Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1910 Nr. 6

Spalte:

174-178

Autor/Hrsg.:

Friedensburg, Walter (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Archiv für Reformationsgeschichte. Texte und Untersuchungen. Nr. 21 - 24, 6. Jahrg 1910

Rezensent:

Bossert, Gustav

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

173

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 6.

174

der der magister bei der Interpretation eines Autors des
trivium oder quadrivium verfuhr, auf die Lektüre der
Bibel. Litera und sensus, auch historia im weiteften
Sinn des Worts genannt, ergaben den erften oder wörtlichen
Schriftfinn; die sententia, der tiefere Lehrgehalt,
ergab den zweiten allegorifchen Schriftfinn; den moralifchen
Nutzanwendungen, die fchon bei der profanen Lektüre
üblich waren, entfprach der dritte tropologifche oder
moralifche Schriftfinn. Die Anpaffung der Regeln, die
fchon Tichonius, Kaffiodor und vor allem Auguftin (de
doctrina Christiana 1. II. III) und Rhabanus Maurus (de
clericorum institutione l. III) über die Auffindung des
wörtlichen und des tieferen Schriftfinns gegeben hatten,
an die mittelalterliche Unterrichtsmethode vollzog Hugo
von St. Victor im Didascalion. Für den Unterricht in
der heiligen Schrift bildete die historia das Fundament,
die allegoria die Mauern, die tropologia die Krönung
und Verzierung des Gebäudes. Wie entwickelten fich
nun hieraus die erflen theologifchen Sentenzenbücher und
Summen? Diefe Frage wird in den beiden letzten Kapiteln
behandelt. Die Schwierigkeit, die es im Mittelalter
machte, die zahlreichen Werke der Väter und Doktoren
für den Unterricht zur Hand zu haben, die Gefahren, die j
lieh daraus für die Handhabung der allegorifchen Auslegung
vom fchulpädagogifchen Standpunkt aus ergaben, |
machte Extrakte notwendig, die das für den Unterricht j
in der heiligen Schrift nötige Material aus den Vätern I
und Doktoren kurz zufammenfaßten und ordneten. So :
entftehen zunächft ungeordnete Exzerpte aus Origenes,
Eufebius, Ambrofius, Hieronymus, Auguftin ufw., foge-
nannte flores oder sententiae, dann Extrakte, die nach
den Büchern der h. Schrift geordnet find, fog. catenae,
fchließlich Stellenfammlungen, die nach einem logifchen j
Gefichtspunkt zufammengeftellt find, indem fie zunächft I
um einzelne Lehrpunkte im Intereffe der Polemik gegen :
Härefien gruppiert werden, dann aber die verfchiedenen
Teile des theologifchen Gefamtunterrichts zufammen- i
faffen, fog. sententiae und sunimae. Ifidor von Sevilla ift
der Verfaffcr der erften derartigen Sammlung {Sentcntiaruin
libri tres oder de sununo bono). Sehr intereflant ift, wie
von diefem unterrichtspädagogifchen Gefichtspunkt aus
Streiflichter auf die Werke Anfelms fallen, von denen
z. B. das Monologium und Prosologium den Charakter
klöfterlicher collationes tragen, und auf die Kompofition j
von Hugos De Sacramentis, das als eine Anwendung j
der im Didascalion angegebenen Unterrichtsmethode und j
Stoffeinteilung zu begreifen ift. Um von diefem Gefichtspunkt
aus die dialektifche Methode der großen fchola-
ftifchen Summen vollends ganz zu verffehen, bedarf es
nur noch eines Abfchnittes über den einflußreichften
Hochfchulprofeffor der damaligen Zeit, Peter Abälard,
dem das letzte Kapitel gewidmet ift. Auch bei Abälard
hängt, was er für die Entwicklung der Theologie geleiftet
hat, eng mit feiner Hochfchulwirkfamkeit zufammen, mit J
feiner Virtuofität in der für den damaligen Dozenten fo
wichtigen Kunft der disputatio, der konverfatorifchen
Behandlung der Streitfragen. In Abälards Sic et non ,
verbindet (ich mit der für den Schulgebrauch notwendigen
Zufammenftellung der Autoritäten eine von beftimmten
Regeln heherrfchte Technik der disputatio. In der im j
Prolog gegebenen Formulierung diefer Regeln folgt er
zunächft Ivo von Chartres, entnimmt aber dann Auguftins
De doctrina Christiana die wichtigfte Regel, die durch
ihn eine weittragende Bedeutung bekommt: Pacilis autem
plcrumque controversiarum solutio reperieiur, si eadem
verba in diversis significationibus a diversis auctoribus
de/enderepoterimus. Da die Feftftellung der verfchiedenen 1
Bedeutungen eines Wortes Sache der Logik ift, fo ergibt
lieh aus der Befolgung diefer Regel die dem Abälard
eigentümliche Synthefe der patriftifchen, auktoritativen
und der dialektifchen, rationalen Methode, die der Dialektik
die entfeheidende Bedeutung gibt, ohne fich doch
dem Vorwurf auszufetzen, die Auktorität der Väter zu |

ignorieren. Damit ift für die Entftehung der großen
Summen des 13. Jahrhunderts der Weg bereitet.

