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Ausgabe: | 1910 Nr. 4 |
Spalte: | 119-121 |
Autor/Hrsg.: | Graß, Karl Konrad |
Titel/Untertitel: | Die russischen Sekten. 2. Bd., 1. Hälfte 1910 |
Rezensent: | Kattenbusch, Ferdinand |
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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 4.
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liches Orientierungsmittel, das nach den verfchiedenften
Seiten hin fich fegensreich erweifen wird, als Grundlage
für hiftorifche Studien fowohl, wie für die Gegenwart.
Daß die Perfonal- und Familiengefchichte überwiegt, bedarf
keiner Rechtfertigung, aber auch keiner Entfchul-
digung, denn es ift oft genug nicht abzufehen, welche
Rolle familiäre und perfönliche Beziehungen fpielen. Doch
ift auch der fonftigen gefchichtlichen Entwicklung hinreichend
Raum gegönnt und, wo Literatur vorhanden
ift, auf diefe in forgfältigfter Vollftändigkeit verwiefen.
Zu wünfchen wäre, daß auch die übrigen nieder-
fächfifchen Landeskirchen, die braunfchweigifche ünd
oldenburgifche voran, ein gleiches Unternehmen begönnen.
Die Unterftützung der Gefellfchaft dürfte ihnen dabei
ficher fein. Würde das Beginnen auch weiterhin Nachahmung
finden, fo könnte das evangelifche Deutfchland
einen wertvollen Befitz fich fchaffen.
Die Einzelregifter, die jedes Heft begleiten, find eine
treffliche Grundlage für ein fpäter anzuftrebendes Gefamt-
regifter. Könnten fie auf die Ortsnamen ausgedehnt
werden, fo wäre das von großem Nutzen. Wünfchens-
wert wäre, daß die einzelnen Generaldiözefen durch die
gleiche Farbe des Umfchlags der Hefte kenntlich wären.
Wir wünfchen dem trefflichen Unternehmen betten
Fortgang.
Ilfeld i. Harz. Ferdinand Gohrs.
Graß, Priv.-Doz. Mag. theo!. Karl Konrad, Die rullifchen
Sekten. Zweiter Band. Die Weißen Tauben oder
Skopzen, nebft Geiftlichen Skopzen, Neufkopzen u. a.
Erfte Hälfte. Gefchichte der Sekte bis zum Tode des
Stifters. Leipzig, J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung 1909.
(IV, 448 S.) gr. 8° M. 8.50
Der erfte Band diefes wertvollen, inftruktiven Werkes
wurde 1907 abgefchloffen. Er war in Lieferungen er-
fchienen, und in diefer Weife hat Graß auch bisher den
zweiten Band erfcheinen laffen. Die Arbeit ift verhältnismäßig
rafch vorgefchritten; im Sommer 1909 konnte ein
vorläufiger Abfchluß gemacht werden. Ich hoffe fehr,
daß die noch ausftehende ,zweite Hälfte' nicht lange auf
fich warten läßt, wiewohl der Verfaffer gerade im letzten
Sommer ein volles akademifches Amt (die neuteftament-
liche Profeffur in Dorpat) erhalten hat und damit zunächft
vor viele dringliche neue Pflichtarbeiten geftellt worden
ift. Diefer Band gilt der Sekte der Skopzen (Selbftver-
ftümmler). Die vorliegende Hälfte handelt von der
,Begründung der Sekte', S. 1 —135, dann von dem ,Auf-
fchwung', den fie nach der Rückkehr ihres Stifters aus
Sibirien und feit feiner Niederlaffung in Petersburg nahm,
S. 136—448. Die Gefchichte der Sekte ift wefentlich bis
an das Ende der Regierungszeit Nikolais I. fortgeführt.
Die zweite Hälfte wird die Gefchichte bis in die Gegenwart
verfolgen und die zufammenfaffende Schilderung
ihrer Lehre, ihrer Organifation, ihres Kultus geben. Von
ihren konftitutiven Eigentümlichkeiten erfährt man ja
auch in der vorliegenden Abteilung des Werkes fchon
vieles, aber ein Überblick über das Ganze, und zwar wie
es damit noch gegenwärtig fteht, wird doch fehr willkommen
fein.
Der erfte Band des Graßfchen Werks, der von den
,Gottesleuten' oder Chlüften handelte (er wurde in diefer
Zeitfchrift 1908, Nr. 7 von mir angezeigt), hat die verdiente
Beachtung gefunden. Sowohl in Rußland, als in
Deutfchland hat man die Sorgfalt und Gründlichkeit der
Quellenforfchung anerkannt und fich dem Eindrucke
nicht entzogen, daß hier ein Beitrag zur Religionsgefchichte
(nicht etwa bloß zur Konfeffionskunde, aber natürlich
auch zu ihr) geboten werde, der wichtiger heißen muß,
als viele andere. Ich will nicht wiederholen, was ich in
meiner Anzeige des erften Bandes in diefer Beziehung
ausführte. Neben den Beiträgen zur Religionspfychologie,
fpeziell der chriftlichen, die wir amerikanifchen Forfchern
verdanken, ift diefer eines Deutfchruffen unfraglich der
weit bedeutfamere, weil kritifch beffer gefichtete, hiftorifch
folider fundierte, methodifch minder zweifelhafte! Ich
würde mich nicht wundern, wenn der Vorwurf erhoben
würde, Graß fei zu weitläufig. Das ift ja in erfter Linie
Gefchmacksfache. Man braucht gar nicht Graß' Werk
von vorn bis hinten zufammenhängend zu lefen, man
kann es als ein Nachfchlagebuch anfehen. Dann freilich
ift vieles Gleichartige darin geboten: immer wieder konkrete
Mitteilungen aus Akten, immer wieder ähnliche
kritifche Unterfuchungen. Aber das gehörtzum Material!
