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Ausgabe:

1911 Nr. 8

Spalte:

236-237

Autor/Hrsg.:

Soden, Hans Freiherr von

Titel/Untertitel:

Eine neue Handschrift des pseudocyprianischen Liber de rebaptismate 1911

Rezensent:

Koch, Hugo

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 8.

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bewegen fich im allgemeinen in denfelben Bahnen wie
Werner, find in manchen Punkten, z. B. bei der Be-
fprechung der angeblichen Epilepfie, der erblichen Be-
laftung, ausführlicher, bringen viele Beifpiele aus der
Gefchichte und aus der Gegenwart, find aber weniger
präzis und teilweife ftark anekdotenhaft. Die Verfuchung
liegt ja nahe, in einem für weitere Leferkreife beftimmten
Buche allerlei Belehrendes über geiftige Abnormitäten zu
bringen; aber ihr mußte hier, wo es fich um die Kritik
eines anderen Autors handelte, doch mehr widerftanden
werden. Ausführlich wird gezeigt, daß es fich bei den
fubjektiven Erfcheinungen, die Jefus bei der Taufe und
bei anderen Gelegenheiten hatte, nicht um Sinnestäu-
fchungen im pfychiatrifchen Sinne gehandelt haben kann,
daß namentlich auch unter dem ,Geift, der aus ihm fprach',
nicht wirkliche Gehörshalluzinationen zu verftehen feien;
dabei wird auf das Beifpiel des Sokrates und feines
öaifiöviov hingewiefen, das Sch. mit dem ,Gewiffen' des
modernen Menfchen vergleicht. Wenn man berückfich-
tiot, wie fchwer bei einem lebenden Geifteskranken
manchmal Halluzinationen einwandfrei nachzuweifen find,
und wie vorfchnell diefe Diagnofe häufig, namentlich
von jüngeren Kollegen, geftellt wird, fo hätte die Beweisführung
, mit der de Looften ein halluzinatorifches
Gedankenlautwerden bei Jefus wahrfcheinlich machen will,
eigentlich noch fchärfere Abfertigung verdient. Daß die
Nahrungsenthaltung in der Wüfte nicht mit der Nahrungsverweigerung
melancholifcher Kranker zu identifizieren
ift, wird ebenfalls erwähnt.

Bei der Paranoiafrage werden eine Anzahl religiöfer
Paranoiker, fog. ,Anftaltsmeffiaffe' vorgeführt und wird gezeigt
, wie fie allgemein, auch unabhängig von ihren Größenideen
, Züge geiftiger Störung aufweifen. Und hier weift
Sch. mit Recht darauf hin, daß der Meffiasglaube, die
Parufie und ähnliche Teile der Lehre Jefu in den religiöfen
Anfchauungen feines Volkes und feiner Zeit wurzelten,
daß folche ,Dinge des religiöfen Glaubens', die oft Eigentum
eines ganzen Volkes find, nicht als Wahnideen im
pfychiatrifchen Sinne gedeutet werden dürfen. Dann betont
Schäfer, wie übrigens auch Werner an einer Stelle,
daß die Neufchaffung einer Religion von größerer fittlicher
Kraft durch Jefum, einer Religion, die den Gang der Welt-
gefchichte für Jahrtaufende beeinflußt hat, nichts gemein
habe mit denunfruchtbarenLeiftungenparanoifcherSekten-
ftifter. Schließlich werden auch einzelne kleine Züge be-
fprochen, die Looften als Defekt der pfychifchen Perfönlich-
keit Jefu deutet, wie z. B. fein angeblicher Mangel an
Kunftfinn. Mit Recht bemerkt Sch., daß diefes Moment
für die Beurteilung der geiftigen Gefundheit abfolut unerheblich
ift, daß die ins Übertriebene gefteigerte äfthetifche
Empfindfamkeit mancher unferer Zeitgenoffen eher ein
Zeichen der Dekadenz ift So kommt auch Schäfer auf
etwas komplizierten Gedankengängen zu dem Refultat,
daß eine Kritik der Überlieferung an der Perfönlichkeit
Jefu nichts Pathologifches erkennen läßt, daß fein Bild in
den Evangelien dem Ideal der Menfchheit, dem Ebenbild
Gottes am nächften kommt.

3. Das Büchlein von Seeligmüller, dem bekannten
Nervenarzt in Halle, dient einem ähnlichen Zweck: er will
die vonKrenkel und anderen vertretene Anfchauung, daß
der Apoftel Paulus an Epilepfie gelitten habe, widerlegen.