Es läge nahe, diefer Arbeit Roberts Einfeitigkeit
vorzuwerfen, die Ableitung der inneren Bewegung der
Ideen von den äußerlichen Bedingungen der Unterrichtstechnik
zu beanftanden. Allein für die Aufhellung des
noch weithin verfchloffenen und undurchfichtigen Gebiets
der vorthomiftifchen mittelalterlichen Theologie helfen
uns neben exakten Detailforfchungen gerade folche ein-
feitig orientierten Monographien, die einen Faden aufgreifen
und durch das ganze Gewebe hindurch verfolgen,
mehr als dogmengefchichtliche Kompendien, die ein alle
Faktoren berückfichtigendes und dadurch verwirrendes
Gefamtbild jener Periode geben.

Halle a. S. Karl Heim.

Archiv für Reformationsgefchichte. Texte und Unterfuchun-
gen. In Verbindung mit dem Verein für Reformationsgefchichte
herausgegeben von Walter Friedensburg.
Nr. 21—24. 6' Jahrgang. 4 Hefte. Leipzig, M. Hein-
fius Nachf. 1909. M. 21.20

Inhalt. Heft i: Spitta, Friedrich, Die Bekcnntnisfchriften
lies Herzogs Albrecht von Preußen. (160 S.) M. 7 —.

Heft 2: Müller, Nikolaus, Die Wittenberger Bewegung 1521
u. 1522. L — Kawerau, Guftav, Miszellaneen zur Reformationsgefchichte
I—III. — Friedensburg, W., Fünf Briefe Georg Witzeis
(1538—1557). (100 S.) M. 4.40.

Heft 3: Müller, Nikolaus, Die Wittenberger Bewegung 1521 u.
1522. II. — Clemen, Otto, Aus Hans von Dölzigs Nachlaß. —
Wotfchke, Theodor, Zum Briefwechfel Melanchthons mit Polen.
(100 S.) M. 4-55-

lleft 4: Herrmann, Fritz, Mainz-Magdeburgifche Ablaßkißen-
vifitationsprotokolle. — Müller, Die Wittenberger Bewegung 1521
u. 1522. III. (112 S.) M. 5.25.

Der VI. Jahrgang des Archivs für Reformationsgefchichte
bietet neben dem Literaturbericht diesmal nur
fieben Arbeiten, da zwei derfelben, von Fr. Spitta und
Nik. Müller, mit Recht drei Viertel des Ganzen in An-
fpruch nehmen. In die Anfänge der Reformation führt
F. Herrmann mit der Abhandlung über die ,Mainz-
Magdeburg ifchen Abi aß kiftenvifitations Protokolle
'. Er gibt einen willkommenen Beitrag zur Ergänzung
von Schultes Werk über die Fugger in Rom
und zeigt, daß der Gefamtertrag des Albrecht von Mainz-
Magdeburg übertragenen Ablaßhandels fich vorläufig noch
nicht berechnen läßt, denn keiner von den Orten, für
welche Herrmann zu den bisher bekannten drei noch
weitere dreizehn Vifitationsprotokolle der Ablaßkiften
neu aufgefunden hat, ift in den Fuggerfchen Abrechnungen
genannt. (S. 364). Lehrreich ift, wie vorfichtig
Leo X. und Albrecht von Mainz in der Sicherftellung
ihrer 50 Prozent der Ablaßerträge vorgingen, wie feft die
Ablaßkiften verfchloffen fein mußten, wie über jede
Kiftenöffnung ein dreifaches Protokoll aufzunehmen war.
Für Duderftadt liegen jetzt die Ergebniffe der beiden
Ablaßverkündigungen im Juni 1517 und im Juli 1518 vor.
Es zeigt fich, daß von einer Einwirkung des von Luther
hervorgerufenen Entrüftungsfturms hier nichts zu fpüren
ift, denn die Einnahme ift 1518 nicht erheblich geringer
als 1517. Herrmann beleuchtet auch den in 12 Protokollen
auftretenden Kommiffär Joh. Breidenbach und die
Menge der im Gebiet des Erzftifts Mainz vertriebenen
Abiäffe, von denen er die wichtigften namhaft macht.
Man fieht, wie notwendig eine ftrenge Prüfung der Ablaßbriefe
, ja fämtlicher apoftolifcher Briefe war, da vielfach
Fälfchungen vorkamen und die Ablaßprediger
öfters fehr zweifelhafte Perfönlichkeiten waren.

Von aktueller Wichtigkeit ift ,die Wittenberger Bewegung
1521 und 1522' von Nik. Müller, der zunächft
das Quellenmaterial, Briefe, Akten, Rechnungsauszüge ufw.
gibt und hoffentlich im nächften Jahrgang eine Dar-