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Ausgabe:

1911 Nr. 9

Spalte:

259-261

Autor/Hrsg.:

Wecker, Otto

Titel/Untertitel:

Lamaismus und Katholizismus 1911

Rezensent:

Beckh, Hermann

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 9.

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führen zur Umgeftaltung der Staatsverfaffungen im Sinne
der bürgerlichen Rechtsgleichheit. In Preußen fpeziell
wird die Revolution durch ein von innen heraus reformiertes
Volkstum überwunden, und über dem engen
Polizeiftaat baut Bismarck das Deutfche Reich, das feine
Bürger mit politifchen Rechten in einem beinahe von
keiner anderen Verfaffung erreichten Maße ausftattet.
Schließlich bezeugt auch der Syllabus von 1864 den
inneren Zufammenhang der bisher errungenen politifchen
Freiheit mit der Reformation.

Über Vietors Schleiermacher-Studie wird befonders
berichtet werden.

Lobberich. Alfred Zilleffen.

Wecker, Repet. Dr. Otto: Lamaismus und Katholizismus.

Ein Vortrag (geh. am 15. März 1910 im Kathol. Lefe-
verein zu Stuttgart). (Aus: Religiös-wiffenfchaftliche
Vorträge für kathol. Akademiker.) Rottenburg, W.
Baader 1910. (47 S.) gr. 8° M. — 60

Der in flüfhger Darfteilung gehaltene Vortrag zeugt
von verftändiger Durcharbeitung der einfchlägigen Literatur
und ift vorzüglich geeignet, Fernerftehende in leicht
faßlicher Weife über das intereffante Gebiet des tibetifchen
Buddhismus zu orientieren. Allerdings ift mehr das
Äußere des Kultus als das innere Wefen der Religion
berückfichtigt. Als Einleitung wird eine geographische
und politifche Orientierung über Tibet vorausgeschickt.
Der erfte Teil des Vortrags enthält fodann eine kurze
Darftellung des Lamaismus, wie er nach außen in die
Erfcheinung tritt: 1. in feiner Hierarchie, 2. im Mönchtum,
3. im Kultus. Im zweiten Teil fucht der Verfaffer ein
Werturteil über die Religion Tibets zu gewinnen, wobei
ihn insbefondere die Frage befchäftigt, mit welchem Recht
oder Unrecht der Lamaismus als buddhiftifcher Katholizismus
bezeichnet werde.

In der Einleitung (S. 4) wird die Unterwerfung Tibets
unter Kang-Hi in die ,Mitte des 18. Jahrhunderts' gefetzt,
das genaue Datum ift 1720. Die Angabe (S. 5), im 19.
Jahrhundert fei es außer Huc und Gäbet keinem Europäer
mehr geglückt, Lhafa zu erreichen, ift dahin zu berichtigen
, daß auch der englifche Arzt Thomas Manning im
Jahre 1811, als Hindu verkleidet, die tibetifche Haupt-
ftadt betrat.

Im erften Teil des Vortrags zeigt fich der Verfaffer
über alles Tatfächliche im wefentlichen richtig informiert.
Irreführend ift die Bezeichnung des Lamaismus als ,Sproß
des Buddhismus' (S. 6), er ift vielmehr wirklicher Buddhismus
, fo fehr er auch in feiner äußeren Erfcheinung
von der füdlichen Kirche abweicht, die, wie man annimmt,
den urfprünglichen Geift der Lehre Buddhas am reinften
bewahrt hat. Veräußerlichung im Laufe der Zeit ift ein
Schickfal, das der Buddhismus mit anderen Religionen
teilt, wenn fie auch nicht überall in gleichem Maße ftatt-
gefunden hat. Buddhismus ift jede Religion, deren Fun-
dament das dreifache Bekenntnis (,die dreifache Zuflucht')
zu Buddha, feiner Lehre, feiner Gemeinde ift. Die Lamas
felbft verwahren fleh dagegen, daß ihre Religion als Lamaismus
, ftatt einfach Buddhismus bezeichnet werde.

Der immerhin beträchtliche Abftand des nördlichen
vom füdlichen Buddhismus erfcheint vielen darum noch
größer als er ift, weil fie von der Annahme ausgehen,
der urfprüngliche Buddhismus habe, im Gegenfatz zu
dem verzweigten Pantheon der nördlichen Kirche, überhaupt
keine Götter gekannt. Diefen verbreiteten Irrtum
teilt auch der Verfaffer (S. 6 ,. .. der urfprüngliche Buddhismus
, der keine Götter, keine Priefter und keinen Kultus
kannte'). Richtig ift nur, daß der urfprüngliche Buddhismus
keineVerehrungderGötter kennt. DieExiftenzder
Götter hingegen hat Buddha niemals bezweifelt. Schon
in den älteften Texten des füdlichen Kanons finden wir
darüber pofitive Zeugniffe. Siehe z. B. Mahaparinibbäna-

