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Ausgabe:

1911 Nr. 8

Spalte:

240-242

Autor/Hrsg.:

Schulte, Joh. Chrysostomus

Titel/Untertitel:

P. Martin von Cochem. 1634 - 1712. Sein Leben und seine Schriften, nach den Quellen dargestellt 1911

Rezensent:

Bruckner, Albert

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 8.

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ficherlich den bisher wohl fehr unterfchätzten Anteil des
Chriftentums an der Geifteskultur des mittelalterlichen
Orientes in das gebührende Licht fetzen.

Bonn. M. Horten.

Müller, Prof. D. Dr. Nikolaus: Philipp Melanchthons letzte
Lebenstage, Heimgang und Beltattung nach den gleichzeitigen
Berichten der Wittenberger Profefforen. Zum
350. Todestage Melanchthons. Mitzwei Tafeln. Leipzig,
M. Heinfius Nachf. 1910. (X, 156 S.) gr. 8" M. 5 —

Es war ein glücklicher Gedanke des Mannes, dem
Bretten das Melanchthonhaus verdankt, zum 350jährigen
Todestag Melanchthons den lateinifchen und deutfchen
Bericht über fein Lebensende in forgfältigem Text mit
umfangreichen Erläuterungen herauszugeben. Die letzte
Ausgabe von Bretfchneider CR X, 208ff. 253 ff. entfprach
den wiffenfchaftlichen Anforderungen in keiner Weife.
Müller gibt den Text des lateinifchen Berichts von 1560
und in den Fußnoten die Verbefferungen und Erweiterungen
der zweiten Auflage von 1561/62 und von dem
fiebenmal gedruckten deutfchen Bericht den Text der
erften Ausgabe und in den Fußnoten die fachlichen
Abweichungen des zweiten. Den Apparat der Anmerkungen
konnte niemand in diefer Fülle geben, wie Müller,
der das einfchlägige Aktenmaterial von Wittenberg,
Weimar, Dresden etc. und die Wittenberger Rechnungen
durchforfcht hat und die gedruckte Literatur genau kennt.
Es ift ihm gelungen, den neuerdings viel verkannten und
gefcholtenen treuen Gehilfen Luthers, den Praeceptor
Germaniae, uns hier ,als den Arbeiter' zu zeigen, ,der
feine Kräfte im Dienft feines Berufes verzehrt, als den
Chriften, der wohl vorbereitet feinem letzten Stündlein
entgegenfieht', ,den Beter, der die Kirche und ihre Einigkeit
auf fürbittendem Herzen trägt', ,der Wittenberger
Hochfchule Seele und Krone, die nicht nur die Freunde,
Amtsgenoffen und Schüler, fondern auch die Mitbürger
verehren und lieben'.

Es ift fchwer zu fagen, was man mehr bewundern
foll, die fich felbft vergeffende Liebe, die nur an das
Wohl der ganzen Kirche und nicht an die eigene Lage
denkt, oder die Seelenftärke, mit welcher der todkranke,
fchwache Mann fich noch in den Hörfaal und den Senat
fchleppt, um feinen akademifchen Pflichten zu genügen,
oder die Seelenruhe, mit welcher er auf fein Lebenswerk
zurückfchaut und bei allen Schattenfeiten der neuen
Kirche und bei allen augenblicklich obfchwebenden und
unter Flacius Führung immer bitterer werdenden Streitigkeiten
doch fpricht: ,Nu, fie machens gleich, wie fie
wollen, fo ift dennoch durch Gottes Gnade unfere Lehre
richtig und klar' (S. 72). Der kleine Mann, der für das
Reich Gottes in der Gelehrtenwelt, auf Reichstagen und
Religionsgefprächen Großes geleiftet hat, ift fern von
allem Selbftruhm. Klein und arm fehen wir ihn da, wo
der Menfch fich am aufrichtigften gibt, im Gebet. Wir
dürfen fein tägliches Gebet, noch auf dem Sterbelager,
belaufchen. Wohl überrafcht es durch feinen ftark dog-
matifchen Ton und feine Länge. Man fleht, es ift; der
Gelehrte, der hier mit Gott redet, aber er redet in herzergreifender
Demut (S. 77ff.). Wir können ihn beobachten
in den kleinften Dingen, überall bekommen wir den Eindruck
von dem Adel der Seele, von der Durchbildung
diefes reinen Charakters. Die Männer, welche Tag und
Nacht um ihn waren, berichten ftaunend, wie Melanchthon
auch bei den natürlichen Bedürfniffen ,mundus et pudens',
ja ,pudentissimus' war, und daß ihm die Anwefenheit
von teilnehmenden Leuten peinlich wurde, weil er in der
Fieberhitze die Beine nicht bedeckt halten konnte, und
ihm das Betaften zuwider war. Der einzige Kummer,
der ihn drückt, ift die Verwirrung der Kirche durch die
Streitigkeiten der Theologen. Bei der Nachricht von der
Wiedereröffnung des Trienter Konzils freut er fich, daß

