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Ausgabe:

1910 Nr. 2

Spalte:

59-60

Autor/Hrsg.:

Windelband, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Philosophie im deutschen Geistesleben des XIX. Jahrhunderts 1910

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Seite 1

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59 Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 2. 60

man mit Erftaunen. Stürme im Wafferglafe, gewiß, um
ein Mehreres handelt es fich nicht. Aber um wie
manchen Sturm derart! All das ift nicht bedeutfam genug
, um jedermann zur Lektüre empfohlen zu werden.
Aber der akademifche Gottesdienft in Halle ift von ungewöhnlich
viel eigenartigen, hervorragenden Männern
verfehen worden. Im Anfang von Joachim Juftus
Breithaupt und Auguft Hermann Francke, dann be-
fonders von dem jüngeren (Gotthilf Auguft) Francke,
Johann Jakob Rambach und Johann Georg Knapp,

auch von Siegmund Jakob Baum garten (irgendwie Klärung fuchen' (S. ßf.).

Linie befchäftigen, in letzter Inftanz doch nur der
Spiegel des Lebens find, weil in ihnen zu einfacherer
Geftalt abgeklärt ift, was mit bunten, fich kreuzenden und
fich verdunkelnden Formen im Leben ftreitet. Gerade
darin dürfen wir zu allen Zeiten die vornehmfte Aufgabe
der Philofophie fehen, daß fie das Selbftbewußtfein des
in der Entwicklung begriffenen Kulturlebens bildet. . . .
Eben deshalb fteckt die Bedeutfamkeit philofophifcher
Syfteme letzthin nicht in den vergänglichen Formeln ihrer
Begriffe, fondern in den Lebensinhalten, die darin ihre

waren faft alle Männer, die der Fakultät angehört haben,
an den Gottesdienften beteiligt). Hering hat fich nun
feine Aufgabe fo geftellt, daß er jeden bedeutenden
Mann, der in Betracht kommt, auch ausdrücklich als
Prediger, unter Zugrundelegung befonders feiner gerade
im akademifchen Gottesdiefte (die Profefforen waren ja

Mit diefen Sätzen hat W. felbft feine Aufgabe, ihre
Weite und ihre Tiefe, deutlich bezeichnet; und wenn wir
fein Büchlein zu Ende gelefen haben, bekennen wir mit
Dank, daß diefe Aufgabe richtig gezeichnet und überzeugend
gelöft ift. Was der Referent einft beim Hören
empfand (das Büchlein gibt die im Frühjahr 1908 am

zum Teil auch Prediger an Stadtkirchen, richtige Paftoren) : Hochftift zu Frankfurt a. M. gehaltenen Vorträge), das
gehaltenen (vielfach dem Drucke übergebenen) Predigten verftärkte fich ihm beim Lefen: das Gefühl zuverläffiger
zu charaktenfieren fucht. So gibt er ein Bild der j Führung durch einen Mann, der die vielfeitigfte, gründ-
Predigtweife zumal der großen Pietiften von Halle, das lichfte Kenntnis mit gerechtem Urteil und ficherem Blick
fehr belehrend ift. Ich füge hinzu, daß er nirgends in für das Wefentliche verbindet. Freilich Hellt W. auch
der Schilderung breit wird. Nach dem fiebenjährigen ! große Anforderungen an feine Hörer: er fetzt eine ziem

Kriege verfällt der akademifche Gottesdienft, ja er wird
förmlich abgefchafft. Dann erlebt er im Beginn des
19. Jahrhunderts feine Neubelebung und zwar mit dem
Eintritt Schleiermachers in die Fakultät. Der Berufung
und Wirkfamkeit diefes uns ja nur eine kurze Zeit zugehörigen
Mannes (er war nicht nur außerordentlicher
Profeffor in Halle, wie man gemeinhin meint, fondern
feit dem 7. Februar 1806 vielmehr ordentlicher Profeffor!)
hat Hering ein befonders eingehendes Kapitel gewidmet.
In Halle hat Schleiermacher, wie man weiß, eigentümlich
hervorragende Predigten gehalten; nur wenige Male
konnte er überhaupt die Kanzel der Schulkirche betreten
und ,akademifchen' Gottesdienft halten, aber feine
damaligen Predigten gehören zu den bedeutendften, auch
theologifch charakteriftifchften und gedankenreichften,
die von ihm bekannt find. Hering analyfiert fie mit
vollfter Herzensteilnahme und dem ganzen Intereffe des
Ethikers und Homiletikers. Er trifft fich hier naturgemäß
mit dem Buche von Johannes Bauer, Schleiermacher
als patriotifcher Prediger, 1908, aber ich meine,
er brauchte in der Tat auch um diefes Buches willen
nichts von dem zu unterdrücken, was er vorbringt. Das
Kapitel, S. 139—248, ift nach verfchiedenen Seiten ein
wertvoller Beitrag zur Biographie Schleiermachers. Nachher
eilt Hering rafch zum Schluffe. Die Schulkirche wurde
1828 niedergelegt. Die letzte Periode des akademifchen
Gottesdienftes (der nun doch den Dom als feinen Ort
erhielt, wo er ihn noch hat) berührt Hering nur mit einem
,Ausblick' fpeziell auf Auguft Tholucks Wirkfamkeit.

