Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1911 Nr. 6

Spalte:

180-181

Autor/Hrsg.:

Kallmeyer, Theodor

Titel/Untertitel:

Die evangelischen Kirchen und Prediger Kurlands. 2. Ausg 1911

Rezensent:

Grass, Karl Konrad

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

179

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 6.

180

Gefangbuchs: ,Der heilige Gefang oder vollftändiges
katholifches Gefangbuch für den öffentlichen
Gottesdienft und die häusliche Andacht' (fo lautet
der Titel von der zweite Auflage ab).

Es tritt uns in der Schilderung des Verf.s ein überaus
fympathifches Bild eines katholifchen Pfarrers entgegen
, der 30 Jahre lang mit frohem Sinn und warmem
Herzen, überaus felbftlos, anfpruchslos und gaftfrei feiner
Gemeinde dient, aus eigenen Mitteln ihr eine Mädchen-
fchule baut, eine Induftriefchule einrichtet, die das Mufter
wird für ähnliche Einrichtungen diefer Art in Weftfalen,
vor allem für die Pflege der Muflk und des Gefanges in
feiner Gemeinde tätig ift. Aus größeren Knaben bildet
er fleh eine Muflkkapelle, mit der er es wagen kann, eine
ganze Meffe vierftimmig mit Orchefterbegleitung in feiner
Kirche aufzuführen. Aus diefer befonderen mufikalifchen
Begabung und Liebe zum Gefang entfprang wohl auch
das Unternehmen, das feinen Namen in weiteren Kreifen
bekannt machte, fein Gefangbuch, dasi8o3 zuerft hervortrat
, 1807 von ihm völlig umgearbeitet wurde und dann
eine ganze Reihe von Auflagen und Nachdrucken erlebte.
Der Juftizamtmann Kayfer zu Oeflinghaufen Kr. Soeft
verfaßte auf feine Veranlaffung ein vierftimmiges Choralbuch
dazu.

Herolds Gefangbuch ift noch ein Produkt der Aufklärungszeit
, aber eins der befferen. Große Selbftändigkeit
zeigt es nicht. Es fleht ganz auf den Schultern feiner
Vorgänger aus diefer Zeit. Die Lieder, die H. bringt,
hat er ,aus den betten approbierten Gefangbüchern des
katholifchen Deutfchlands', wie er felbfl auf dem Titelblatt
der erften Auflage fagt. zufammengetragen. Auf die
Quellen geht er nirgends zurück. So kommt es — wodurch
diefes Gefangbuch für uns intereffant ift, — daß
dies bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts gebrauchte
katholifche Gefangbuch unter feinen 351 Liedern
nicht weniger als die Hälfte evangelifche Lieder hat, aus
allen Epochen der ev. Kirchenliederdichtung, vornehmlich
freilich der Aufklärungszeit (51 z. B. von Geliert und
feiner Schule). H. hat fie, meift ohne ihre Herkunft zu
ahnen, aus feinen Vorlagen übernommen, die fie größtenteils
fchon in veränderter Form brachten. — Übrigens
haben nicht erft die katholifchen Gefangbuchverfaffer
der Aufklärungszeit diefe .recht kräftige Anleihe in Liedern
im Nachbarhaus' gemacht, wie eine Äußerung des Verf.
(S. 125 u.) verftanden werden könnte, weil fie ,Gefänge
fuchten, die das praktifche Chriflentum empfehlen und
von allen Chriften unferes Vaterlandes gefungen werden
können, ohne daß fie in ihrer Andacht durch Stellen
geftört werden, welche ihrer inneren Überzeugung Gewalt
antun' (Vorr. zu Werkmeifters Gefangbuch z. Gebr. d.
herzogl. Württ. kathol. Hofkapelle 1784, bei Bäumker
das katholifche Kirchenlied III, 148), und man folche
Lieder katholifcherfeits nicht hatte. Das katholifche
deutfehe Kirchenlied nach der Reformation hat auch fonft
kräftige Anleihen beim evangelifchen gemacht. Im Anfang
des 18. Jahrhunderts hat das kathol. Danziger Gefangbuch
(1732) nicht weniger als 100 proteftantifche Lieder
gehabt, das Paderborner (1765) 80, das Königsberger 123!

— Die eigene Arbeit Herolds beftand alfo darin, daß er

— immerhin meift mit mehr Gcfchmack und Takt als
feine Vorgänger — die aufgenommenen Lieder in gram-
matifcher, afthetifcher und theologifcher Beziehung ,korri-
gieite', und mit feiner Auswahl den mannigfachen Be-
dürfniflen des gottesdienftlichen Lebens und der häuslichen
Andacht beffer gerecht zu werden fuchte als es
die Gefangbücher feiner Zeit fonft taten.

Die vorliegende Arbeit ift ein wertvoller Beitrag zur
hymnologifchen Forfchung, forgfältig gearbeitet und mit
unbefangenemUrteil und gefunden hymnologifchen Grund-
fätzen.

