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Ausgabe:

1910 Nr. 3

Spalte:

92-93

Autor/Hrsg.:

Goldschmidt, Kurt Walter

Titel/Untertitel:

Der Wert des Lebens. Optimismus und Pessimismus in der modernen Literatur und Philosophie 1910

Rezensent:

Zillessen, Alfred

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 3.

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nur möglich, wenn drei Typen unterfchieden werden,
deren Terminologie aus einem locus der Pfychologie
übernommen ift, deren Änderung ich aber gern freigebe.
1. Der Repräfentativtypus kirchlicher Gemeinfchaft
wird durch die katholifche Kirche verkörpert, 2. der
Immanenztypus der Congregatio Sancto7-um etwa durch
die Freikirchen, der Typus des Neuen Teflaments, den
Bonus fo interpretiert, als ob nicht der gefchichtliche
Chriftus der Erlöfer fei, fondern die durch Ihn Geift gewordene
Gemeinde, das jtlriQoo^ia Gottes, endlich 3. der
Partitivtypus der disjecta membra in der individualifti-
fchen Kirche Luthers. In Wirklichkeit werden die drei
Formen ineinander übergehen, ja das Normale ift vielleicht
, daß bei allem Überwiegen des einen Faktors die
beiden anderen ihr Recht behaupten. Sichtlich neigt
Bonus zum Partitivtypus, den auch Sohm bei feiner Ablehnung
des Kirchenrechts vertritt. Die Regulativfunktionen
der Biologie werden bei Bonus zugunften der
Aktivität der Individuen beifeite gefchoben, und doch bedarf
eine Gruppeneinheit, die als bloß partitive der Regulation
der Rechtsordnung und Geiftesförderung entbehrt
— Maffe ift ein Organismus ohne Kopf —, der leitenden
Motive, die nicht anders als von der Einheit her, bez.
von den diefe repräfentierenden Individuen der Gefamt-
heit dargeboten werden: ,Kirche' ift unfer Aller Mutter.
Der pfychologifche Unterfchied deffen, was die Individuen
ausftrömen und von der Gefamtheit aufnehmen,
d. h. der Unterfchied der egofugalen und egopetalen
Richtung der Pfyche ift anzuerkennen und zu verwerten.
Während alfo im Individuum fonft die Regulation ego-
fugal eingeleitet wird, gefchieht das in der Gemeinfchaft
in egopetaler Richtung auf das Einzelindividuum zu.

Die Einfeitigkeit von Bonus verführt ihn nun, nicht
nur den Immanenztypus der kirchlichen Liebesarbeit in
ihrem pfychologifchen Energieumfatz faft zu unterfchlagen
und ftatt deffen mehr von ,paftoraler Belehrung' zu reden,
fondern auch die Bedeutung theologifcher Wiffenfchaft
fowie religiöfer Jugend-Unterweifung um der geforderten
Myftik willen zu unterfchätzen; der richtige Kern folcher
Übertreibungen mag vielleicht in der Ablehnung von
traditioneller ,Begründung' des Glaubens und vulgärer
Apologetik' liegen, die ebenfo wie die fcholaftifchen
Schulquälereien durch eine der Methode wie dem Inhalte
nach religionspfychologifche Darbietung erfetzt werden
müffen.

Einige ihrem Wert fowie ihrer Anfechtbarkeit nach
bemerkenswerte Ausführungen feien noch aus dem Buche
von Bonus zitiert. Eine kräftigere Gruppeneinheit ,klaf-
fifcher' Kirchenperioden pflegt in der Richtung auf Unrund
Fortbildung einer Gemeinfchaft mit kleinen Versuchsbildungen
einzufetzen, wie es heute die Sekten
find (S. 14). Ein Problem ferner liegt und ift zu löfen
in dem fcheinbaren Gegenfatz von Zwang und Frömmigkeit
(S. 15). Sekten haben um fo mehr Zulauf, als fie
ftraff organifiert find; die Unterordnung wird aber als
Übung in der Demut aufgelegt, die Bonus als heroifch
kennzeichnet, wie überhaupt Heroismus der pfychologifche
Grundzug der Religiöfität fei. Daher frage fich nicht,
wie der Religiöfe aus feiner Gemeinfchaft heraus (—■ gemeint
ift die Profangemeinfchaft der Familie usw. —)
fondern in fie (— gemeint die Religionsgemeinfchaft —)
hineinkomme, während fonft allerdings der Menfch Ge-
meinfchaftswefen fei. Alle ftark religiöfen Lebensläufe
beginnen nach B. ,primär' (— nicht dem Grundzug nach,
wie fonft der Ausdruck gebraucht wird, fondern auch
fonft bei B. im zeitlichen Sinne —), mit Vereinfamung;
dann aber beginne das Verlangen nach Gemeinfchaft,
wie es in den Sekten deutlich ift. Diefe Gemeinfchaft
ift zunächft die nach der Gottheit und überträgt fich auf
die, denen man als der Gottheit felbfl dient.

