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Ausgabe:

1911 Nr. 9

Spalte:

277-279

Autor/Hrsg.:

Stöhr, Adolf

Titel/Untertitel:

Der Begriff des Lebens 1911

Rezensent:

Otto, Rudolf

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 9.

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dings, wenigftens im wefentlichen, die felben geblieben.
Reich an feinfinnigen Beobachtungen, hat der Lipps fche
Leitfaden von jeher infofern ein befonderes Intereffe in
Anfpruch nehmen dürfen, als er innerhalb der pfycho-
logifchen Literatur der Gegenwart fich durch feine große
Selbftändigkeit auszeichnet Allein fchon die Terminologie
ift durchaus eigenartig, manchmal fogar in folchem Maße,
daß dadurch die gemeinfame Verftändigung nicht eben
erleichtert wird. In methodologifcher Hinficht ift das
Überwiegen der introfpektiven Analyfe über das experimentelle
Verfahren charakteriftifch. In fachlicher Beziehung
fällt die relative Kürze auf, mit der im Unter-
fchied von anderen modernen Lehrbüchern die den pfy-
chifchen Prozeffen koordinierten phyfifchen Phänomene
behandelt werden, und in angenehmer Weife die größere
Ausführlichkeit in derBefprechung der fogenannten höheren
Seelenvorgänge. Aber auch in zahlreichen Einzelheiten,
ja, gerade da erft recht, zeigt fich die Originalität der
Lipps fchen Pfychologie: man denke etwa an ihren eigentümlichen
Apperzeptionsbegriff oder an den Begriff der
,pfychifchen Stauung" und an das ,Gefetz der Stauung'
oder an die Rolle und Bedeutung, die der ,Einfühlung<
zufällt, und vieles andere.

Auf befondere Unterfchiede im Detail zwifchen
früheren Auflagen und der vorliegenden einzugehen,
würde zu weit führen. Doch wird es in diefer Zeitfchrift
geftattet und am Platze fein, wenigftens auf einen Paffus
hinzuweifen, der bezeichnend ift für gewiffe Wandlungen
in den Anfchauungen der heutigen Religionspfychologie.
Während in der erften Auflage das ,religiöfe Gefühl' als
,aus dem fittlichen entfpringend' hingeftellt und eine an
Kants Poftulatentheorie fich anlehnende Auffaffung vom
Wefen der Religion vorgetragen wurde, heißt es jetzt:
,Das religiöfe Gefühl ift das Gefühl des inneren Dranges,
zu glauben, daß die Welt in ihrem letzten Grunde oder
daß der letzte Weltgrund Geift fei, ein dem individuellen
Ich transzendentes und feiner Schranke entkleidetes Ich,
und darum ihm verwandt, und daß die Welt, wie wir fie
verftandesmäßig erkennen, Offenbarung fei diefes Weltgrundes
, daß alle Forderungen des Denkens, Wertens,
Wollens, Forderungen feien diefes transzendenten Ich;
daß das individuelle Ich und alles einzelne Wirkliche ein
endlicher Punkt fei in diefem Ich, beftimmt oder berufen,
an feiner Stelle das Wefen desfelben in fich zu verwirklichen
. Und es ift das Gefühl der Ehrfurcht vor diefem
Transzendenten, und das Gefühl der Hoffnung und des
Vertrauens, daß die Verwirklichung jener Beftimmung
möglich fei; und, wenn auch im unendlichen Progreß
gefchehen werde. In aller .Religion' ift fo viel Religion,
als in ihr das Gefühl folcher Gebundenheit an das transzendente
Ich enthalten ift'. Abgefehen von der formal
bedenklichen Wendung ,das Gefühl des inneren Dranges',
hätte Refer. nicht allzuviel einzuwenden. Die gegebene
Charakteriftik der Religion in pfychologifcher Hinficht
fteht an fachlicher Richtigkeit weit über derjenigen eines
Ebbinghaus oder Jodl. Auf alle Fälle aber ift die Korrektur
, die der Autor an feiner früheren Befchreibung
vorzunehmen fich veranlaßt gefehen hat, beachtenswert.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Stöhr, Adolf: Der Begriff des Lebens. (Synthefis. Sammlung
hiftorifcherMonographien philofophifcher Begriffe.
Band II.) Heidelberg, C. Winter 1909. (VIII, 356 S.)
8° M. 3.60; geb.'M. 440

