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Ausgabe:

1910

Spalte:

109-110

Autor/Hrsg.:

Feuchtwanger, L.

Titel/Untertitel:

Geschichte der sozialen Politik und des Armenwesens im Zeitalter der Reformation 1910

Rezensent:

Köhler, Walther

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 4.

110

bei ift es nebenbei bemerkt, verfehlt, die Geflattung der
Bigamie des Landgrafen durch die Reformatoren ohne
Einfchränkung auf ,religiös-politifche Gründe' zurückzuführen
.) Falk zitiert (S. 75) Gottfchicks Artikel über
,Ehe' in der Realenzyklopädie, aber er hätte ihn wirklich
ftudieren und das Problem ethifch erörtern follen, nicht
nur herausgegriffene Beifpiele bringen. Es wird zwar (S.91)
behauptet, daß die .Neuerung im 16. Jahrh. keine Befferung
weder in Theorie noch in Praxis hervorgebracht' habe,
aber der Verfuch einer theoretifchen Erörterung gar nicht
gemacht! Gottfchicks Artikel ift fomit einftweilen nicht
widerlegt, und ich kann am Schluffe der Befprechung der
Falkfchen Schrift zum Anfang zurückkehren: ihr Wert
liegt im bibliographifchen Material. — Zu S. 71: Bei
dem Zitate aus Melanchthons Apologie der Auguftana
{ed. Müller S. 242) ift der entfcheidende, unmittelbar folgende
Satz ausgelaffen; er verändert das ganze Bild.

Zürich. Walther Köhler.

Feuchtwanger, L., Gelchichte der fozialen Politik und des
Armenwelens im Zeitalter der Reformation. (Sonderabzug
aus Jahrbuch für Gefetzgebung, Verwaltung
und Volkswirtfchaft im Deutfchen Reiche. Herausgegeben
von G. Schmoller.) Leipzig, Duncker & Hum-
blot 1908. (S. 167—204) gr. 8°
Dem Berliner Nationalökonomen Guftav Schmoller
bleibt das Verdienft, in feinem Auffatze: zur Gefchichte
der national - ökonomifchen Anflehten in Deutfchland
während der Reformationsperiode (Ztfchr. f. die gefamte
Staatswiffenfchaft 1860) erftmalig die wirtfehaftlichen
Anflehten der Reformatoren beleuchtet zu haben. Ein
Schüler von ihm fetzt in obiger Studie, die gleichzeitig
als Berliner Differtation erfchien, die Forfchung fort,
nicht mit der abgeklärten Ruhe des Meifters, fondern mit
lebhaftem, Temperamente, fcharfer Zufpitzung und Neigung
zu Übertreibung, modern fogar in der Schreibweife,
indem ftets ,Verändrung, innrer, Wildrung' ufw. ftatt:
,Veränderung innerer Wilderung' gefchrieben wird. —
Die Sozialpolitik der Reformationsperiode ift Armenpflege
; fie gilt es alfo zu beftimmen. Bahnbrechend
wirken die Städte, fofern .ihren Wohlfahrtseinrichtungen,
feit einem Jahrtaufend zum erften Male wieder, nicht
das Motiv der Caritas zugrunde liegt, fondern wirtfehafts-
und polizeipolitifche Notwendigkeiten'. Hingegen haben
die Reformatoren wie ,das gefamte Gefüge der mittelalterlichen
Weltanfchauung im ganzen und großen', fo
auch die Auffaffung von der kirchlichen Natur der Armenpflegefunktion
unverändert gelaffen. ,Von einer prinzipiellen
Neugeflaltung der Wohlfahrtspflege durch die
Reformation in bezug auf die Träger der Unterftützung,
von einem Übergang von der kirchlichen Armenpflege
zur weltlichen Gemeindearmenpflege kann nicht die Rede
fein.' Den Beweis dafür fucht Verf. aus den verfchie-
denen Kirchenordnungen zu erbringen, und handelt zu-
nächft von der .Ordnung der Stadt Wittenberg' und
der .Beutelordnung'. Wenn hier der Stadtrat als Träger
der Fürforgepflicht auftrat, fo war das nichts Neues und
nichts Evangelifches, vielmehr handelt es fleh um .Gepflogenheiten
bei den mittelalterlichen Kaffen', wie fie
fchon bei Städten im 15. Jahrhundert begegnen. Die Wittenberger
Stadtordnung ift fogar mittelalterlich-theokratifch;
denn hier ,tritt zum erften Male eine bewußte „chriftliche
Obrigkeit" auf den Plan, die nicht bloß das weltliche Regiment
zu führen, fondern auch rein kirchliche Angelegenheiten
zu ordnen und zu leiten fleh für befugt hält'. Es tritt
fogar der .genoffenfehaftliche, reale, unperfönliche An-
ftaltscharakter der Kirche' noch fcharfer hervor, da der
Unterfchied zwifchen Klerus und Laien befeitigt ift, es
handelt fleh um .einheitliches chriftliches Gemein-
wefen', nicht etwa um ,das moderne Inftitut der öffentlichen
Gemeindearmenpflege'. Alle Anlätze einer von

| der Kirche getrennten Gemeindearmenpflege find ,ener-
gifch und kunftvoll zurückgebogen in den kirchlichen

| Rahmen'. Auch bei der Leisniger Kaftenordnung von
1523 kann von einer .neuen Entwicklung' keine Rede fein,
fie zeigt .großen Mangel realpolitifcherÖrganifationsfähig-
keit', die völlige Ungetrenntheit der Kaffenführung z. B.