der Tod ihn der Teilnahme am Konzil überhebe, ,denn
was da für ein fchendlich gebeis fein würde, auch auf
unferm teil, das hette ein jeder zu erachten' (S. 70). Wir
verliehen diefe Äußerung bei der Erinnerung an das
Wormfer Religionsgefpräch, aber die vom Vater (S. 62)
ererbte Bitte um die Einigkeit der Kirche, welche der
beherrfchende Gefichtspunkt Melanchthons wurde, ließ
ihn auch in den letzten Tagen nicht zu einem billigen
Urteil über feine Gegner kommen, in denen er nur
,Schelmen', d. h. unaufrichtige, ehrgeizige Leute fah (S. 69).
Und doch zeigt die Gefchichte des Philippismus, der zum
Kryptocalvinismus wurde und — eine bisher unbekannte
Tatfache, die Müller aufgedeckt hat (S. 93) — felbft Luthers
Lieder aus der Wittenberger Stadtkirche entfernte,
diefelbe Erfcheinung, wie der ganze Kampf von Katholizismus
und Proteftantismus. Das einfeitige Streben nach
Einigkeit geht leicht auf Korten der Wahrheit und Wahrhaftigkeit
. Das opferfreudige Eintreten für die Wahrheit
aber ift auch dem Illyricus und feinen Anhängern bei
aller Einfeitigkeit nicht zu beftreiten. Die künftige Biographie
Melanchthons darf fich des neu erfchloffenen,
kritifch beleuchteten, manichfach berichtigten Materials
in den beiden Berichten freuen.

Aus ihnen lernt man die Lebensgewohnheiten des Reformators, feine
Wohnung (vgl. das Titelbild), feine Koft, feine Kleidung kennen — in
den alten Tagen trug er 3 Hemden über einander. Peucer pflegt ihm die
Haare zu fchneiden. Das Reifebett ift ihm bequemer als das Faulbett. Als
Pfälzer liebt er den von Mathefius und Reysmaun gelobten ,Gänsfüffer',
der von feiner Farbe den Namen hat (S. 17). Das Hamburger Bierfüpplein
erquickt noch den Sterbenden.

Müller lehrt uns aber in den Erläuterungen die ganze
Umgebung Melanchthons kennen. Die Univerfitäts-
gefchichte Wittenbergs erfährt eine Marke Bereicherung
nicht nur durch Biographien der Angehörigen Melanchthons
, z. B. feines Sohnes Philipp, feiner Tochter, vor
allem feines Schwiegerfohnes Peucer, fondern auch feiner
Amtsgenoffen wie Eber, der das ,promptuarium' Melanchthons
hieß, Örtels, Milichs, Rüdingers und einer ganzen
Reihe anderer Männer. Dankenswert ift das Schreiben
der Univerfität an den Kurfürften nach Melanchthons Tod
und deffen Antwort, die ebenfo den Fürften wie den
Toten ehrt (S. 136), und der Nachweis, daß das Bild
Melanchthons auf dem Sterbelager, das Müller gibt, von
Cranach flammt. Intereffant ift die unmutige Äußerung
Brücks über das ,Poetenvolk' (S. 46).

Zu bedauern ift, daß Müller dem reichhaltigen Buch,
das viel nachgefchlagen werden wird, kein Regifter beigab

S. 33, Z. 44 wäre zu ,unicus et pauper' auf Pf. 25, 16 zu verweifen.
Zu beanltanden ift die Unterfcheidung zwifchen dem ,Pfälzer' Melanchthon
und dem ,Franken' Örtel S. 134. Denn die Pfälzer find auch Franken.
Melanchthon fühlt fich m. E. felbft als Franke. Das zeigt fein Lob des
fränkifchen Volkscharakters gegenüber den Schwaben. Auch ift feine
ganze Geiftesart, der Sinn für das Maßvolle, für das Anftändige, auch
fein Humor, der felbft noch auf dem Sterbelager hervorbricht und am Scherz
fich freut (z. B. S. 71, 75), echt fränkifch. Zu unterfcheiden wäre der
Rheinfranke M. und der Oftfranke Ö.

Stuttgart. G. Boffert.

Schulte, Lekt. P. Joh. Chrysoftomus, O. M. Cap.
P. Martin von Cochem. 1634—1712. Sein Leben und
feine Schriften, nach den Quellen dargeftellt. (Freiburger
theologifche Studien. Herausgegeben von
G. Hoberg und G. Pfeilfchifter. 1. Heft.) Freiburg
i. B., Herder 1910. (XV, 207 S.) gr. 8° M. 3 —

Wenn Schulte in der Einleitung (S. 3) zu feiner Biographie
des äußerft fruchtbaren und vielgelefenen religiöfen
Volksfchriftftellers P. Martin von Cochem (1634—1712)
fchreibt: ,Eine den Anforderungen der Wiffenfchaft auch
nur einigermaßen genügende, abgefchloffene Darfteilung
des Lebens und Wirkens P. Martins ift nicht vorhanden'
fo gewinnt der Lefer dadurch den Eindruck, als ob das
vorliegende Werk diefen Anforderungen einigermaßen