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Ausgabe: | 1910 Nr. 4 |
Spalte: | 122-124 |
Autor/Hrsg.: | Leuba, James H. |
Titel/Untertitel: | The psychological origin and the nature of religion 1910 |
Rezensent: | Mayer, Emil Walter |
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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 4.
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,der' eigentliche Chriftus fei. In feiner Legende, wahrscheinlich
auch in feiner Selbftfchätzung, gehörte er in
eine ,neue' Trinität. Das Dogma der Kirche, vieles auch
aus dem Kultus der Kirche fchimmert in der Lehre und
den Bräuchen der Sekte hervor. Unter Paul L, nach
vieljähriger Zwangsanfiedelung, aus Sibirien nach Petersburg
,berufen' (zu einer Vorftellung vor dem Kaifer,
der anfeheinend für möglich gehalten, daß er wirklich
fein Vater fei), dort dann (in einem Irrenhaufe) interniert
, unter Alexander I. freigelaffen und unbegreiflich
duldfam behandelt (hier ift vieles für diefen Zaren bemerkenswerter
, als für den ,göttlichen' Greis), hat er in
Petersburg achtzehn Jahre lang recht eigentlich für die
Befeftigung und Verbreitung feiner entfetzlichen Sekte
wirken können. Im Jahre 1820 wurde er dann doch
nochmal deportiert (nach Susdal). Aber da war es zu
fpät. Die Sekte ift bis zur Stunde nicht mehr auszurotten
gewefen und fie ift faft über das ganze Reich verbreitet
(befonders in den Städten; natürlich exiftiert fie nicht
gerade in großen Gemeinden). In Susdal gefleht der
.Erlöfer' feinem Wächter zu, felbft etwa hundert /Weißungen
' vorgenommen zu haben (er wird die wirkliche
Zahl nicht übertrieben, fondern fehr gemindert haben).
Aber er hatte viele ,Gehülfen'.
In einer feffelnden ,zufammenfaffenden Charakteriftik'
der .Persönlichkeit' des Stifters der Skopzen hat Graß
ausführlich (S. 302—338) das widerfpruchsvolle Wefen
des im gewiffen Sinne nicht unedeln, ungewöhnlich willens-
(larken, ekftatifchen, graufamen Mannes pfychologifch
zergliedert, unter Heranziehung des ruffifchen religiöfen
Milieus und zuletzt mit der Hypothefe, daß er finnifch-
großruffifcher Mifchling der Raffe nach gewefen fei. Ich
kann die letztere Mutmaßung nicht nachprüfen. Im
übrigen habe ich den Eindruck, daß Graß den gewiß
nicht gewöhnlichen' Menfchen richtig und gerecht ana-
lyfiere. Das Verbrecherifche feiner Forderung ift ihm
nie zum Bewußtfein gekommen. Er hat Züge intenfiver
Frömmigkeit (Gottvertrauen, Demut, Schuldgefühl in
einer gewiffen Allgemeinheit), er ift nicht ohne Güte
gegen feine ,Brüder'. Wirkliche Teilnahme an den
Menfchen verrät er doch kaum je. Er ift ein .Organ
Gottes'. Pfychopathifch ift er nach Graß nicht zu nennen.
Nur eine eigentümlich konfluierte Seele, ethnologifch
ein .Mifchling'. Graß hat fchon an anderem Ort angedeutet
, daß fich vieles in der ruffifchen Volks-, Staatsund
Kirchengefchichte erklärt, wenn man die Mifchung
der Großruffcn (nicht fowohl mit den Tataren, als) mit
den Finnen beachte.
Intereffant ift der Exkurs über eine Nebenwirkung
des Skopzentums, welche fich darfteilt in der ,Brüder-
fchaft in Chrifto', die die Obriftin Tatarinowa (eine geborene
v. Buxthöwden, Großtante von Alexander von
Öttingen), eine urfprünglich lutherifche Dame, unter
Alexander I. und befonders in Hofkreifen ftiftete. Hier
war das fpezififch fexuelle Moment der Sekte abgetan,
der .Enthufiasmus' (das religiöfe Tanzen, Weisfagen,
Zungenreden) um fo lebhafter gepflegt. Die Brüderfchaft
verfchwand unter Nikolai I.
Halle. F- Kattenbufch.
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Offizieller Bericht über den 1. Kongreß der europäilchen Bap-
tilten. Gehalten zu Berlin vom 29. Auguft bis 3. September
1908. Herausgegeben im Auftrage des Kongreßkomitees
von Pred. F. W. Simoleit. (390 S.) gr. 8°
Nicht im Handel.