Nach Bonus fchwebte nämlich einem Paulus bei
feinem Kirchenideal nicht fowohl Ordnung vor, als
Engigkeit (wohl richtiger: Einheitlichkeit) des Geiftes.

j Die perfonell-differentielle Pfychologie dürfte hierzu aber
den Nachweis bringen, 1. daß der freiwillig übernommene
Zwang des Religiöfen fein Motiv in den verfchiedenften,
inner- wie außerreligiöfen' Pfychiktatfachen haben kann,
2. daß alfo öfter das Streben nach Zufammenfchluß mit
Glaubensgenoffen und nach klärendem Abfchluß des
Glaubens durch folche, vielleicht auch die in der modernen
Soziologie zurücktretende Nachahmung am Werke

| find. Wenn im weiteren Bonus den Menfchen zunächft

j fich zur Natur flüchten und diefer fich ,verwandter' (?)

I fühlen läßt als den Mitmenfchen, fo fcheint Starbuck das
religiöfe Wachstum aus kindlichem Anfangsftadium über

1 die pfychifche Krifis hinaus, die Jeder allein und in

| Zweifeln durchleben muß, mit feiner Theorie der Entfremdung
pfychologifcher zu interpretieren.

Als Erfcheinungen der (Entwicklungs-)Pfychologie
der Kirche kennzeichnet B. ferner, daß die weitere Entfaltung
, die dem Urchriftentum mit feinem praktifchen:
,Kindlein, liebet Euch untereinander' gegenübertritt, eine

i reiche ,Mythologie' infolge der Spannung erzeugt habe,
die zwifchen der vorhandenen natürlichen' und neuen,
ideellen Einficht beftehe. Diefer Gegenfatz wird weiter
in Spekulationsluft (m. E. ohne tieferen pfychologifchen
Einblick) zu allerlei Erklärungen herangezogen. Aus
demfelben wird auch der Anfpruch der Übernatürlichkeit
abgeleitet, fofern im Entwickelungslaufe immer ein Neues
als Mythus auftauchte und dann als inftitutionbildendes
Lehrgefetz Gottes aufgelegt werde. Auch Starbuck hat
in gewiffer Weife auf dem formalen Begriff der Neuheit,
des ,weiteren Ich' die Übernatürlichkeit gegründet, aber
mit dem Unterfchied, daß St. bei feiner ontogenetifchen
Betrachtung u. A. die Frage nach dem Woher des
Bibelworts ausfchaltet, daher bei St. von Naturalismus
nicht die Rede fein kann (wie es leider der Referent
über Starbuck in der .Chriftlichen Welt' behauptet), daß

i dagegen Bonus durch die rein entwickelungsgefchichtlich-
mechanifche Beurteilung die Entftehung des Neuen pfy-
chologifch unverfländlich läßt.

Nur noch eins in bezug auf den vagen Gebrauch
des auch fonft um fich greifenden Terminus: Mythus.
Der reproduktiv - anfchauliche Aufbau von Glaubens-

; formen auf gefchichtlicher Grundlage dürfte ftreng zu
unterfcheiden fein von der lediglich durch die kombina-
torifche Phantafie zufammengefügten Mythologie. Phan-
tafie und Anfchauung find ein reproduktives Gewächs
der Pfyche, aber doch derart pfychifch der Entftehung
wie dem Vorgang nach unterfchieden, daß man nicht länger
die Phantafie1, wie es Wundt in Teil I feiner dreibändigen

I Religionspfychologie im Rahmen feiner Völkerpfycho-

j logie irrtümlich tut, als einzige Grundfkizze religiöfer
Erfahrung entwerfen kann. Phantafie diene dem ,Mythus',

! Anfchauung aber der Darftellung gefchichtsplycho-
logifcher Symbole und Wahrheiten.

Alt-Jeßnitz. G. Vorbrodt.

Goldfchmidt, Kurt Walter, Der Wert des Lebens. Optimismus
und Peffimismus in der modernen Literatur und
Philofophie. (Moderne Philofophie. Herausgegeben
von M. Apel. Band 3.) Berlin, Buchverlag der „Hilfe"
1908. (in S.) 80 M. 1 —

Der Verfaffer findet den tiefflen und allgemeinflen
Quellpunkt für Optimismus und Peffimismus in dem
doppelten Verhältnis, daß wir nicht nur Betrachter des
Weltlaufs, fondern zugleich feine unfreiwilligen Verkörperungen
und Auswirkungen find. Alle Lebenswerturteile
[ find immer gemifchte Intellekt- und Inftinkt-Urteile. O.

i) überhaupt bedarf es der gründlichen Mitarbeit der Theologie an
der Fixierung des religionspfychologifchen Hauptbegriffs der Phantafie, ob
diefe Dämlich im engeren Sinne, wie Wundt will, zu faffen fei oder im
weiteften, wie es eine neuere Monographie über Phantafie von Lucka,
Wien und Leipzig, W. Braumüller 1908, wieder verflicht.