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Ausgabe:

1910 Nr. 5

Spalte:

137-139

Autor/Hrsg.:

Stanton, Vincent Henry

Titel/Untertitel:

The Gospels as Historical Documents. Part II 1910

Rezensent:

Clemen, Carl

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 5.

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Stellen wie Joh. 3, 16 keine Erwähnung finden. Der .unleugbare
Gnoftizismus' des Evangeliums fällt nicht dem Joh.,
fondern feinen Interpreten zur Laft; wie foll eine Schrift,
die eine Wiedergeburt und den Übergang vom Tod zum
Leben kennt, gnoftifch dualiftifch fein und dann trotzdem
kirchliche Sanction gefunden haben ? Dasfelbe gilt von der
Eliminierung der efchatologifchen Stellen; wer die Lazarus-
gefchichte erzählt, fteht zu Tod und Auferftehung nicht
wie ein Spiritualift. Freilich diefe letztern Aufllellungen
find Thefen nicht bloß des Veifaffers. Aber ich bekenne,
daß ich feit lange aus keinem Buch den Eindruck folcher
Willkür und Kritiklofigkeit der NT.lichen Einleitungs-
wiffenfchaft bekommen habe. Indem ich dies fchreibe,
kämpft bei mir die Pietät gegen den Verdorbenen, der auf
die an feinem Buch geübte Kritik nicht reagieren kann,
mit dem ftärkeren Gefühl, welche arge Vergewaltigung
die NTlichen Autoren durch diefen Kritiker fich gefallen
laffen müffen. Ich kann mir das nur fo erklären, daß
der Verfaffer, der auf dem Gebiet der Kirchengefchichte
in den letzten Jahren uns fo glänzende und bedeutende
Werke gefchenkt hat, zu deren Verehrern auch ich gehöre
, im Gebiet feiner früheren Forfchung nicht mehr
nüchtern gearbeitet hat, fondern fich fertigen Traditionen
fowie dem geiftreichen Spiel feiner Phantalie vertrauens-
felig hingab. Das wird bei einer folchen Popularifierung
gerade der am meiden bedauern müffen, dem es darum zu
tun id, daß die freie Auffaffung der Bibel fich in immer
weiteren Krtifen befedigen kann, wie dies Hausrath
felber bezweckt hat.

Bafel. Wer nie.

Stanton, Prof. Vincent Henry, D.D., The Gospels as Hi-
storical Documents. Patt IL The Synoptic Gospels.
Cambridge, University Press 1909. (XII, 376 p. with
2 Tables.) gr. 8° s. 10 —

Der erde Teil diefes großangelegten Werks id 1903
erfchienen und in Nr. I des Jahrgangs 1905 diefer Zeitung
befprochen worden. Wie damals, könnte man
auch jetzt fragen, ob das fynoptifche Problem — denn
darum handelt es fich diesmal im wefentlichen — nochmals
fo ausführlich behandelt zu werden brauchte. Aber
wenn auch dabei namentlich in Kap. 1, das die Zweiquellentheorie
fchildert, manches vorkommt, was wenig-
dens uns Deutfchen längd geläufig id — einiges andre,
wie namentlich die Annahme aramäifcher Originale für
jene Quellen, hätte vielleicht umgekehrt etwas eingehender
befprochen werden können — fo findet fich doch
auch hier, wie fchon in dem erden Band, vieles, was die
bisherigen Unterfuchungen ergänzen, korrigieren oder
wenigdens bedätigen kann.

Dahin rechne ich gleich in Kap. 2, das die Redenquelle
behandelt, die Rekondruktion derfelben, die ftellen-
weife von der Harnacks abweicht — auf das einzelne
kann ich hier nicht eingehen. Nur das eine möchte ich
erwähnen, daß St. fo wenig wie Wellhaufen, Harnack,
Burkitt und Bacon einen Beweis für das Vorhandenfein
eines Berichts über die Taufe Jefu in Q erbracht
haben; letzterer hatte fogar in der Harvard Theological
Review 1908, 56 auf Bedenken gegen diefe Theorie auf-
merkfam gemacht. Auch id es St. fo wenig wie Harnack
gelungen, Mt. 5, 18 als ein echtes Herrenwort
verdändlich zu machen; für Imxa und xtQata, wenn
auch unter Verweifung auf the figurative language
of the East, the great principles of the Law und its
spirit einfetzen (S. 108), heißt aus fchwarz weiß machen.
Dagegen hat er wieder recht, wenn er (gegen B. Weiß
und faktifch auch Bacon) die Unabhängigkeit des Markus
von Q, wie umgekehrt (gegen Wellhaufen, dem
fich dellenweife Jülicher und E. Klodermann, ja felbd
Bouffet angefchloffen haben) die diefer Quelle vom
Markusevangelium vertritt.