Ein ftattlicher Band gibt Bericht über den großen
Haptiftenkongreß, der im Jahre 1908 in Berlin tagte. I
Naturlich ift er in erfter Linie für die Glieder der bap-
tiftifchen Gemeinfchaft felbft beftimmt, bietet aber auch
den draußenftchenden nach vielen Seiten Intereffe. Im |
Jahre 1905 tagte in London ein baptiftifcher Weltkongreß
(der erfte feiner Art), der Kongreß in Berlin trug nur |
.europäifchen' Charakter, hatte aber auch offenbar eine
große Bedeutung für die Gemeinfchaft. Er war fehr
gut befucht, gefchickt vorbereitet und durchgeführt. Teil
nahmen an ihm 1218 .Abgeordnete', darunter etwa 800 aus
nichtdeutfehen Gemeinden. Der berichtgebende Band wird
eingeleitet mit ftatiftifchen Tafeln und Zeichnungen. ,Die
Baptiften unter den Millionen Europas' betitelt fich die
erfte graphifche Darfteilung: ein Kreuz in der Mitte einer
Karte von kleinen Quadraten, die durch verfchiedene
Zeichen fo befetzt find, daß man das Verhältnis der
Religionen und chriftlichen Konfeffionen in Ziffern ab-
lefen kann. Unter 408635000 Einwohnern Europas ergeben
fich 570909 Baptiften. Alle andern (Religionen
und) Konfeffionen Europas werden unter der Tafel eigens
beziffert, nur die Proteftanten nicht; wer fich die Mühe
macht, die entfprechenden Quadrate felbft zu zählen,
fieht, daß 99700000 Proteftanten angefetzt find. Als
römifche Katholiken wird faft die doppelte Zahl kon-
ftatiert: 188 Millionen; griechifche Orthodoxe 102 Millionen
. Ob die Ziffern exakt berechnet find, habe ich
nicht nachgeprüft. Jedenfalls ift die Zahl der europäifchen
Baptiften eine folche, deren fich die Gemeinfchaft wohl
freuen darf, zumal eine Reihe anderer Tafeln durch
Kurven das Wachstum in der Zeit jeweils vom erften
Fußfaffen der Gemeinfchaft in einem Lande bis zur Gegenwart
als ein ftetig fteigendes und relativ fehr rafches
J erkennen laffen. Bei weitem die meiden Baptiften (in
abfoluter Ziffer) hat Großbritannien (im Jahre 1907)
429877. Die zweitgrößte Zahl weift Schweden auf: 48180
Demnachft kommt Deutfchland mit 38165 (in Berlin 10 Gemeinden
mit 4000 Mitgliedern). Faft alle Länder Europas
haben Baptiftengemeinden. Wieder ift wunderlicherweife
eine Rubrik hergeftellt, aus der man wenigftens fich berechnen
kann, wie fich in den verfchiedenen Ländern die
Baptiften zur römifchen Kirche in Ziffern verhalten, während
(mit welcher Abficht?) vermieden ift, kenntlich zu
machen, wie fie im einzelnen innerhalb des Proteftantismus
flehen. Die erfte graphifche Darftellung Hellt die Baptiften-
' gemeinfchaft in das Zentrum des Proteftantismus, und das
J wird ja auch die Selbftfchätzung der Gemeinfchaft ausdrücken
. Die Fülle der Anfprachen und Vorträge, die
; gehalten find, und die der Band vollftändig mitteilt (nebft
vielen Photographien der in Betracht kommenden Haupt-
perfönlichkeiten und Hauptfitzungen), gibt ein willkommenes
Gefamtbild von der geiftigen Art des Baptismus
. Über jedes größere Land wird genauer Bericht
erftattet. Die leitenden Grundfätze, die wichtigeren Unternehmungen
werden wiederholt und ausführlich be-
fprochen. Es liegt in der Natur der Sache, daß wir
andern Proteftanten (die.Staatskirchen') manchen unfreundlichen
Nebenblick erhalten. Aber ich habe mich gefreut,
zu fehen, daß doch wenig eigentliche Ruhmrednerei und
dagegen oft deutlich ein ernftlicher Wille, die Reformation
und ihre Hauptträger gerecht zu würdigen, zu Tage tritt.
Wir andern Proteftanten haben es fchließlich nicht gerade
verdient, von den Baptiften befonders gerühmt zu werden.
Für die Konfeffionskunde bietet der vorliegende Band
viel wertvolles Material.
Halle a. S. F. Kattenbufch.
Leuba, James H., The psychological origin and the nature
of religion. London, A. Constable 1909. (IV, 95 p.)
80 M. 1.20
Was diefer Schrift a priori ein Recht auf Beachtung
fichert, ift ihr Urfprung aus der FTder eines angefehenen
Mitbegründers der modernen Religionspfychologie in
Amerika. Und zwar kann der Verfaffer fich mit dem
Vorzug brüllen, daß er die betreffende Disziplin gewiffer-
maßen in reineren Formen vertritt als fein, wenigftens
in Europa, berühmterer Kollege James, der fie mit
mancherlei Erwägungen fpekulativer Art belüftet: man