1 fchließt Jede rationelle Armenpolitik' ausffie hat tat fach-

I lieh .eine Unzahl (wirklich?) ähnlicher Ordnungen in andern
Gemeinden' zum Scheitern gebracht, denn es handelt fich
mit einem Worte um .utopiftifche Beftrebungen'. Wie
fchon angedeutet, bedeuten die ftädtifchen Sozialreformen
dem gegenüber einenFortfchritt; wir finden fie in Augsburg,
Nürnberg, Straßburg, vor allem in den Niederlanden,

t dem .Geburtsland der humaniftifchen Sozialreformen'.
Von einem .natürlichen Weltbürgertum' aus wird hier
das Volk ,zu einem nützlichen Tätigkeitsfinn' erzogen,
den dann ,die Päpfte zu Wittenberg und zu Rom' ihren
Gemeinden zuführten. Das bahnbrechende Werk ift die
(von F. analyfierte) Schrift des Ludwig Vives de subven-
tione pauperum (1526) — ,die erfte durchdachte und
mit völliger Klarheit hingeftellte Theorie einer allgemeinen
bürgerlichen Armenpflege'. Nun hat 1533 Cafpar
Hedio die Schrift von Vives ins Deutfche überfetzt und
ihre Grundfätze allen Städten empfohlen; 1536 erfchien,
ebenfalls in Straßburg, die Schrift des Vives ,von der
gemeynfehafft aller ding' {de communione verum) in
deutfeher Übertragung, aber wie weit fie wirkten, vermag
F. nicht feftzuflellen. F. ift geneigt, die Einflüffe
fchr hoch einzufchätzen, möchte fie fogar über die
Wirkung auf die Niederlande ftellen, wo Karl V. 1531
für das ganze Land ein Armengefetz in Anlehnung an
die von Vives' Grundfätzen und Einzelvorfchlägen getragene
Ordnung von Ypern erließ; denn feit 1556 wurde
diefe Gefetzgebung Karl V. Stück für Stück wieder ab-

: getragen.

Verf. hat die Gegenfätze nicht immer klar und
fcharf herausgearbeitet, fein Grundgedanke, daß die
Reformation kirchliche Armenpflege treibt und von
der modernen, im ftädtifchen Bürgertum und Humanismus
wurzelnden Armenpflege zu unterfcheiden ift,
bleibt richtig, ohne freilich neu zu fein. Der energifche
Hinweis auf Vives, der langft eine erfchöpfende Monographie
verdient hätte, wird hoffentlich feine Wirkung
tun, doch ftützt fich F. hier z. T. auf Vorgänger. Entgangen
ift ihm dabei die wertvolle Monographie von
Prinfen: De Nederlandsche Renaissancedichler Jan van
Hout (1908); van Hout verfolgt diefelben Ziele wie Vives.
Fruchtbar wäre es gewefen, wenn er der Entwicklung
des Straßburger Armenwefens nachgegangen wäre. Unerklärlich
bleibt, daß die Wittenberger Beutelordnung
,in die erften Jahre des 16. Jahrhunderts' gefetzt wird
(S. 172), und daß für Lutherfche Autorfchaft .nicht der

[ genngfte Beweis vorhanden' fei, ift unrichtig, nach Nik.
Müllers Entdeckung dürfte wohl eher Luther doch der
Verfaffer fein (vgl. Hiftor. Vierteljahrsfchrift Bd. n, 193fr.).

! Völlig verkannt ift die ethifche Zucht, die Luther in
den Bettelunfug hineinbringen will; fonft hätte Verf.
S. 178 nicht fo abfprechend über die .gemeinen Kaften'
urteilen können.

Zürich. Walther Köhler.

Kunze, Prof. D. Johannes, Die Rechtfertigungslehre in der

Apologie. (Beiträge zur Förderung chriftlicher Theologie
. Herausgegeben von A. Schlatter und W. Lüt-
gert. Zwölfter Jahrgang 1908. Fünftes Heft) Gütersloh
, C. Bertelsmann 1908. (43 S.) gr. 8° M._80

Diefes Thema wird allmählich ermüdend Loofs
Eichhorn, Stange, Warko, E. Fifcher, Thieme, nun Kunze
haben, zum Teil in wiederholter Bemühung mit Eifer
und Gelehrfamkeit, mit ftatiftifcher Zufammenftellung
aller Ausdrücke, die Melanchthon anwendet, mit exakter