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Ausgabe:

1911

Spalte:

185-187

Autor/Hrsg.:

Smend, Julius

Titel/Untertitel:

Evangelische Predigten samt den zugehörigen Gottesdienstordnungen 1911

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 6.

186

5. ,Chrifti Kreuz und Chrifli Geift.' Aller Enthufiasmus
icheitert an dem Leiden im Chriftenleben. Chrifti Kreuz
ift aber mehr als bloß Vorbild und Symbol unteres
Leidens. 6. Das ,Chriftentum der Tat', nicht bloß ein
Chriftentum als Troft, ift notwendig. 7. ,Die Furcht
Gottes' ift nicht aus dem Chriftentum auszufcheiden,
fondern fie gehört als Untergrund und ftets zu überwindendes
Moment in das chriftliche Gottvertrauen hinein.
8. ,Chriftlicher Sozialismus' wirft der fozialdemokratifchen
Arbeiterbewegung vor, daß fie nach der Herrfchaft des
Arbeiterftandes ftrebe. Gar zu naiv und einfach ift L.s
Löfung: ,es handelt fich um dasjenige Maximum von
Wohlftand, welches der fozialen Stellung des Arbeiters
entfpricht und fich mit dem Wohlftand der übrigen
Stände und des ganzen verträgt' (S. 120). 9. .Goethes
Ethik.' Ihr Grundgedanke ift: der Menfch foll fich zum
harmonifchen Kunftwerk entfalten, wie das Univerfum
ein Kunftwerk ift. Schleiermachers Ethik ift gründlich
mißdeutet, wenn L. meint, die Monologen vertreten die-
felbe Ethik. Die Züge, die über die äfthetifche Ethik
bereits in den Monologen hinausweifen und fpäter in
den Abfchnitten über das reinigende und verbreitende
Handeln zur Ausführung kommen, werden von L. über-
fehen, wenn er bloß das darftellende Handeln bei Schleiermacher
in Betracht zieht.

Daß der Kampf des Chriftentums mit andern Welt-
und Lebensanfchauungen auf dem Gebiet der Ethik aus-
gefochten werden muß, hierin nimmt (S. V) Lütgert z. B.
mit Tröltfch u. a. überein. In der Tat zeigt fich dies
immer deutlicher. Nur brauchen wir gefchloffenere Darftellungen
einer ,theozentrifchen' Ethik. Ich will nicht
verhehlen, daß mir dies Schlagwort in unferer an verkehrten
Parolen reichen Zeit eine glückliche Bildung zu
fein fcheint, auch wenn die gewaltfame und ungerechte
Art, in der Schaeder die Parole ,theozentrifche Theologie
' vertreten hat, zu Mißdeutungen führen muß.

Bafel. Johannes Wendland.

Smend. Julius: Evangelifche Predigten Tarnt den zugehörigen
Gottesdienitordnungen. Straßburg, E. van Hauten 1910.
(VIII, 266 S.) gr. 8° M. 4—; geb. M. 5 —

Von den vorliegenden 36 Predigten find 24 im Aka-
demifchen Gottesdienft in Straßburg, 5 in der dortigen
Reformierten Kirche, 7 bei verfchiedenen Gelegenheiten
auswärts gehalten. Die Akademifchen Predigten ziehen
das liturgifche Intereffe in befonderer Weife auf fich,
weil bei ihnen der liturgifche Rahmen in der Anfangs-
wie in der Schlußliturgie nach den Gefichtspunkten uns
dargeboten wird, die der Verfaffer in feinem ,Kirchenbuch
für evangelifche Gemeinden' entwickelt hat. Sie werden
dadurch zu Mufterbeifpielen für liturgifch reich gefchmück-
te Hauptgottesdienfte. Die Ausftattung der Feiern mit
Gemeinde- und Chorgefang ift aus forgfältiger Überlegung
mit Prof. Fr. Spitta erwachfen; die Wahl der Chorgefänge
ift ausfchließlich Spittas Werk. Die Namen der beiden
verbündeten Theologen bürgen dafür, daß jede der
Akademifchen Feiern in Liturgie und Predigt, in Form
j l1 , ein harm°nifches einheitliches Ganzes bildet,
und der allgemeine Eindruck, den der Lefer empfängt,
beftatigt das günftige Vorurteil. Mehr jedoch als einen
allgemeinen Eindruck aus dem Buche zu gewinnen, wird
nicht möglich fein. Denn der Wortlaut der Gebete, der
Gemeindelieder, der Chorgefänge, auch der Predigttexte,
wird nicht mitgeteilt. Nur Hinweife auf die Fundorte im
Kirchenbuche Smends, in dem Gefangbuch für Elfaß-Lo-
thringen, in der zahlreichen Literatur der Chorgefänge
werden gegeben, fo daß nur der, welcher alle diefe
Werke zur Hand hat, jede Feier fich vergegenwärtigen
kann. Es wäre zu wünfchen gewefen, daß wenigftens
eine Feier in extenso, die Mufiknoten eingefchloffen, dargeboten
wäre.

