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Ausgabe:

1910 Nr. 25

Spalte:

786-788

Autor/Hrsg.:

Zwingli, Huldreich

Titel/Untertitel:

Sämtliche Werke. Bd. I u. II 1910

Rezensent:

Baur, August

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 25.

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eine Kampffchrift gegen Luther als die für einen weiteren
Leferkreis beftimmte Äußerung einer gelehrten Autorität
zu den geiftigen Bewegungen der Zeit'. Von da aus
verfteht man das Hinausfpielen der ganzen Frage auf
den praktifchen fittlichen Fortfehritt und die Polemik
gegen den theologifchen Formelkram, wobei, wie Z. gut
heraushebt, ficher auch ein äfthetifches Feingefühl bei E.
mitfpielt und feine Unficherheit in der Rüftung der
fcholaftifchen Terminologie. Gelehrfamkeit und ein ge-
wiffer praktifcher Sinn finden die Schwächen Lutherfcher
Bibelinterpretation richtig heraus, um freilich felbft in
eine ähnliche Einfeitigkeit zu verfallen. Den Grundgedanken
der Diatribe hat Z. richtig erkannt: E. möchte
die Löfung des Konfliktes zwifchen freiem Willen und
Gnade darin fuchen, daß man fich gewöhnte, die natürlichen
Güter und jede Wahrung und Stärkung derfelben
als Gefchenk der göttlichen Gnade anzufehen — E. nennt
die natürlichen fittlichen Fähigkeiten des Menfchcn direkt
gratia naturalis, vgl. S. 34 —. ,Es bahnt fich hier eine
befonders vom Intereffe für außerchriftlichen Befitz an
fittlichem Gut geleitete Überwindung des fupranatura-
liftifchen Dualismus an, die darauf hin tendiert, ftatt
freien Willen und Gnade einander gegenüberzuftellen,
beide ineinanderzufchieben und aus der Betrachtung des-
felben Vorganges von zwei verfchiedenen Gefichtspunkten
aus zu erklären'. Vgl. dazu die zufammenfaffenden Sätze
S. 49h, die geradezu klaffifch den Standpunkt des E.
formulieren. Gegenüber der diatribe des E. ift L.s de
servo arbitrio ,in weit Aärkerem Maße eine polemifche
Schrift mit einem beftimmten Adreffaten'. Doch fehlt
nicht der Wunfeh nach Frieden, vermutlich unter Melanch-
thons Einfluß. Allen Nachdruck bei feiner Analyfe der
Lutherfchrift legt Z. darauf, die Gedanken L.s aus feiner
Glaubenserfahrung abzuleiten. Richtig wird getagt, daß
der Ausgangspunkt der Scholaftik das Dogma war, das
Glauben forderte, L. aber, vom Glauben ausgehend, das
Dogma verlangte, daß die Scholaftik den Glauben nach-
L. aber aus ihm herauskonitruierte (S. 65). Wenn z; B.
zur religiöfen Gewißheit der Glaube an Gottes Allgegenwart
gehört, fo ift eine Konfequenz desfelben, daß Gott
auch in der Höhle des Miftkäfers wohnt. Ebenfalls von
da aus polemifiert Z. gegen Kattenbufch, indem er L.s
Annahme einer unverdienten Verdammung Einzelner aus
der Erfahrung abzuleiten fucht und nicht als äußerliches
Poftulat hinftellt. Daran ift jedenfalls etwas Richtiges,
aber man wird hier ein Entweder-Oder nicht ftatuieren
dürfen, wie Z. das felbft andeutet in feiner Einfchränkung:
,Man kann fich allerdings hier fchon fragen, ob nicht
vielleicht L.s Erfahrung fchon von feinen theologifchen
Theorien beftimmt ift, wie ihm dies befonders da leicht
* begegnet, wo diefe in der Schrift gegründet find' (S. 72,
vgl. S. 94).

Da der Autor ausdrücklich darauf verzichtet hat,
eine zufammenfaffende Beurteilung zu geben, kann es
des Referenten Aufgabe nicht fein, diefe Lücke auszufüllen
. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß
Z.s Sympathie wefentlich auf Seite Luthers fleht, er ift
auch hier der Schüler Wernles. Von einer bedingungs-
lofen Gefolgfchaft an Luther kann freilich keine Rede
fein. Z. hat die Härten und Schwächen der Lutherfchen
Pofition wohl erkannt (vgl. z. B. S. 80, 82, 136), aber die
Lutherfche Grundpofition, feinen Gnadenmonergismus,
hält er, verliehe ich ihn recht, durchaus feft. Meine
Sympathie fleht hier mehr auf Seiten des Erasmus; er
hat die ganze Schwierigkeit des Problems viel feiner
empfunden als Luther, der einfach den Knoten zerhaut
und eine — gewiß grandiofe und wuchtige — Einfeitigkeit
fchaffr, die eben doch keine Löfung ift (Z. freilich
fleht S. 126 eine Löfung bei Luther). Der Fehler aller
der verfchiedenen Konftrukteure auf dem Gebiete Gnade
und Freiheit liegt darin, daß fie genau Wert und Vermögen
der beiden Faktoren abfehätzen wollen. Das
geht nicht. Man muß beide nebeneinander laffen und