Halle a. S. F. Kattenbufch.

Windelbana, Wilhelm, Die Philofophie im deutfehen Geift.es-
leben des XIX. Jahrhunderts. FünfVorlefungen. Tübingen,
J. C. B. Mohr 1909. (V, 120 S.) gr. 8°

M. 2 —; geb. M. 2.80

,Es ift die Aufgabe diefer Betrachtungen, in dem
Zufammenhange der allgemeinen gefchichtlichen Entwicklung
der deutlchen Nation während des 19. Jahrhunderts
die Weltanfchauungsmotive klarzulegen, die darin mit-
fpielen und in denen das Leben felbft fich fpiegelt' (S. 72).
,Eine derartige Aufgabe fcheint zu ihrer Löfung auf
eine weithin verftreute Kenntnis der gefchichtlichen
Bewegungen angewiefen zu fein und die Betätigung unteres
Volks auf allen feinen Lebensgebieten in den Kreis der
Betrachtung hineinziehen zu müffen. Wenn der Hiftoriker

liehe Vertrautheit mit der allgemeinen Gefchichte, befonders
der Kulturgefchichte der letzten 2 Jahrhunderte voraus;
denn er kann in diefer Kürze nur einen kondenfierten
Extrakt, nur die Summe der wichtigften Erfcheinungen
geben.

Die Überficht beginnt mit einer Schilderung des
äfthetifch-philofophifchen BilJungsfyftems der klaffifchen
Zeit: in ihm kreuzen fich zwei Tendenzen, die rationa-
liftifche (Voltaire) und die irrationaliftifche (Roulfeau); die
zwei Heroen diefer Zeit, Goethe und Kant, fuchen auf
verfchiedene Weife, der eine durch künftlerifche Synthefe,
der andere durch kritifche Scheidung, beiden Strebungen
gerecht zu werden. Die zweite Vorlefung zeigt, wie aus
diefem Syftem die Romantik fich löft, fich religiös und
national befruchtet, aber auch mit Kirche und Abfolutis-
mus befchwert und zur Reftauration wird; in Hegel fcheint
das Gleichgewicht erreicht zu fein. Aber es ift labil und
bricht zufammen: Irrationalismus, Materialismus und
Peffimismus treten hervor. Dann kommt die unphilofo-
phifche Zeit des naturwiffenfehaftlichen Pofitivismus, dem
die ,Rückkehr zu Kant' mit ihrer einfeitig empiiiihfehen
Au Raffung Kants hilfreich zur Seite tritt. Die Philofophie
löft fich in Gefchichte und Pfychologie auf. Endlich
haben die letzten Jahrzehnte mit ihren gewaltigen Fort-
fchritten im tätigen Leben, mit der Wtndung zum Voluntarismus
und Sozialismus uns vor neue Wertprobleme
geftellt. W. fchließt mit der Hoffnung auf Rückkehr zum
Idealismus; als deffen gegenwärtige Aufgabe bezeichnet
er: ,das Verhältnis zwifchen Perfon und Maffe', ,wie fich
uns die Perfönlichkeitswerte des Innenlebens und die
Maffenwerte des Außenlebens zu widerfpruchslofer Vereinigung
verföhnen können'. (Inzwifchen ift fchon die
2. Auflage des Büchleins erfchienen).

Frankfurt a. M. Schufter.

Bibliographie

von Lic. theol. Paul Pape in Berlin
iCcutfcbc »ircratur.

Blaufuß, H., Römifche Feite und Feiertage nach den Traktaten über
fremden Dienfl {Abodazara) in Mifchna, Tofefta, Jerufalemer und babyl.
Talmud. Progr. Nürnberg 1909. (40 S.) 8°
Euringer, S., Die Chronologie der biblifchen Urgefchichte (Gen. 5 u. n).
I. u. 2. Aufl. (Biblifche Zeitfragen gemeinverftändlich erörtert. Ein
Brofchürenzyklus, hrsg. v. J. Nikel u. J. Rohr. II. Folge. Ii. Heft.)
Münfter i. W., AfchendorfT 1909. (36 S.) gr. 8» M. — 50

Hehn, J., Der ifraelitifche Sabbath. I. u. 2. Aull. (Biblifche Gefchiehten,
gemeinverftändlich erörtert. Hrsg. v. J. Nikel u. J. Rohr. II. Folge.

der geiftigeo Entwidd^"fich an einte"folchen VeMtich I _ I2-Heft-) Mut,fteri.w AfchendorfT.9o9. p,36s.l«.8« M.- 50

■ „„? j r u 1 r u r in. 11 r n. j Bornemann, Jefus als Problem. Vortrag, geh. v. Prof. D. B., zugleich

heranwagt und fich dafür berufen halten will, fo ift das eine Kritik der .Chriftusmythc des Herrn A. Drews. Frankfurt t M.,
damit berechtigt, daß die Theorien, die ihn in erfter I M. Diefterweg 1909. (34 S.) 8° M. —40