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Ausgabe:

1911 Nr. 7

Spalte:

207-209

Autor/Hrsg.:

Manitius, Max

Titel/Untertitel:

Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. 1. Teil: Von Justinian bis zur Mitte des 10. Jahrh 1911

Rezensent:

Strecker, K.

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 7.

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ihn zu der Anerkennung führen müßten, daß auch auf kirchlichem Boden,
echt antik, die Formel als folche als wirkfam angefehen wurde. Vor
diefer Folgerung fcheut er offenbar zurück. Alib auch nach diefer
Seite hin empfinden wir eine Lücke.

Nachdem ich im Vorhergehenden die Seite des
vorliegenden Werkes hervorgehoben habe, die mir hinter
einer echt gefchichtlichen Unterfuchung zurückzubleiben
fcheint, wird es Zeit, nachdrücklich zu betonen, daß überall
da, wo Fr. fich frei von dogmatifcher Rückficht bewegen
kann, einen vortrefflichen, gefunden hiftorifchen Sinn zeigt
und eine bemerkenswerte Selbftändigkeit des Urteils.

So ift z. B. feine Herleitung des heutigen Gebrauchs von Weih-
waffer und Weihwafferbecken an den Eingängen der Kirchen aller Beachtung
wert. Während man bisher allgemein annahm, daß im Weihwafferbecken
der letzte Reft des Cantharus zu fehen fei, deffen Inhalt die
Kirche fchließlich gefegnet, alfo zum Weihwaffer gemacht habe, leitet
Fr. den Brauch, fich beim Betreten des Gotteshaufes felbft mit geweihtem
Waffer zu benetzen, von der im 9. Jahrh. aufkommenden Sitte ab,
die ganze Gemeinde mit geweihtem Waffer am Sonntag zu befprengen.
Dadurch wurde bei dem Volke das Bedürfnis angeregt, bei dem Kir-
chenbefuch an anderen Tagen die Selbftbefprengung vorzunehmen. Dem
gab man nach in der Anbringung von Weihwaffergefaßen an den Kirchtüren
. Schließlich genügte dem religiöfen Bedürfnis auch am Sonntag
diefe Selbftbenetzung und der frühere Brauch fchlief ein (I, S. 102).

Hervorzuheben ift ferner, daß Fr. das mittelalterliche
Material in einer geradezu einzigartigen Weife be-
herrfcht, daß feine liturgifch-gefchichtlichen Analyfen
der Formeln überaus weitfichtig und ficher in den meiften
Fällen richtig find. Alles in allem ift es ein Standard
work, was Fr. über feinen Gegenftand bietet. Zum
Glück erleichtern Regifter, die über hundert Seiten füllen
, die Benutzung diefes inhaltreichen Buches.

Daß Fr. die Kritik Luthers und der Reformatoren an den Benediktionen
nicht begreift, in fich widerfpruchsvoll und fogar boshaft findet,
muß man dem Katholiken zugute halten. Wem Religion noch im Gebiet
des Magifchen liegt, kann jene nicht verliehen. Wir Evangelifchen
werden daher lächelnd diefe Seiten des Buches bei Seite legen.

Auf Einzelheiten einzugehen, verbietet der Raum. Zum Schluß
möchte ich mir nur noch einen Hinweis auf eine Luzerner Handfchrift
des 15. Jahrh. erlauben (Kantonsbibl. Msc. 37, 40), die mir unlängft in
die Hand kam. Dort flehen Bl. 28 ff. einige ,benedictiones in die passae'.

Halle a. S. Paul Drews.

Manitius, Max: Gefchichte der lateinifchen Literatur des

Mittelalters. Erfter Teil: Von Juftinian bis zur Mitte
des zehnten Jahrhunderts. Mit Index. (Handbuch
der klaffifchen Altertumswiffenfchaft. IX. Band, 2. Abt.,
1. Teil.) München, C. H. Beck 1911. (XIII, 766 S.)
Lex.-8° M. 15.— ; geb. M. 17.50

Im Vorwort zum erften Bande seiner ,Quellen und
Unterfuchungen' weift Traube der lateinifchen Philologie
des Mittelalters die doppelte Aufgabe zu, das Fortleben
der Antike im Abendlande zu erforfchen und die neue
lateinifche Literatur, die in den chriftlichen Reichen des
Westens entftand, zu betrachten und ihre Entwicklung zu
verfolgen. Eine Gefchichte der lateinischen Literatur
des Mittelalters muß nach diefen beiden Gefichtspunkten
gewürdigt werden.

Manitius hat feit Jahrzehnten mit tiefdringendem Eifer
den Einfluß der römifchen Literatur auf die fpäteren
ftudiert und in zahlreichen Arbeiten die ,Anleihen der
mittelalterlichen Autoren aus den Schätzen des Altertums'
nachgewiefen. Dazu kommt feine intime Bekanntfchaft
mit den mittelalterlichen Bibliotheken und ihren reichen
Schätzen. So haben wir hier an ihm einen zuverläffigen
Führer, und mit Befriedigung und Staunen fleht man,
welch ein gewaltiges handschriftliches Material verarbeitet
worden ift. Diefe Seite der Aufgabe ift durch das Buch
ganz außerordentlich gefördert; das zeigt fchon ein Blick
in den Index, wo Vergil mehr als eine Spalte, Cicero
:!/4 Spalte einnimmt usw.

