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Ausgabe:

1910

Spalte:

112-113

Autor/Hrsg.:

Kreutzer, Jakob

Titel/Untertitel:

Zwinglis Lehre von der Obrigkeit 1910

Rezensent:

Cohrs, Ferdinand

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in Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 4. 112

Exegefe befonders dunkeler Stelle, mit möglichft lebendiger
Vergegenwärtigung der Situation, in der Melanch-
thon fchrieb, mit Unterfcheidung feiner pofitiv abfichts-
vollen und feiner nur polemifch gemeinten Formulierungen
und noch mit weiteren Gefichtspunkten Licht
zu bringen gefucht, haben fich wechfelfeitig kritifiert,
zum Teil fich mit Einwänden, die fich untereinander
aufheben, bekämpft und die Sache dabei allerdings noch
nicht zu Ende führen können. Am fchmerzlichften
empfindet Thieme die Situation. Er war (in dem fehr
umfichtigen Auffatze ,Zur Rechtfertigungslehre der Apologie
', Studd. u. Kritt. 1907, S. 363—389) der letzte vor
Kunze, der eigens und fpeziell das Thema behandelt. Ich
kann weder hier die Streitfituation vollftändig fchildern,
noch gar meinerfeits eine Entfchtidung treffen wollen. In
der Sache — wenn man Differenzen der Argumentierung
auf fich beruhen läßt — kommt Kunze der Auffaffung,
die Loofs, unter Neuaufnahme der Frage und gewiffen-
hafter Prüfung der erfahrenen Einfprüche, in der 4. Auflage
feiner Dogmengefchichte (1906, § 83, 4, befonders
Anm. 15, ib. 76—e) dargeboten hat, nahe. Thieme fteht
nicht fern. So mag man konflatieren, daß das ,Problem'
fich doch wohl feiner Löfung nähere. Das Neue, was
Kunze beibringt, ift in erfter Linie der Gedanke, daß
an einigen fchwierigen, zumal an der fchwierigften
Stelle eine Textemendation vorzunehmen fei. Und
vielleicht ift das wirklich ein glücklicher Gedanke. Die
größte cmx interpretum ift der § 72 bei Rechberg
(= Müller, Symb. Bücher, S. 100): Et qiäa justifican
significat ex injustis justos effici seit regeuerari, significat
et justos pronuntiari seu reputari. Utroque enivi modo
loquitur scriptura. Ideo pnmum volumus hoc ostendere,
quod sola fidcs exinjustos justum efficiat, hoc est, accipiat
remissionem peccatorum. Hier foll das zweite ,significat'
geftrichen werden; nach einem Zwifchenfatz, den wir
etwa in Klammern fetzen würden, muß dann mit ,Idco'
der Nachfatz beginnen. Die zweite Stelle ift § 86
(S. 103). Hier lefen wir: Quum autem sola fide acci-
piamus remissionem peccatorum et Spiritum Sancium, sola
fides justificat, quia rcconciliati reputantur justi et filii
Dei, non propter suam munditiem, scd per misericordiam
propter Christum, si tarnen haue misericordiam fide ap-
prehendant. Ideoque scriptura testatur. quod fide justi
reputemur. K. mutmaßt, daß hier hinter justificat' der
erfte Satz fchließe. Dann fei ausgefallen etwa ,Sola
fides autem justificat eiiam ideo', worauf ,quia etc. eine
logifch und fachlich einleuchtende Fortfetzung' biete.
K. fieht in dem erften kurzen Satze den Abfchluß der
in § 72 angekündigten erften Erörterung (ideo primum
volumus), in dem zweiten Satze den Beginn der eben
dort implicite in Ausficht geftellten zweiten Erörterung,
nämlich über die auch in der heil. Schrift vorkommende
Deutung des justificai'i' als justos pronuntiari seu reputari
'. Noch eine Stelle will K. heilen, nämlich § 117
(S. 108). Hier hält er eine Umfetzung einiger Worte
tür notwendig und nimmt zugleich als wahrfcheinlich
eine Auslaffung an, fo daß hier wohl (als Abfchluß der
ganzen Erörterung) der Satz beabfichtigt fei: Hactenus
satis copiose ostendimus .... 1) quod sola fide consequimur
remissionem peccatorum propter Christum, hoc est ex injustis
justi efficiamur seu regeneremur, 2) et quod sola fide
jusüficemur, (hier folgt im Drucke das hoc est . . . re-
generemur, während K. nachfolgen laffen will:) hoc
est coram Dco justi reputemur. K. hat mit diefen Emen-
dationsvorfchlägen feine fachlichen Unterfuchungen
über die Rechtfertigungslehre der Apologie nur gekrönt.
Das Hauptziel feiner Schrift ift eine Beleuchtung der
Gedanken Melanchthons aus ihrer Gefamttendenz, wobei
er Anfchmiegung an die katholifche Problemfaffung vorausfetzt
bez. zu erweifen fucht. Darauf ift hier nicht
weiter einzugehen.

