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Ausgabe:

1911 Nr. 8

Spalte:

252-253

Autor/Hrsg.:

Ragaz, Leonhard

Titel/Untertitel:

Du sollst. Grundzüge einer sittlichen Weltanschauung. Zweite Auflage 1911

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 8.

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wie er ift und wie er nach den Wünfchen hochkirchlich-
konfervativer Leute fein foll. Aber diefes Ideal fcheitert
daran, daß es zu einer nicht-chriftlichen Frömmigkeit
gehört; denn es hängt mit der Heilighaltung von Räumen
und Dingen, Handlungen und Worten zufammen. Dahinab
aber linkt die Religion immer, wenn fie überhaupt
finkt: das Prieftertum ift die Religion des natürlichen
Menfchen. — Das eben fo fein gezeichnete Bild desEvan-
geliften wird in den gefchichtlichen Rahmen der neu-
teftamentlichen Zeit hineingeftellt; in diefe paßt es, weil
es üch dort wirklich — anders als heute — um Rettung
aus andern Religionen handelte. Es fcheitert daran, daß
wir eben andere Zeiten haben, in denen die Rettung allein
nicht genügt, fondern in der die Pflege dazu kommen muß;
und darin verfagt die Evangelifation. — Das Ideal des
Seelforgers bietet, ftatt der heiligen Dinge und des
heiligen Wortes, Seele, nämlich Perfönlichkeitsreligion,
ohne die eigne Seele mit der Evangelifation unkeufch
preiszugeben; fie bietet anftatt der Bearbeitung der Seele
Sorge für fie, um den Leuten wirklich weiterzuhelfen.
— Auf diefe Darbietung feines Seelenlebens durch den
Pfarrer ftellt V. nun alles ein; Seelenbeobachtung und
Perfönlichkeitsreligion, aus der eignen Seele und aus der
Gefchichte gefchöpfte Perfönlichkeitsreligion, machen nun
die Tätigkeit des Pfarrers aus. So wird das Pfarridyll
durch das Pfarrerideal erfetzt — der Pfarrer das Ideal des
deutfchen Mannes. Folgerichtig fällt dann auch als zu
dinglich-objektiv bestimmt das Sulze'fche Gemeinde- und
Bezirksprinzip. Die Perfonalgemeinde ift alles. — Ich
ftimme weithin V. zu. Nur im letzten Punkte nicht. Die
Schwächen und Schäden des Sulze'fchen Ideals heilt man
nicht, indem man von ihnen aus zurückgeht auf den
Zuftand, den fie befeitigen follten, eben das Perfonal-
gemeindetum. Das von V. als Hauptmittel der Seelforge
erfehnte Perfönlichkeitsleben follte er nicht nur im Pfarrer
fuchen. Das ift Klerikalifierung der Perfönlichkeitsreligion.
Sie foll in einem Herde gemeindlicher Frömmigkeit geweckt
werden, damit nicht alles auf den einen Pfarrer
gefteHt wird. Das ift der Geift von Sülze, aber nicht das,
was V. nennt, daß man den Pfarrer wechfeln muß, wie
den Schneider, wenn man auf die andere Seite der Straße
zieht. Es ift immer beffer, die Gegenmeinung zu ideal
als zu niedrig zu faffen, und alles läßt fleh nicht von
der Großftadt aus allein richtig beurteilen. Diefer Tadel
nimmt dem ganzen Schriftchen an feinem Werte nichts
fort.

Fleidelberg. F. Nie bergall.

Rendtorff, Prof. D. F., Das Problem der Konfirmation und
der Religionsunterricht in der Volksfchule. Katechetifche
Erwägungen. Leipzig, Dorff ling & Franke 1910 (50 S.)
gr. 80 M. — 80

1. In feiner Leipziger Antrittsvorlefung zeigt R. an
dem Beifpiel des Konfirmationsproblems, wie die Disziplin
der praktifchen Theologie dieGefchichte weder als Tyrannin
noch als gleichgültig betrachten darf, fondern fie als eine
notwendige Quelle des Verftändniffes für die Gegenwart
und der Wegleitung für die Zukunft verwerten muß. Durch
die Gefchichte felbft wird die Auffaffung der evangelifchen
Konfirmation als einer fakramentalen Geiftesmitteilung,
als einer fubjektivenTaulbunderneuerung, als einer kirchen-
zuchtlichen Auslefe und als einer zwangsweifen Zuführung
zum Abendmahl verurteilt. Die Konfirmation ift grund-
fätzlich berechtigt nur als eine die kirchliche Jugendunter-
weifung feierlich abfchließende Gebetshandlung der Gemeinde
. Ich freue mich, in allem Wefentlichen mit R.
übereinzuftimmen, wie meine Schrift ,Der Konfirmandenunterricht
und der Religionsunterricht in der Schule' (1907)
und befonders der darin (S. 76t.) vorgelegte Entwurf eines
Konfirmationsformulares beweift. — 2. Die gleiche freudige
Zuftimmungkannichim ganzen auch zudem zweiten Vortrag