Aber diefer Vorzug ift doch auch eine Schwäche.
Man verflache, fich in demfelben Index über die literari-
fchen Leiftungen von Tours, St. Gallen uaa. zu orientieren
: es ift unmöglich. Das ift, wie mir fcheint, kein
Zufall, fondern fymptomatifch: der zweite und mindeftens

doch eben fo wichtige Teil feiner Aufgabe hat den Ver-
faffer nicht intereffiert; zu der unter dem Schutze der
Antike entftandenen neuen Literatur, foweit fie nicht
einen gelehrten Charakter trägt, hat er kein näheres Verhältnis
; fie wird entweder als nicht ,zur eigentlichen Literatur
' gehörig (S. VI. VII) kurzerhand beifeite ge-
fchoben oder aber vom Standpunkt der Antike aus betrachtet
. Worin der Charakter der .eigentlichen Literatur'
befteht, erfahren wir nirgends, wie überhaupt der Verfaffer
mit grundfätzlichen Darlegungen fehr fparfam ift. Jedenfalls
werden auf die Weife ganze große Teile der Literatur
einfach eliminiert. Gibt es etwas, das für das MA.
charakteriftifcher wäre als das Heiligenleben? Hier fpielt
es eine mehr als untergeordnete Rolle, z. B. S. 223: ,Die
andern Werke des Gregor (von Tours) gehören fämtlich
der Heiligenliteratur an und find daher (sie) hier auszu-
fchließen'. Und den .wichtigen karolingifchen Heiligenleben
' werden ganze 6 Seiten gewidmet, während z. B. Remigius
v. A. allein 14 Seiten erhält, und von den behandelten
Stücken find 5 metrifch, 2 profaifch, alfo eine rein
formale Auswahl. Gar keine Gnade findet die Hymnendichtung
, die 53 Bände der Analecta hymn. werden ignoriert
, felbft wo fie eigentlich gar nicht zu umgehen waren,
wie A. h. 5°> 96 ff. zu Beda; auch die Sequenzen treten
zu fehr zurück. Die rhythmifche Dichtung wird ebenfalls
ftark vernachläffigt. Mir ift es unverftändlich, wie das
Gedicht über Pippins Avarensieg, Angelberts Rhythmus
über die Schlacht bei Fontanetum u. dgl. unbeachtet
bleiben konnten. Wie wenig fich der Verfaffer für diefe
Dinge intereffiert, geht daraus hervor, daß er W. Meyers
.Gefammelte Abh.' nicht benutzt, fondern auf die Einzel-
auffätze verweift. Das ift für den Lefer unbequem, und
ihm entgehen die vielen Verbefferungen, die W. Meyer
eingefügt hat. Nicht aus Pedanterie moniere ich das,
der Abfchnitt über die Berner Rätfei S. 192—193 z. B.
ift dadurch fchon jetzt veraltet. (M. weiß z. B. nicht,
daß W. Meyer jetzt der Berliner Hs., die übrigens s. IX,
nicht XI ift, mit Recht eine hervorragende Stellung zuweift
; wenn Schenkls Arbeit erwähnt wird, durften von
Winterfeld und Cornu nicht fehlen. Beckers unglückliche
Konjektur rotarum S. 192, 4 hätte nicht nachgefchrieben
werden follen. Warum eigentlich .Berner' Rätfei? Eben-
fogut konnten fie Wiener, Admonter ufw. heißen. Eben fo
unberechtigt ift S. 635 die Bezeichnung .Veronefer' Rhythmen
. Das ift geradezu irreführend, wenn man bedenkt,
daß in Verona wichtige Rhythmenhss. liegen, die hier nicht
gemeint find.)

Diefe Einfeitigkeit tritt immer wieder ftörend hervor.
Die behandelten Literaturwerke werden zu wenig für fich,
zuviel als Subftrat gelehrter Forfchung betrachtet. Z. B.
S. 77 Bedas ,liber de temporibus'. Wer das Buch nicht
kennt, wird durch die Ausführungen, die fich lediglich
aul Quellennachweise befchränken, auch nicht fehr gefördert
. Mag man das bei einem folchen Werke fchließlich
in den Kauf nehmen, aber ift es z. B. mit der Lan-
gobardengefchichte des Paulus diac. anders? Ein Verfluch,
dies feffelnde Buch zu charakterifieren, ift kaum gemacht.
Mag Manitius feine Literaturgefchichte auch als Nach-
fchlagebuch gedacht haben, etwas plaftifcher hätten die
einzelnen Autoren doch herausgearbeitet werden müffen.

Verftimmend wirkt auch die ungleichartige Behandlung
des Stoffes; einiges ift zu eingehend, anderes oberflächlich
. Wenn z. B. der Verfaffer von der cena Cypri-
ani fprechen wollte, fo durfte er im Intereffe der Lefer,
denen diefe Literatur zumeift fern liegen wird, den wichtigen
Auffatz von Brewer, auch den von Harnack nicht
ungenannt laffen. Hagen hat die cena Cypriani nicht
ediert, fondern aus Baluze abgedruckt, diefer benutzte
allerdings ,eine große Anzahl von Hss.', fie Hammen
aber faft alle aus einem Archetypus ufw. — Noch ein
Übelftand: Wie erwähnt, meidet der Verfaffer prinzipielle
Auseinanderfetzungen. Das fällt um fo mehr auf", als
Traube in der faft gleichzeitig in demfelben Verlage er-