K.s Vorfchläge haben durchaus etwas Plaufibeles an
fich. Sie verfuchen ein Durchhauen von Knoten, die

j kaum zu löfen find. Aber es ift merkwürdig, daß nicht
nur der Druck der Apologie von 1531 (der ffymbolifch'
maßgebend gewordene), fondern auch die fpäteren, auch
die ftark durchkorrigierten und mit Änderungen ganzer
Paffus verfehenen Drucke (vgl. Corp. Ref. vol. XXVII)
hier alle den ganz gleichen Wortlaut bieten. Hat
Melanchthon nie die Unebenheiten obiger Stellen gemerkt
? Hat er jedesmal darüber weggelefen? Die
i Melanchthonfpezialiften mögen ftatt meiner die Ant-
I wort geben, ob das glaublich fei, d. h. ob ähnliche Un-
aufmerkfamkeiten fich auch in anderen Werken von
ihm, die mehrfach aufgelegt und von ihm an andern
Stellen auch korrigiert find, finden.

Halle. Fl Kattenbufch.

Kreutzer, Lehramtsref. Dr. Jakob, Zwingiis Lehre von der

Obrigkeit. (Kirchenrechtliche Abhandlungen. Herausgegeben
von U. Stutz. 57. Heft.) Stuttgart, F. Enke
1909. (XIV, 100 S.) gr. 8° M. 4 —

Die infolge der Feier des 400jährigen Geburtstags
Zwingiis ins Leben gerufenen Zwingliana und neuerdings
die forfältige Neuausgabe feiner Werke haben dazu geholfen
, das Intereffe an Zwingli im weiteften Umfange
neu zu beleben. Dennoch verdankt die vorliegende
Schrift ihr Entliehen wohl vor allem der Frage, ob man
wirklich berechtigt ift, die Reformatoren als Herolde der
neuen Zeit anzufehen, oder ob fie nicht vielmehr, was
neuerdings vor allem Ernft Troeltfch (Die Bedeutung
des Proteftantismus für die Entftehung der modernen
: Welt: Hift. Ztfchr. 1906, S. I ff.) vertreten hat, noch
durchaus dem mittelalterlichen Boden angehören.

So kräftig fetzt der Herr Verfaffer mit diefer Frage
ein, daß man am Schluffe des Buches enttäufcht ift, daß
hinfichtlich des zur Unterfuchung gewählten Einzelpunkts
über fie nicht eine zufammenfaffende und abfchließende
! Entfcheidung erfolgt. Nur gelegentlich wird fie hier
i und da (vgl. bef. S. 35 f., auch S. 46) geftreift und dann
in einem Troeltfch im ganzen zuftimmenden Sinne beantwortet
.

Kreutzer führt feine Unterfuchung in 7 Abfchnitten.
Nachdem er Zwingiis Anfchauungen über Urfprung,Grundlage
und Aufgabe der Obrigkeit feftgeftellt, legt er Zwingiis
Stellung zu den Obrigkeitsformen, feine Anflehten über
die kirchlichen Rechte der Obrigkeit und über das Wider-
ftandsrecht dar, um mit einem Vergleich zwifchen Zwing-
lis und Luthers Anfchauungen zu fchließen.

Den Urfprung der Obrigkeit läßt er Zwingli auf
rein fupranaturaliftifchem Wege gewinnen, indem die

i lex naturae dem Offenbarungswillen Gottes eingegliedert
wird. Dem entfprechend ift es das Ideal, daß die Obrig-

; keit ihre Rechtsgrundlage im Recht der Bibel findet,
im wahren Sinne eine chriftliche Obrigkeit ift und in
der Mitarbeit an der Ausbreitung des Evangeliums ihre
eigentlichfte Aufgabe fehen muß. Mit dem Kirchenzweck
fällt ihr Zweck dabei doch nicht zufammen, da
fie ihrem ganzen Charakter entfprechend im Stadium
der Defenfive flehen bleiben und fich darauf befchränken

j muß, einen Schutzwall gegen die Sünde aufzurichten.
Die ideale Staatsform ift für Zwingli die ariftokratifche
Republik; die Freiheit ift ihm ein ethifch-religiöfes Gut;
fie aber fieht er in der Monarchie gefährdet; die Demokratie
zieht er trotz feiner offenfichtlichen Abhängigkeit
von Ariftoteles' Klaffifizierung nicht zum Vergleich heran.
Das Widerftandsrecht wird nur religiös begründet; nur
wenn die Obrigkeit gegen die Aufgaben des Reiches
Gottes fich wendet, mag man, ja muß man ihr wider-
ftreben. Trotz Loffen (Die Lehre vom Tyrannenmord,
S. 22) und Kügelgen (Zwingiis Ethik, S. 88) findet
Kreutzer bei Zwingli aber nicht eine Rechtfertigung des
Tyrannenmordes. Am eingehendften fetzt mit anderen
Anflehten Kreutzer fich bei der Zwinglifchen Anfchauung
hinfichtlich der kirchlichen Rechte der Obrigkeit ausein-