In Kap. 3 handelt es fich befonders um den Ur-
markus, und bei diefer Gelegenheit wird zunächd eine
Frage, über die fämtliche neuere Erörterungen des
fynoptifchen Problems zu fchnell hinweggegangen waren,
gründlich unterfucht, die Frage nämlich, ob der dritte
! Evangelift nicht den erden gekannt habe. St. meint,
beider Zufammentreffen in ihrer Benutzung des zweiten
erkläre fich manchmal daraus, daß ihnen ein andrer Text
desfelben vorgelegen habe; aber wie daraus unfer jetziger
Text entdanden fein follte, läßt fich nur in einzelnen
Fällen wahrfcheinlich machen. Immerhin hat St. recht:
die fondigen Erklärungen für jenes Zufammentreffen, die
fich auch bei andern finden, genügen für fich nicht; will
man alfo nicht die Simons'fche Hypothefe erneuern,
wie neuerdings Allen, Soltau und Wendling tun, fo
muß man zum Urmarkus feine Zuflucht nehmen. D. h.
die Frage id immer noch nicht entfchieden und bedarl
bald einer neuen, umfaffenden Behandlung.

Wenn St. weiter dort, wo der dritte Evangelid etwas
aus unferm jetzigen Markus nicht bringt, auf einen kürzern
Urmarkus fchließt, fo fetzt er zunächd (nicht ganz

| in Übereindimmung mit S. 368) voraus, daß das erde
Evangelium, das jene Stücke hat, nach dem dritten ge-
fchrieben id. Außerdem aber hat er nur an ganz wenigen
Stellen aus Markus felbd wahrfcheinlich gemacht,

| daß derfelbe da erfl fpäter feine gegenwärtige Gedalt

j bekommen habe. Andre Urmarkushypothefen, wie fie
in neuerer Zeit aufgedellt worden find, bezeichnet St.

; felbd als unbeweisbar.

Was er zur Rechtfertigung der Tradition von dem
Urfprung des Evangeliums (nicht der papianifchen) über
das Verhältnis des Markus zu Paulus und Petrus, fowie

i die Möglichkeit, von einem folchen Mann diefe Schrift
abzuleiten, fagt, id zumeid fehr zutreffend. Nur fucht
St. manche Auslagen zu retten, die ficher ungefchicht-
lich find, und wo er felbd, wie für die Chronologie
der Leidensgefchichte, eine folche Annahme macht, verzichtet
er auf die Erklärung.

Im 4. Kapitel, das vom Lukasevangelium handelt,

| wird Harnacks fprachlicher Beweis gegen die Annahme
einer in Kap. if. verarbeiteten Quelle widerlegt,
für eine folche vielmehr der judenchriflliche Charakter
angeführt. Wenn dann doch der weitere Grund, der aus
dem Widetfpruch von 1, 34 fr. mit dem vorhergehenden
zu entnehmen gewefen wäre, deshalb nicht geltend gemacht
wird, weil diefe Ankündigung der Geburt Jefu
(die doch fchon in V. 30ff. (fand), der der des Johannes
in V. 8 ff. entfpreche, fo beweift das alles nur für die
Einheit der letzten Redaktion etwas, aber nichts gegen

1 eine oder mehrere zugrunde liegende Quellen.

Zur Erklärung des fonftigen Sonderguts des dritten
Evangeliften wird die Hypothefe erneuert, er habe eine
erweiterte Redenquelle benutzt, und mit neuen Gründen

j geftützt, von denen freilich nicht alle einleuchtend find.

| Ganz ungenügend ift die Rechtfertigung gewiffer Unge-
fchichtlichkeiten in der Apoftelgefchichte, die einem Gefährten
des Paulus nicht zuzutrauen find, in erfter Linie
ihres Berichts über das Apoflelkonzil. Nachdem fo kon-
fervative Gelehrte, wie G. Refch und A. Seeberg, und

j neuerdings Harnack zugegeben haben, daß das Apoftel-
dekret in feiner kanonifchen Form (und nur fie berück-
fichtigt St. mit Recht) mit dem Bericht des Galaterbriefs
und dem lukanifchen Urfprung der Akten nicht vereinbar
ift, follte man diefen wirklich nicht länger behaupten.
Auch die Auffaffung der Apoftelgefchichte von der
Heidenmiffion hat St. nicht gerechtfertigt, und die vom
Zungenreden nur dadurch, daß er die Worte: äxovouev
XaXovvrmv avxmv ralg queTtgcag yXojöOcaq ra utyaXtla
rov 9-eov 2,11 umfchreibt: Jews and proselytes (?) Coming
from divers eountries distinguished expressions front the
various languages with whuh tJiey were sevcrally familiär
mingling in the praises of the body of bclievers und

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