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Ausgabe:

1910 Nr. 5

Spalte:

155-156

Autor/Hrsg.:

Hunzinger, August Wilhelm

Titel/Untertitel:

Das Christentum im Weltanschauungskampf der Gegenwart 1910

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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155

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 5.

156

fierendes Wefen. Natürlich nicht im Dogma — im Dogma
war Löhe durch und durch lutherifcher Theologe —,
wohl aber in feiner fchwärmerifchen Verehrung für ;
heilige Frauen (Rofenmonate), in feiner Auffaffung des
Gottesdienftes, befonders der Abendmahlsfeier, wie das
zur Genüge aus dem Vorwort zur erften Auflage feiner ■
Agende für chriftliche Gemeinden des lutherifchen Be- 1
kenntniffes hervorgeht. Der Verfaffer hätte wohlgetan, ;
diefe allerdings nicht vorbildlichen Züge nicht fo fchroff j
in Abrede zu ftellen.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Hunzinger, Profeffor Dr. A. W., Das Chriltentum im Welt-
anlchauungskampf der Gegenwart. (Wiflenfchaft und Bildung
. 54.) Leipzig, Quelle & Meyer 1909. (154 S.)
8° M. 1—; geb. M. 1.25 i

Ein Beitrag zur Apologetik. Sechs Kapitel.

I. Woher der mannigfache Widerfpruch, auf den
heutzutage die chriftliche Weltanfchauung allerorten
flößtf Unzweifelhaft ift daran zum Teil die Kirche 1
fchuld, fofern fie, auch als proteftantifche, vielfach den
Regungen des vom mittelalterlich-klerikalen Joch fich
emanzipierenden und nach Selbftändigkeit ringenden
modernen Geifteslebens fchroff abweifend entgegengetreten
ift. Anderfeits i(t nicht zu leugnen, daß von den
Tagen der Renaiffance an die neuzeitliche Auffaffungs- 1
und Denkweife von gewiffen naturaliftifchen Neigungen
und Velleitäten infiziert war, die notwendig zu Konflikten
führen mußten.

II. Summarifche Darftellung der chriftlichen ,Welt-
anfchauung', die als folche von einem bloßen .Weltbild'
fcharf unterfchieden und nach ganz ähnlichem Verfahren ;
wie in der Publikation des felben Autors ,Gott, Welt,
Menfch' (vgl. Theol. Literaturzeitung, Nr. 21, Jahrg. 34) 1
aus dem chriftlich-religiöfen Erlebnis abgeleitet wird.

III. Ausführung des Gedankens, daß die chriftliche ;
Weltanfchauung und die exakte Naturwiffenfchaft, wo
fich beide ihrer Grenzen bewußt bleiben, gar nicht mit
einander kollidieren können. Und zwar wird die Scheide- l
linie mittels einer phänomenaliftifchen, das heißt, ideal- I
realiftifchen Erkenntnistheorie — die Terminologie des
Verfaffers felbft ift eine etwas andere — fo gezogen, daß
der exakten Naturwiffenfchaft die durch unfere An-
fchauungs- und Denkformen geftaltete Erfcheinungswelt,
der chriftlichen ,Weltanfchauung' die ,Welt an fich' zu-
gewiefen wird. Indeffen wird diefe Grenzregulierung
offenbar nicht immer konfequent feftgehalten: fo bei- !
fpielsweife nicht, wenn es in der an fich nicht zu be- [
mängelnden Erörterung über die Vereinbarkeit von Natur-
gefetzlichkeit und religiöfem Wunder heißt, daß die '
Gottheit die .Naturgefetze' als ,Mittel' gebrauchen
könne, um ,neue Konftellationen überrafchender, ja noch
nie dagewefener Art auftreten zu laffen'.

IV. Von der exakten Naturwiffenfchaft find gewiffe
metaphyfifche Syfteme zu unterfcheiden, die tatfächlich
zu der chriftlichen Weltanfchauung in Gegenfatz treten,
und mit denen daher eine befondere Abrechnung unumgänglich
ift. So wird denn zunächft der materialiftifche
Monismus fpeziell in der Form, die er bei Haeckel annimmt
, einer fachlichen und von unvornehmen Übertreibungen
freien Kritik unterzogen. Ebenfo die energe-
tifche Weltanfchauung Oftwalds, wenn gleich da die
Hand des Autors etwas weniger ficher und glücklich ift.
Von anderm abgefehen, dürfte mindeftens die Frage aufgeworfen
werden, ob die abfällige Befprechung des Begriffs
unbewußter pfychifcher Vorgänge ganz dem Stand der
gegenwärtigen pfychologifchen Forfchung entfpricht.

