ift Anwendung der Mathematik nicht möglich. Deswegen
aber leugnen wir noch nicht die Gefetzmäßigkeit ihrer
Zufammenhänge.

Tiefer greift folgender Einwand. Das zeitliche Schema
der Kategorie der Kaufalität ift das Nacheinander zweier
Vorgänge. Aber diefes genügt noch nicht als Kriterium
ihrer Anwendbarkeit. Sondern dazu bedarf es immer
noch eines anfchaulichen Momentes, z. B. bei der Kaufalität
eines Körpers auf den anderen (im Stoße) der Bewegung
des einen auf den andern zu. Diefes anfchau-
liche Moment aber fehlt im Verhältniffe des körperlichen
zum feelifchen Gefchehen, und darum fehlt die Möglichkeit
der Anwendbarkeit der Kategorie der Kaufalität. — Hier
liegt offenbar eine Schwierigkeit, über die die Metaphy-
fiker nachdenken mögen. Aber zu trifft die Widerlegung
nicht. Denn fie beweift zu viel. Nach ihr wäre nämlich
überhaupt keine Zufammenordnung meines körperlichen
Gefchehens zu meinem feelifchen Gefchehen und ferner
keine Kaufalverknüpfung der verfchiedenen Momente des
Gefchehens im Seelifchen felber möglich. Beides macht
fich ohne das geforderte anfchauliche Moment, aus
bloßem Gefühl, und, wie es fcheint, aus einem unauflöslichen
. —

Die Bemerkungen des Verfaffers über Kaufal- und
Finalbetrachtung des Weltgefchehens überhaupt und ihr
Verhältnis zu einander zu beurteilen, erlaubt der Raum
nicht. Man vergleicht dazu vielleicht, was ich in .Natural,
und rel. Weltanficht' S. 60 und 114 gefagt habe.

Göttingen. R. Otto.

Kaftan, Wirkl. Oberkonfift.-Rat Generalfuperint.: Gemein-
fame Weltanfchauung, Ultramontanismus, Proteltantismus.

Vortrag, auf der 23. Generalverfammlung des Evan-
gelifchen Bundes in Chemnitz am 28. September gehalten
. Halle, Verlag des Ev. Bundes 1910. (19 S.)
8» M. —25

Niemals habe ich auf weniger Seiten mehr Thefe und
Antithefe, mehr Spruch und Widerfpruch, mehr Pofition
und Negation gehäuft gefunden und zwar Alles über
ein und denfelben Gegenftand. Eine notwendige Folge

des geftellten Themas. Wo fchlechterdings Unmögliches
möglich gemacht werden foll, muß es zu gekünftelten
Konftruktionen, zu Widerfprüchen ufw. kommen. Eine
Sifyphos-Arbeit im eigentlichen Sinne des Wortes! Jedesmal
, wenn der Verfaffer den fchweren .Stein' der .gern
einf amen Weltanfchauung' auf die Spitze hinauf-
gefchoben hat, .entrollt ihm der tückifche Marmor', und
zwar — darin liegt das Widerfpruchvolle, was das ganze
Schriftchen durchzieht — der Verfaffer felbft muß dem
.Steine' die abfchüffige Bahn wieder freigeben, durch
das teils direkte, teils indirekte Eingeftändnis: was auf
den erften Blick .gemeinfam' erfcheint, ift doch ,im tiefften
Wefen verfchieden'. So liegt das Verdienft der Schrift
nicht in der Auffindung der .Quadratur des Zirkels', fondern
in der durch den gefcheiterten Verfuch der Auffindung
handgreiflich gemachten Unmöglichkeit diefer
,Quadratur'. ,Der im Evangelium wurzelnde, vom Evangelium
beftimmte Proteftantismus' foll fich ,mit dem
Ultramontanismus in gemeinfamer Weltanfchauung begegnen
' (S. 5). Diefe ,Gemeinfamkeit' foll liegen in der
Auffaffung von ,Gott', vom .Menfchen', von der .Ewigkeit',
vom ,Gott, der Wunder tut', von der .theonomen Sittlichkeit
' (S. 5 ff.). Aber fchon auf S. 7 und 8 erklärt der
Verfaffer, daß gerade in bezug auf diefe .gemeinfamen'
Begriffe .klaffende Unterfchiede' in ihrer proteftantifchen
und ultramontanen Auffaffung fich zeigen, daß ,unter
Wundern die Ultramontanen und die chriftusgläubigen
Proteftanten freilich nicht das gleiche verftehen', daß in
der Deutung .theqnomer Sittlichkeit' .tiefe Differenzen
des Verftehens Hecken'. Dennoch wird auf S. 9 wieder
verfichert: ,In der Tat, es ift mir voller Ernft damit, daß
ich eine Gemeinfchaft der Weltanfchauung des Proteftantismus
mit der des Ultramontanismus behaupte', aber
der unmittelbar folgende Satz lautet wieder: .Freilich,
war ich je und je auf die Unterfchiede in der Gemeinfchaft
hinzuweifen fachlich gezwungen, hier fpitzt fich
diefe Differenz nun in und trotz der Gemeinfchaft zu';
und auf den folgenden Seiten wird dann treffend ausgeführt
, daß der Begriff ,Gott' (vorher gehörte er zum gemeinfamen
') in ultramontaner Auffaffung durch den Begriff
Kirche und Prieftertum faft befeitigt werde und daß Kirche
und Prieftertum im Papfttum zur .priefterlichen Weltherrfchaft
' fich vereinigen. Dennoch wird aufS. 12 diefe,Weltherrfchaft
' gleichgefetzt mit ,der Weltherrfchaft Gottes',
die in der Bitte: .Dein Reich komme' gleichmäßig vom
Proteftanten wie vom Ultramontanen erfleht wird, während
es auf S. 15 heißt, der Ultramontanismus habe ,die letzte,
höchfte, leitende Idee, die Weltbeherrfchung Gottes, geradezu
verkehrt in ihr Gegenteil; aus Gottesherrfchaft
wird Menfchenherrfchaft'. Und der Verfaffer erklärt fogar
in unmittelbarftem Zufammenhänge (ohne das kleinfte
Zwifchenfätzchen): ,Das belegt der Ultramontanismus,
kulturell, intellektuell,fittlich, religiös;das belegter, nicht
in feinen Ausfchreitungen und feinen Entartungen, nein,
in feinem Wefen und Kern' (S. 15). Aber .gemeinfam'
ift die Bitte: .Dein Reich komme'! Wahrlich: .Hurtig mit
Donnergepolter entrollt ihm der tückifche Marmor'! Ich
zitiere die Widerfprüche nicht, um dem Verfaffer zu
nahe zu treten. Aber es muß mit allerdings unfreiwilliger
Hilfe des Verfaffers fcharf betont werden, daß
in der Tat zwifchen Proteftantismus und Ultramontanismus
Abgründe .klaffen' (S. 7), über die eine Brücke zu
fchlagen, ein Ding glatter Unmöglichkeit ift.

Kann ich mich fo nicht einverftanden erklären mit der
Grundrichtung der Schrift, fo unterfchreibe ich um fo lieber
manche grundfätzliche wichtige Wahrheit, deren Darlegung
durch die Stellung des Verfaffers befonders wertvoll wird.
So die wichtige Unterfcheidung .zwifchen religiöfem und
politifchem Katholizismus' (S. 4); fo die dankenswerte
Betonung von der Unfruchtbarkeit einer Staatskirche,
vom .innern Widerfprüche, der im Begriffe des Staats-
kirchentums liegt, ein Widerfpruch, der heute in das