S. gibt zunächft eine kurze Darftellung des klinifchen
Bildes der echten Epilepfie und betont namentlich fcharf
die Trennung zwifchen den kurz auftretenden körperlichen
Erfcheinungen und Bewußtfeinsftörungen des Anfalls von
den Dauerveränderungen, welche die Epilepfie an der
Pf/che der Kranken macht. Er zeigt dann, daß Paulus
auch nach der Darftellung Kr enkels auf intellektuellem
wie affektivem Gebiet, wie in feinen Willensleiftungen
nichts mit den krankhaften Zügen der Epileptiker gemein-
fam gehabt habe. Auch die pofitiven Angaben der ge-
fchichtlichen Überlieferung, vor allem des .Pfahls imFleifch',
dann die vifionären Erfcheinungen des Paulus, auch die

angebliche Augenkrankheit können im Lichte der heutigen
Kenntnis der Epilepfie nicht eindeutig als Symptome
derfelben angefprochen werden. Zum Nachweis echter,
fchwerer Epilepfie — und nur diefe könne hier in Betracht
kommen — würde noch nicht einmal die Feftftellung eines
Krampfanfalls genügen; es müßte mindeftens weiter nach-
gewiefen werden, daß bei diefem Krampfanfall das Bewußt-
fein aufgehoben war und die nachträgliche Erinnerung
fehlte. Beides trifft aber für Paulus nicht zu. Die Vifion
in Damaskus als Äquivalent eines epileptifchen Anfalls
anzuflehen, ift man nicht berechtigt, wenn nicht außerdem
wirkliche Anfälle nachgewiefen find. Die durch Dämonen
erteilten Fauftfchläge auf den Kopf, ferner auch das Aus-
fpucken vor einer Krankheit brauchen nicht auf Epilepfie
fpeziell gedeutet zu werden. S. bemerkt mit Recht, daß
auch Angftzuftände, Alpdrücken und Ähnliches im Älter-
tum der Einwirkung von Dämonen zugefchrieben wurden
und daß das Ausfpucken als apotropäifches Verfahren
vielfach in Gebrauch war.

Einige weitere Einwände Seeligmüllers dürften einer
ftrengen Kritik nicht ftandhalten: daß Paulus in fchwierigen
Situationen [Ephefus, Schiftbruch] keinen epileptifchen
Anfall bekam, ift noch kein Gegenbeweis; auch fchwere
Epileptiker find in diefer Beziehung völlig unberechenbar;
ebenfo kann das Vorhandenfein oder Fehlen des Wandertriebs
(Poriomanie) weder für noch gegen die Diagnofe
Epilepfie verwertet werden. Noch weniger beweiskräftig
ift natürlich die Schlußfolgerung (S. 60): Die Glaubwürdigkeit
der Zeugenausfagen von Epileptikern wird häufig
angezweifelt; Paulus aber hat als ,Zeuge des Evangeliums'
bis heute Glauben gefunden. Verdienftvoll ift es, daß S.
in einem weiteren Kapitel die immer wieder mitgefchleppte
Fabel von der Epilepfie anderer hervorragender Männer
bekämpft [Mohammed, Napoleon u. a.]; es wird eben auch
hier aus dem Auftreten eines Krampfanfalls oder eines
diefem ähnlichen Zuftands fälfchlich auf Epilepfie ge-
fchloffen.

Zum Schluß werden die Krankheiten, die man etwa
fonft bei Paulus annehmen könnte, befprochen. S. fcheint
die Annahme von Migräneattacken oder von Malaria
wahrfcheinlich. Hier möchte ich bemerken, daß Lietz-
mann, (Handbuch z. N. T.) eine Hyfterie für wahrfcheinlich
hält. Auch das wird fchwer zu beweifen fein, wenn man
nämlich darunter ein vollentwickeltes hyfterifches Krankheitsbild
mit Anfällen, Charakterdegeneration, patho-
logifcher Reizbarkeit, Egoismus pp. verfteht. Bei all
diefen Erörterungen kommt aber immer wieder in Betracht,
was ich fchon in der Einleitung zu diefen Befprechungen
bemerkt habe, daß die fog. Neurofen: Epilepfie, Hyfterie,
Neurafthenie und die Pfychopathien fehr komplizierte
Krankheitsbilder find mit zahlreichen, bis in die Breite
des Gefunden und der höchften geiftigen Leiftungsfähigkeit
reichenden Grenzgebieten. Wir finden heute mit unferer
verfeinerten klinifchen Unterfuchungsmethode hyfterifche
Symptome da und dort, auch bei fonft ganz anderen
Zuftänden, ohne daß wir deshalb gleich die Diagnofe
einer Hyfterie machen. Noch viel weniger ift dies berechtigt,
wenn uns eben nur einzelne Züge, nicht das Gefamtbild
der betreffenden Menfchen bekannt find. Alle diefe Kritiken
können deshalb der Hauptfache nach nur zu einem
negativen Refultat kommen: Im vorliegenden Falle, daß
das Vorhandenfein einer fchwereren Epilepfie bei Paulus
aus dem zur Verfügung flehenden Material nicht gefchloffen
werden darf. An welcher Art Krankheit er gelitten hat,
wenn er wirklich krank war, wird fich mit einwandsfreier
Sicherheit nie feftftellen laffen.

Göttingen. Wilhelm Weber.

Soden, Hans von: Eine neue Handfchrift des pseudocypria-
niichen Uber de rebaptismate. (Aus: Quellen und
Forfchungen aus italienifchen Archiven und Biblio-