Man erfährt durch Graß von einer großen Literatur über
die Sekte und begreift, je mehr man fich in fein Werk
hineinarbeitet, daß er in der Kritik kaum zuviel tun
[ konnte. Nicht als ob die ruffifchen Forfcher ihrer Auf-
[ gäbe überhaupt nicht gewachfen gewefen wären, aber fie
haben großenteils für praktifche (ftaatliche, kirchliche)
Zwecke, in Erfüllung von Aufträgen zur Erstattung von
Gutachten u. dgl. gearbeitet, während Graß rein als
Hiftoriker arbeitet. Es ift ganz zweifellos noch immer
nicht genug Material aus den Akten gefördert, und Graß
j hofft mit Recht auf weitere Publikationen, die manches
erft ganz klar legen können. Bei der Heimlichkeit
(Arkandisziplin) gerade auch der Skopzen ift vieles einzelne
noch mehr oder weniger verfchleiert.
Schon 1904 edierte Graß die .geheime heilige Schrift
der Skopzen' (die Leidensgefchichte und Epifteln des
Skopzenerlöfers, gewiffermaßen das .Evangelium' und den
,Apoftolos' der Sekte, kultifch gebrauchte Dokumente,
I Selbftaufzeichnungen oder Diktate ihres .Chrihtus'); f.
darüber in diefer Zeitfchrift 1905, Nr. 12. In gegenwärtigem
Werke ift diefe ,heilige Schrift* natürlich eine
wefentliche Quelle, fie wird in das Licht der erkennbaren
Gefchichte der Entftehung und Verbreitung der Sekte
gerückt und erweift fich als fehr lehrreich, wenn man fie
erft zu lefen gelernt hat. Die Skopzi (= Verfchnittene;
felbftbezeichnen fie fich als die ,weißen Tauben': .weißen'
j ift in ihrer Sprache der technifche Ausdruck für ,ver-
fchneiden') find hervorgegangen aus den Chlüften, feit
! etwa 1770. Ihr Stifter, wie er fich felbft nannte: Kon-
| drati Seiiwanow, ift in dem größten Teile des vor-
| liegenden Bandes das Hauptobjekt der Forfchung von
Graß. Wie er wirklich hieß, wie alt er wohl geworden,
| woher er flammte, alles ift eine Frage, auf die fchwer
Antwort zu gewinnen ift. Er ftarb in Klolterhaft zu
Susdal (zwifchen Moskau und Nifchnij-Nowgorod) im
Jahre 1832, nach feiner eigenen Angabe, die Graß für
nicht ganz unglaubhaft hält, im Alter von 112 Jahren;
er flammte aus einem Dorfe nicht fehr weit füdlich von
Moskau und hieß nach Graß' Unterfuchung ,Andre
S Iwanow', ein Name, unter dem andere Forfcher einen ur-
j fprünglichen Genoffen ,Seiiwanows' vermuten. Er gehörte
zu den Chlüften, wurde unter ihnen auch als ein .Chriftus'
erkannt, löfte fich aber von ihnen (wurde von ihnen auch
preisgegeben, .verraten'), als er ihre asketifchen Forderungen
, die (nicht nur, aber in erfter Linie) der gefchlecht-
lichen .Reinheit' gelten, zufpitzte auf die Forderung der
Selbftverftümmelung. Es handelte fich dabei nicht nur
um die Entfernung der Hoden, fondern des ganzen
Gliedes. Das ift die ,Erlöfung'. Seiiwanow (der Name
ift ja nun einmal der geläufige geworden) vollzog die
,volle' Weißung an fich felbft (mit glühendem Meffer)
während feiner Deportation nach Sibirien. P"ortan nannte
er fich den .Kaiferlichen Chriftus, Peter III.'. Denn
es fei die höchfte .Krone' die er fich auf das Haupt gefetzt
habe. Graß macht es glaubhaft, daß die Selbft-
bezeichnung als Zar Peter III. nicht gemeint fei als
Proklamation feiner Identität mit diefem, in der Volks-
phantafie mit einer befonderen Gloriole umwobenen unglücklichen
Monarchen, fondern einenreligiöfen, myftifchen
Sinn habe: eben den, daß er, Seliwanow, noch ganz anders
ein Chriftus fei, als die chlüftifchen Chriftuffe, ja, daß er