Diefes Buch ift unentbehrlich für jeden, der über das
Wefen des Lebens und die Befonderheit des Lebendigen
ins klare kommen will. Es will zwar zunächft nur eine
,hiftorifche Monographie', eine Darfteilung der Gefchichte
des Begriffes vom Leben (im biologifchen Sinne) fein,
macht fich aber dann zugleich zur Aufgabe, die fchwierige
Aufgabe der Begriffsbeftimmung felber zu fördern und

dabei deuten fich dann die Anflehten des Verfaffers, der
felber Forfcher im Gebiete des Lebens ift, fowohl über die
möglichen Problemftellungen als über mögliche Löfungen
der Probleme — das letztere mit vorfichtigftem Abwägen —
an. Erwünfcht wäre zum Eingange eine ausführliche
Beftimmung des Begriffes vom .Begriff überhaupt gewefen.
Was meint man damit, wenn man nach dem Begriffe
einer Sache fragt. Der Begriff des Gegenftandes einer
Wiffenfchaft ift einerfeits fchon Vorausfetzung ihrer Möglichkeit
, ohne den fie ihre Arbeit gar nicht anfangen kann,
und als folcher muß er der Wiffenfchaft fchon voraufgehen
. Er ift andererfeits das erftrebte vollendete Ergebnis
der betreffenden Wiffenfchaft. Wie verhält fich
jenes zu diefem?

Der Verfolg des Lebensbegriffes durch feine Gefchichte
(befonders auch die anderswo nirgends fo zu findende
Darftellung der antiken Lebensbegriffe), die Auffpaltung
in feine Unterbegriffe (Leben im Sinne der Affimilation,
im Sinne des paffiven Geformtwerdens durch fchon vorhandenes
Leben ufw.) in 17 Sonderkapiteln ift ein Mufter
fubtiler Denkarbeit. Ein tieferes Eingehen auf Leibnizens
.plaftifche Naturen' wäre erwünfcht gewefen. Und wenn
mit Recht die Tatfache des Bewußtfeins als folchen aus
der biologifchen Frageftellung ausgefchaltet wird, fo wäre
doch die Lehre, die die Seele als Korrelat organifcher
Formgeftaltung faßt und die viel tiefer führt, als der
landläufige Parallelismus, anzudeuten gewefen. Und bei
Driefch wäre hervorzuheben gewefen, daß er jedenfalls
von allen Vitaliften allein den bedeutfamen Verfuch
macht, feinen Begriff der .Entelechie' nach Kantifcher
Methode durch eine Revifion des .tranfzendentalen Leitfadens
aller reinen Verftandesbegriffe' aufzufinden.

Der Abweis der heutigen hölzernen Urzeugungslehren,
der Nachweis des Unterfchiedes des .Biochemifchen' vom
.Technochemifchen' (vgl. bef. S. 341) trotz all der in-
tereffanten Harnfäuren und andern .künftlichen Synthefen'
ift lehrreich. Immerhin hätte Svante Arrhenius' Lehre
von der Wanderung des Lebendigen durch den Weltraum
nachgeprüft werden follen. Und des Verfaffers
eigene Anficht, daß die Bildung lebendiger Moleküle in
unferer heutigen molekularen Weltftruktur (— mit der
die Theoretiker der ,Urzeugung' rechnen —) zwar unmöglich
fei, beim Übergange aus der atomifchen in die
molekulare aber möglich gewefen fei, möchte doch wohl
auf ähnliche Schwierigkeiten ftoßen. (Eiweiß kann nur
beftehen bei verhältnismäßigfehrniedrigenTemperaturen.
Dann kann es auch nur bei folchen entftehen. Der
Übergang in die molekulare Struktur aber hatte doch
bei viel höheren Temperaturen fchon ftattgefunden.)

Verfaffer bietet zum Schluffe gegenüber den fehl-
gefchlagenen Verfuchen einer mechaniftifchen Erklärung
der .Formgeftaltung' einen eigenen neuen an und meint,
daß, wenn auch diefer fehlfchlage, nur der .Vitalismus'
überbleibe. Wie kann man das fagen? Nach welchem
Prinzipe ift es hier möglich anzugeben, daß die Disjunktion
der Hypothefen erfchöpft fei? Diefe Frage ift doch wohl
nur metaphyfifcher Beantwortung fähig. Und in diefer
Hinficht wäre vielleicht auf folgende Momente noch auf-
merkfam zu machen gewefen. «

1. Vitalismus im ftrengen Sinne ift nur möglich, wenn
.Entelechie' neben Subftanz, Kaufalität und Wechfel-
wirkung als für die Natur gültige Kategorie nachgewiefen
werden könnte. Davon ganz unabhängig aber ift die Frage,
ob das Gefchehen im Organismus als ein .Handeln', und
ein .Handeln nach Zwecken' aufgefaßt werden könne.
Auch bei durchgeführtem Mechanismus und .Parallelismus'
find unfere eigenen willkürlichen Körperbewegungen für
uns .Handlungen' und nach Zwecken. Und nach gewiffen
Kriterien deuten wir — aus der Analogie — die Körperbewegungen
anderer Menfchen und Tiere auf zweckmäßiges
Handeln, und fetzen diefes Deuten auf der Leiter
der Entwicklung nach unten zu in undeutlicher werdender
Analogie beftändig fort. Jene Kriterien aber kehren