erklären, den R. auf der Leipziger Pfingftkonferenz 1910
gehalten hat über das Thema: Welche Wünfche hat das
chriftliche Haus an die Volksfchule geltend zu machen?
Zwar glaube ich, daß R. über das Problem der Folgen
der biblifchen Kritik für den Unterricht etwas leicht hinweggleitet
, und daß feine Stellung zur Schulbibel eine
gewiffe Halbheit in fich fchließt. Aber richtig zeigt er
einerfeits, daß das chriftliche Haus in Fragen der Schultechnik
fich zurückhalten, für den Religionsunterricht nicht
das äußere Übergewicht im Schulbetrieb fordern und nicht
erwarten muß, daß die Schule eine popularifierte Dög-
matik einprägt oder durch Unterricht religiöfes Leben
erzeugen kann. Andrerfeits formuliert er die berechtigten
P'orderungen dahin, daß der chriftliche Religionsunterricht,
und zwar in konfeffioneller Geftalt, der Volksfchule erhalten
bleibe, daß biblifche Gefchichte, Bibellefen, Auswendiglernen
von Bibelfprüchen und der Katechismus —
freilich in gefunder Weife — getrieben werden müffen,
und daß nur diejenigen Lehrer diefen Unterricht erteilen
follen, denen chriftliche Frömmigkeit ernfthaft etwas gilt.
Den einzelnen Gedankenreihen der beiden Vorträge werden
die Lefer mit Intereffe folgen, wenn fie fich nicht durch
die zahlreichen Satzungeheuer in der erften Flälfte des
erften Vortrags abfehrecken laffen.

Frankfurt a/Main. Bornemann.

Referate.

Murko, Prof. Dr. M.: Zur Kritik der Gefchichte der älteren lüdllawifchen

Literaturen. An die Lefer des „Archivs für flawifche Philologie".
Laibach, L. Schwentner 1911. (36 S.) 8°
In der Theologifchen Literaturzeitung des J. 1909, Sp. 109 f. habe
ich über Murko's Gefchichte der älteren füdflawifchen Literaturen berichtet
und an ihr u. a. anerkannt, daß fich der Verfaffer durch nationale
oder konfeffionelle Vorurteile nicht den Blick hat trüben laffen. In der
kleinen vorliegenden Schrift hat fich der Verfaffer gegen einen Angriff
zu verteidigen, der m. E. mit in folchen Vorurteilen wurzelt. Seine
Selbftverteidigung war angezeigt, weil jene Kritik in dem mit Recht hoch-
angefehenen .Archiv für flaw. Philologie' (XXXII, 303) erfchienen ift,
wenn fchon ich nicht ohne weiteres annehmen möchte, daß der Herausgeber
des Archivs, Jagic, fich mit dem Verfaffer der Rezenfion Ooroviü
völlig identifiziert. Auf mich hat jene Rezenfion, fchon als ich fie f. Z.
las, in faft allen ihren Ausführungen keinen Eindruck gemacht.

Göttingen. N. Bonwetfch.

Reck, Domkapit. Dr. Franz Xaver: Das Millale als Betrachtungsbuch.

Vorträge über Meßformularien. Vierter Band: Fefte und Ferien.
Erlte und zweite Auflage. Freiburg i. B., Herder 1910. (VIII, 591 S.l
gr. 8° M. 7—; geb. M. 8.20

Die erften 3 Bände diefes Werkes habe ich im Jahrgang 1909.
Sp. 571 f. u. 1910, I47f. angezeigt. Sie brachten die Behandlung der
Sonntags-Meffe des Proprium de tempore, des Commune Sanctorum nnd
in Auswahl des Proprium Sanctorum. Der vorliegende Band fügt die
in Ausficht geftellte Bearbeitung der Meßformularien für die Ferien und
Fefte im Proprium de tempore mit Ausnahme der Ferien der Quadrages
hinzu. Was ich in den früheren Anzeigen zur Charakterifierung des
Werkes gefagt habe, gilt auch von diefem neuen Bande. Ich habe dem
etwas weiteres nicht hinzuzufügen.

Halle a. S. Paul Drews.

Seil, Prof. Karl: Die Religion unlerer Klafliker. Leffing— Herder—

Schiller—Goethe. 2., durchgängig verb. Aufl. Tübingen, J. C. B.

Mohr 1910. (VIII, 323 S.) gr. 8" Geb. M. 4—-

Diefes Buch hat die verdiente Beachtung gefunden, wie die neue
Auflage beweift. Im Grunde ift es noch ganz dasfelbe Buch wie in der
erften Auflage. Es find nur hin und wieder Abfchnitte eingefügt, die
neue literarische Erkenntniffe, Erweiterungen früherer Abfchnitte, kleine
und größere Einfchübe, z. B. über Goethe's Iphigenie, bringen. Der
Umweg, mittels der Klafliker Religion zu pflegen, wird fich noch weiter
bewähren.

Heidelberg. F. Niebergall.

Ragaz, Leonhard: Du 80IIIL Grundzüge einer fittlichen Weltanfchauung.
Zweite Auflage. (Neue Pfade zum alten Gott. Bd. VII.) Oßmann-
ftedt bei Weimar 1911. Berlin-Schöneberg, Proteftantifcher Schriftenvertrieb
. (VI, 124 S.) M. 2 —; geb. M. 2.50
Im Vergleich mit der erften Auflage, die ich ThLZ 1905, Sp. 92
befprochen habe, hat dies Buch mannigfaltige Änderungen erlebt. Aber
fie betreffen nur fein Äußeres: einmal ift der Verlag und die ganze Aus-
ftattung anders geworden — die frühere Ausftattung gefiel mir beffer —;
dann aber hat R. fehr viel umgefchrieben, befonders die früher etwas
leicht gehaltenen Stellen über die Freiheit und das Gewiffen. Sie haben
einen etwas gelehrten Anftrich bekommen, unter dem hoffentlich für die