futta ed. Childers p. 12, 28, 50, 63. Dem Auge gewöhnlicher
Sterblicher find die Götter (devatä, deva == lat. deus)
entrückt, aber der Buddha, fo lehren die heiligen Texte,
vermag fie mit dem hellfehenden Auge der überfinnlichen
Erkenntnis (dibbena cakkhunä visuddhena atikkantamänu-
sakena) zu fchauen. Sie nehmen Anteil an feinem ganzen
Erdenleben von der Geburt bis zum Nirväna, in allen
wichtigen Augenblicken find fie zugegen und fcharen fich
um den Erhabenen. Buddha felbft fpricht von der An-
wefenheit der Gottheiten zu feinen Jüngern. Im allgemeinen
fpielen die Götter (Devatäs) in der Buddhalegende eine
ganz ähnliche Rolle, wie die Engel (ayyeXoi) im Neuen
Teftament (fiehe z. B. Matth. 4,11, Mark. 1,13, Luk. 2,13.
14), eine der mehreren bemerkenswerten Parallelen zwi-
fchen Buddhalehre und N. T., auf die vielleicht noch zu
wenig hingewiefen ift. Ein Gegenftand der Verehrung
oder Anbetung find die Devatäs aber für Buddha niemals,
im Gegenteil, er, der Vollendete, ift ein Wefen, das an
Erhabenheit alle Gottheiten weit überragt. Wie er als
Menfch unter Menfchen wandelt und lehrt, fo lehrt ejs
auch, mit göttlicher Erfcheinung bekleidet, die Götter, fo
daß diefe fich fragen, ob fie einen der ihrigen vor fich
haben (Mahäparinibbänasutta 1. c. S. 28). Die Götterlehre
des nördlichen Buddhismus, wie vieles andere, was diefem
fein befonderes Gepräge gibt, ift im urfprünglichen Buddhismus
alfo fchon im Keime enthalten.

Das Gleiche gilt von der Magie, die im Lamaismus
eine fo wichtige Rolle fpielt. Wenn der Verfaffer hierin
einen ,Überreft aus dem roheften Schamanismus' erblickt
(S. 14), fo ift dies infofern richtig, als der Schamanismus
der alten Bon-Religion der Boden ift, auf dem fich das
Zauberwefen im tibetifchen Buddhismus entwickelt hat.
Die fragliche Erfcheinung ift damit aber nur zum Teil
erklärt, und die Annahme, es handle fich dabei um ein
dem urfprünglichen Buddhismus völlig fremdes Element,
würde fehlgehen. Wie die PVxiftenz der Götter, fo gilt
auch die Exiftenz magifcher Kräfte fchon im älteften
Buddhismus als eine Tatfache. Sind es im Neuen Teftament
außer Jefus auch die Jünger bezw. alle ,die da
glauben', die mit der Macht, Wunder und Zeichen zu
wirken, begabt find (Mark. 16,17—^ Luk. 9,1; 10, 19),
fo finden wir ganz ähnlich fchon in den alten buddhifti-
fchen Palitexten magifche Macht (Iddhi) als ein Prädikat
nicht nur des Buddha, fondern auch der Jünger, die die
oberfte Stufe der Heiligkeit erreicht haben, der fog. Arhats,
und in der Lehre von den vier Iddhipädas oder Voraus-
fetzungen von Iddhi wird eine förmliche Theorie diefer
Dinge aufgeftellt. Siehe Mahäparinibbänasutta 1. c. S. 23,
wo Buddha felbft von fich bekundet, daß er die Iddhipädas
bemeiftert habe. Aber nach diefer urfprünglichen
Lehre ift Iddhi nur ein Phänomen, das fich von felbft
nach den Gefetzen der überfinnlichen Welt einftellt, fobald
eine gewiffe Stufe der Heiligkeit und Kontemplation erreicht
ift; der wahre Jünger trachtet nicht nach jenen
Dingen und freut fich auch nicht, wenn fie ihm zuteil
werden (vgl. Luk. 10,20), denn fein Blick ift nur auf das
gerichtet, ,was den Wandel in Heiligkeit fördert, was zur
Abkehr vom Irdifchen, zum Aufhören des Vergänglichen,
zum Frieden, zur Erleuchtung, zum Nirväna führt'.

So fehr nun auch das in Tibet, wie wir aus Täränä-
thas Berichten erfehen, feit Jahrhunderten in lamaiftifchen
Kreifen an der Tagesordnung flehende Beftreben, durch
Übung geiftiger Konzentration (Yoga) übernatürliche
Kräfte zu gewinnen, zu der Wertfehätzung jener Dinge
im urfprünglichen Buddhismus in Widerfpruch fleht, fo
unterliegt es doch keinem Zweifel, daß die Vorftellungen
felber, aus denen jenes Beftreben hervorgeht, auch in der
alten Lehre vorhanden waren. Sie entflammen dort dem
indifchen Yoga, auf dem der Buddhismus überhaupt
beruht. Ziehen wir diefes urfprüngliche Verhältnis in
Betracht, fo wird die befondere Rolle, die der Yoga im
fpäteren Buddhismus fpielt, uns weniger befremden. In
diefer Form, durchfetzt mit Yoga und Sivaismus, hat dann