auf den logifchen Ausgleich verzichten (vgl. den ausgezeichneten
Artikel von Troeltfch über coneursus divinus
in ,Die Religion in Gefchichte und Gegenwart'). Der
Katholizismus aber befitzt den Vorzug, wenigftens die
Zweiheit der Faktoren feftzuhalten, während Luther
(wie Zwingli und Calvin, anders aber der fynergiflifche
Melanchthon!) den einen Faktor ganz eliminiert. Gegenüber
dem kraffen Werkdienfl des Vulgärkatholizismus
aber formuliert Erasmus fehr fein: ,Der chriftliche
Prediger foll von Fall zu Fall, was zum Pelagianismus
neigt, an feine Abhängigkeit, was zum Manichäismus
neigt, an feine Verantwortlichkeit erinnern, fußend auf
dem feiten Glauben, daß Gott der Geber alles Guten,
die Seligkeit der Gnade Werk, die Verdammnis aber der
Sünde Schuld fei' (S. 175).

Noch zwei Einzelheiten: Das von Luther gerügte
Verfahren des Erasmus, die Bergpredigt auf eine Linie
mit den a. t. Gefetzesgeboten zu Hellen, hat er fpäter
felbft eingefchlagen (vgl. Troeltfch im Archiv für Sozial-
wiffenfehaft 1909). Zu der Frage nach der Autorfchaft
I der zweiten Schrift Heinrichs VIII. von England gegen
Luther war zu vergleichen: W. Walther, Heinrich VIII.
von England und Luther 1908, S. I4ff. Danach kämen
Wolfey, More und Ludwig Vives in Betracht, nicht aber
Erasmus.

Zürich. Walther Köhler.

Zwin g Iis', Huldreich, Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung
des Zwingli-Vereins in Zürich herausgegeben von Prof.
Dr. Emil Egli und Gymn.-Rel.-Lehr. Dr. Georg Fins-
ler. (A. u.d. T.: Corpus Reformatorum, vol. LXXXVIII
u. LXXXIX). Leipzig, M. Fleinfius Nachf. gr. 8°

I. Bd. (VII, 580 S.) Berlin 1905. M. 23.40. — II. Bd. (IV,
818 S.) 1908. M. 24.80.

Die vorliegende neue Ausgabe der fämtlichen Werke
Zwingiis, von welcher die beiden erflen Bände der Schriften
Zwingiis und vom fiebenten Band, mit dem die Veröffentlichung
des Briefwechfels beginnt, die fechs erften Lieferungen
vorliegen, ift beftimmt, die in den Jahren 1828
bis 1842 von Melchior Schüler und Johannes Schultheß
veranftaltete achtbändige Ausgabe zu erfetzen. Diefe
frühere Ausgabe, der im Jahre 1861 noch ein von Georg
Schultheß und Cafpar Marthaler herausgegebenes Supple-
I ment nachgefolgt ift, war an und für fich eine höchft
verdienftvolle Leiftung; auch waren die Bände wegen
des handlichen Formats in der Größe der neuen Ausgabe
im Unterfchied von den großen Quartbänden der
früheren Abteilungen des Corpus Reformatorum fehr
leicht zu gebrauchen. Aber im Laufe der Zeit hatte
fich aus verfchiedenen Gründen ergeben, daß die alte
Ausgabe nicht mehr genüge und durch eine neue erfetzt
werden müffe. Die Gründung des Zwinglimufeums und
des Zwinglivereins in Zürich, die unmittelbar an das
Zwinglijubiläum (1. Januar 1884) fich anfehloß, gab hierzu
den Anftoß. Aber es hat lange Zeit und eine große
Mühwaltung gebraucht, bis die Neuausgabe gefichert
war. Darüber enthalten die von der Vereinigung für
das Zwinglimufeum veranftalteten ,Mitteilungen zur Gefchichte
Zwingiis und der Reformatoren', die von Prof.
Dr. E. Flgli herausgegebenen ,Zwi/ig/iaua' Bd. I, 1897
bis 1904 die nötigen Auffchlüffe. Wir erfehen aus dielen
Mitteilungen, mit welcher Unverdroffenheit und Unermüdlichkeit
in der Auffindung neuer Quellen und neuen Ma-
teriales gearbeitet worden ift, um die Neuausgabe zu ermöglichen
und in ihr fowohl in bezug auf die Schriften
Zwingiis, als auch auf feinen Briefwechfel ein nach
Umfang und Inhalt möglichft vollftändiges Ganzes her-
zuftellen. Die Arbeit war den Händen der beiden genannten
Herausgeber anvertraut. Und wahrlich! tüchtigeren
Gelehrten konnte fie nicht übertragen werden.
Denn Egli hatte fich ja fchon vorher, hauptfächlich