Die Kompofition der Liturgie ift individuell auf jede
Feier geftimmt, auch in der Ausdehnung, die in der
Anfangsliturgie mitunter nur 2, öfter aber auch mehr, bis
zu 5, Chorgefänge umfaßt. Nur das ift allen Feiern ge-
meinfam, daß ein Chorgefang die Anfangsliturgie eröffnet
, ein Gemeindegefang fie befchließt, daß in
der Schlußliturgie unmittelbar auf die Predigt ein Gemeindegefang
folgt, daß das Dankgebet und das Fürbittgebet
durch einen Chorgefang verbunden werden,
und daß der Segen auf den letzten Gemeindegefang
folgt. Das hier ftreng durchgeführte liturgifche Gefetz,
das leider oft mißachtet wird, ift befonderen Aufmerkens
wert.

Wie die Kompofition der Liturgie, fo zeugen auch
die Predigten von einem künftlerifchen Feinempfinden.
So fehr ich für Beobachtung homiletifcher Regeln und
Ordnungen einzutreten mich für verpflichtet halte, fo
weiche ich doch dem Geftändnis nicht aus, daß diefer
Feiergabe gegenüber alles, was auch nur von fern an
homiletifche Mechanik erinnern könnte, ganz ftimmungs-
widrig fein würde. So wird nur hie und da die Pro-
pofition in verdeckter Weife angegeben, in vielen Fällen
ift auch der Verfuch des Lefers, nachträglich fich Thema
und Teile zu konftruieren, vergeblich. Ich wiederhole
gern das Wort, daß dem Meifter der Rede die Befugnis
zuzufprechen ift, in freiefter Weife mit dem homiletifchen
Handwerkszeug zu verfahren. Vorbildlich kann das jedoch
nur für ebenbürtige Meifter der Rede fein. Nicht
fo unbedingt nehme ich die faft durchgehende Vernach-
läffigung des Textes in Schutz. Nicht feiten wird der
Text zu einem bloßen Motto, der Prediger läßt an dem
allgemeinen Eindruck des Textes fich oft genügen, um
fofort zur Anwendung zu fchreiten, und die dem allgemeinen
Eindruck nicht zugänglichen verborgenen Goldadern
des Textes bleiben unaufgedeckt. Die Predigten
find Betrachtungen, feinfinnig, geiftvoll, eine lautere, warmherzige
, begeifterungswillige Frömmigkeit offenbarend,
nicht feiten durchzogen von großer Zartheit des fittlichen
Empfindens oder von herzgewinnender Liebenswürdigkeit.
Daß hie und da die edle religiöfe Begeifterung durch
äfthetifierendes Gewand nicht zu ungetrübter Erfcheinung
kommt, darf ich nicht verfchweigen. So wird in der fo
tiefgründenden Karfreitagspredigt das Gebet Jefujoh. 17,1
umfchrieben: ,Vater, vollende dein Werk an mir! Mache
mich herrlich, Vater, mache mich fchönl' In der Ausführung
heißt es: Ja, die Schande, der Fluch, der Hohn
der Welt ift durch ihn die Sch önheit felbft geworden'
und ,die Schönheit felbft' wird in den brechenden Augen'
dem zermarterten Leibe, den ausgebreiteten Armen dann
yeranfchaulicht (S. 91 f.). Gemeint ift augenfcheinlich ,die
innere, ewige Schönheit' der Treue, des Friedens, der
Macht der Leibe in ihrer Vollendung, die unter den
Kreuzesqualen vollendet wurde, wie das Glaubensauge das
alles unüberbietbar in dem gekreuzigten Heiland fchaut.

Die Smend eigentümliche Beurteilung der gottes-
dienftlich verfammelten Gemeinde ,als der Gemeinfchaft
der Frommen und Treuen, die alle mit Ernft Chriften
fein wollen, der glücklichen Chriftenmenfchen, der begnadeten
und auserwählten Seelen, der Beati possidentes,
der lachenden Erben aller Verheißungen Gottes' ufw. ift
bekannt; die am Gottesdienft teilnehmen, ohne den Mut
zu finden, zu folchem Bewußtfein fich zu erheben, gehören
eigentlich nicht hinein, fie find Gäfte und Fremdlinge
. Außer der Karfreitagspredigt tritt allerdings diefe
Auffaffung nur in der erften Predigt, hier jedoch mit
Marken Ausdrücken, hervor. Gleichwohl fehlt es nicht
an fehr ernften Warnungen (17. Predigt), die den Frommen
zuteil werden, die fich für geborgen halten, aber halbblind
verderblicher Sicherheit verfallen. Auch in der 15. Predigt
tritt der Verfaffer mit großer fittlicher Energie und
unverblümter Geradheit dem Mißbrauch Paulinifcher
Heilsgewißheit entgegen.

I