V. Als weitere widerchnfthche metaphyfifche Syfteme
werden der .voluntariftifche Idealismus' (Wundts und
Paulfens), der .Bewußifeinsmonismus' und die Hartmann-
fche Philofophie des Unbewußten widerlegt oder abgelehnt.

VI. Ein kurzer Schlußabfchnitt befchäftigt fich mit
dem Verhältnis der chriftlichen Weltanfchauung zur
modernen hiftorifchen Kritik. Im Mittelpunkt der Aus-
einanderfetzung fleht die Thefe, daß, wenn auch der
Evolutionsgedanke eine unentbehrliche Arbeitshypothefe
der heutigen Gefchichtswiffenfchaft fei, diefe doch nicht
das Recht habe, die Realität von Erfcheinungen und
Vorgängen zu leugnen, die fich mittels der Entwicklungstheorie
nicht reftlos begreifen und ableiten laffen und
deshalb als fupranatural gelten müffen.

Bei der Würdigung des Buchs wird man billigerweife
im Auge behalten müffen, daß es fich um die Reproduktion
von Vorlefungen handelt, die urfprünglich
für einen Volkshochfchulkurfus beftimmt waren und alfo
populärer Art find. Aber felbft, wenn man das in An-
fchlag bringt, wird man doch den Wunfeh kaum unterdrücken
können, daß die beiden letzten Kapitel ungedruckt
geblieben oder umgearbeitet worden wären. Wie
leicht es fich der Autor mit feiner Metakritik der hiftorifchen
Kritik macht, geht allein fchon aus einem Vergleich
feiner Ausfuhrungen über den Entwicklungsgedanken
mit den ganz anders gründlichen und forgfältigen
einfehlägigen Erwägungen Beths hervor. Auf ein paar
Seiten i(t ferner eine befriedigende Auseinanderfetzung
mit dem ,Bewußtfeinsmonismus', unter welchem Begriff
augenfeheinlich fo verfchiedene und heterogene Größen,
wie die fogenannte Immanenzphilofophie, der Solipfismus,
der Empiriokritizismus, der transzendentale Idealismus
zufammengefaßt werden, felbftverftändlich gar nicht möglich
. Darum wäre fie beffer ausgefallen. Und dann: wenn
überhaupt eine Abwehr der Weltanfchauungen Wundts und
Paulfens am Platze war — es gibt, das wird auch der
zugeben müffen, der die Gedanken diefer Philofophen nicht
teilt, augenblicklich gefährlichere ,Gegner' des Chriftentums
—, fo mußte doch zunächft eine möglichft objektive, ja
vorteilhafte Darfteilung, der betreffenden metaphyfifchen
Syfteme geboten werden. Es ift nun nicht nur Vermutung,
fondern Gewißheit, daß der leider zu früh verdorbene
Berliner Philofoph, der es als eine Lebensaufgabe betrachtete
, zwifchen Wiffenfchaft und Religion zu vermitteln
, fich gegen das hier entworfene Bild feiner An-
fchauungen entfehieden verwahren würde. Davon, daß
auch die geübte Kritik jeweilig fehlgreift, foll gar nicht
erft geredet werden. Nur das eine: ift es wirklich, vom
Standpunkt des Chriftentums aus geurteilt, nötig, die
fpiritualiftifche Thefe zu bekämpfen, daß die Körper
durch geiftige Potenzen niedrigerer Art gebildet werden?
Diefe Anficht ift doch weder ,unchriftlicher' noch ,chrift-
licher' als die andere, die das Materielle einfach als Ausgedehntes
denkt.

Beffer wieder ift der dem Hartmannfchen Syftem
und namentlich der dem Materialismus gewidmete Ab-
fchnitt ausgefallen; wie denn die vier erften Kapitel unfraglich
die /vorteilhaftere' Seite des Buches vorftellen.
Referent hat fie zum Teil mit Genuß und Genugtuung ge-
lefen. Nur ein Bedenken, das er feinerzeit gegen die
Schrift ,Gott, Welt, Menfch' ausgefprochen, mußte er
auch hier erneuern, in etwa folgender Form. Wenn
man die chriftliche Weltanfchauung reftlos aus dem
chriftlich-religiöfen Erlebnis ableitet, fo ift doch darüber
nicht zu überfehen, daß es mancherlei Präformationen
und unvollkommene Seitenftücke zu diefer Weltanfchauung
gibt. Es würde daher die verfuchte Ableitung
nur bekräftigt und beftätigt werden durch eine Andeutung
darüber, auf welchen Erlebniffen jene Präformationen
und unvollkommeneren Seitenftücke ihrerfeits
beruhen. Mit andern Worten, die von Hunzinger vertretene
Sache würde bloß gewinnen, wenn die chriftliche
Religiofität nicht in dem Maße, wie es bei ihm
gefchieht, gegenüber aller andern Religiofität ifoliert
wurde.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.