Breslau. P. Gennrich.

Kallmeyer, weil. Paft. Theodor: Die evangelifchen Kirchen

und Prediger Kurlands. Bearbeitet, ergänzt und bis

zur Gegenwart fortgefetzt von Dr. med. G. Otto.

Herausgegeben von der kurl. Gefellfchaft f. Literatur

und Kunft. Zweite Ausgabe. Riga, (Jonck & Po-

liewsky) 1910. (XX, 781 S.) gr. 8° M. 8.80

Diefe Frucht emfigften Sammelfleißes dient in erfter
Linie dem Intereffe an fpeziellfter Lokal- und Familien-
gefchichte. Das Buch enthält (S. 47—203) kurze ge-
fchichtliche Abriffe über alle einftigen und jetzigen
lutherifchen Gotteshäufer Kurlands (nebft je einem chro-
nologifchen Regifter ihrer Prediger) und (S. 204—752)
über 1500 Lebensläufe kurländifcher Paftoren aus vier
Jahrhunderten, alphabetifch geordnet. Aber es hat auch
allgemeineres Intereffe. Denn beide Abteilungen enthalten
viele wichtige Baufteine für die noch ungefchriebene
Kirchengefchichte Kurlands. Ein Anfatz dazu ift die
Einleitung (S. 2— 46). Danach ift in der Zeit der deut-
fchen Ordensherrfchaft (bis 1561) Kurland nur fpärlich
mit Gotteshäufern befetzt gewefen. Außer den Kirchen
in den Ordens- und bilchöflichen Schlöffern find nur
ca. 35 Kirchen und ca. 20 Kapellen nachweisbar. Die
Kraft des livländifchen Zweiges des deutfehen Ordens
lag eben in dem infolge des einträglichen Handels mit
Rußland dichtbevölkerten heutigen Livland und Eftland
(damals war ,Livland' Gefamtbezeichnung aller drei Provinzen
), die weit mehr Städte befaßen als gegenwärtig
und auch auf dem Lande gut mit Kirchen verfehen
waren. Das an Rußland nicht direkt angrenzende Kurland
aber hatte nur die Bedeutung eines Bindegliedes
mit Preußen. Hatte Kurland noch in der Ordenszeit
den evangelifchen Glauben angenommen, fo ift doch
das lutherifche Kirchenwefen erft von feinem erften
Herzog, dem letzten livländifchen Ordensmeifter Gotthard
Kettler (1561—87), geordnet worden, der nach
dem Zufammenbruch des Ordens im Kriege mit Iwan
dem Schrecklichen Kurland von Polen zu Lehen
nahm. Auf dem von ihm nach Riga berufenen Landtage
der kurländifchen Ritterfchaft wurde der Rezeß
vom 28. Februar 1567 erlaffen, der die Errichtung von ca.
70 Kirchen anordnete, die bis 1570 auch wirklich erbaut
wurden. Ferner wurde in Mitau ein Konfiftorium eingefetzt
und vom erften Superintendenten A. Einhorn
eine Kirchenordnung verfaßt (1572 in Roftock gedruckt).
Durch fpätere Stiftungen der Herzöge und der Ritterfchaft
flieg aber die Zahl der Gotteshäufer noch bedeutend
, fodaß, wenn alle noch vorhanden wären, es
130 Hauptkirchen mit 144 Predigern, 54 Filialkirchen
und 13 Bethäufer in Kurland geben müßte. Aber eine
ganze Reihe von Gotteshäufern ging der lutherifchen
Kirche infolge Katholifierung der Gutsbefitzer verloren,
auf deren Lande fie ftanden, ferner gingen viele Gemeinden
infolge der fürchterlichen Teft von 1710 ein,
die mehr als die Hälfte der Bevölkerung und faft die
Hälfte der Paftoren (54) wegraffte. So beliehen denn
heute nur noch 97 Hauptkirchen mit 109 Predigerftellen
(von denen 7 infolge des Theologenmangels unbefetzt
find) und 70 Filialkirchen und Bethäufer, wahrlich überaus
wenig für eine evangelifche Bevölkerung von rund
700,000 Seelen auf 500 Quadratmeilen. Die Erhaltung
des Kirchenwefens ift eben ganz auf private Mittel an-
gewiefen, der ruffifche Staat befoldet nur (in fehr kärglicher
Weife) die Glieder und Beamten des Konfiftoriums
in Mitau, obgleich er die Kraft und Zeit der Paftoren
durch ftandesamtliche Arbeiten und von den Behörden
eingeforderte lonftige Auskünfte fehr in Anfpruch nimmt.
In der ungenügenden kirchlichen Bedienung liegt
neben dem feit der Ruffifizierung im Argen liegenden
Volksfchulwefen einer der Hauptgründe, warum die
Maffe der lettifchen Bevölkerung in einigen Jahren durch
die fozialdemokratifche Propaganda gewonnen und in die