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Ausgabe:

1910 Nr. 25

Spalte:

780-783

Autor/Hrsg.:

Völter, Daniel

Titel/Untertitel:

Polykarp und Ignatius und die ihnen zugeschriebenen Briefe neu untersucht 1910

Rezensent:

Goltz, Eduard Alexander

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 25.

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auskommen. Aber die Kunit, zwifchen Hypothefen und
Tatfachen fcharf zu fcheiden, hat Zimmern nirgendwo
fo glänzend bewiefen wie gerade hier. Dadurch wird
dem urteilsfähigen Lefer eine Nachprüfung ermöglicht,
die ihm die Luft zu weiterem Studium nicht raubt, auch
wenn er einmal ein Fragezeichen fetzen muß und die
Schlußfolgerungen nicht für zwingend hält. 4. Auch an
neuen wiffenfchaftlich fruchtbaren Gefichtspunkten fehlt
es nicht. Der Verfaffer hat nicht nur die jüngfte Literatur
genau verfolgt, fondern auch felbftändig weiter gearbeitet
. Befonders dankenswert ift die Mitteilung des
neu gefundenen Sintfluttextes (S. 60 Anm. 7), der vor
kurzem in den Zeitungen unnötiges Auffehen verurfacht
hat. Allerdings hätte man gewünfcht, daß die Ergänzungen
Hilprechts, die doch recht zweifelhaft find,
unterdrückt worden wären. Ein Urteil darüber, wie weit
nun das von Zimmern beigebrachte babylonifche Material
wirklich zur Erklärung der ,Chriftusmythe' beiträgt, muß
ich mir an diefer Stelle verfagen und darf es um fo eher
tun, als der Verfaffer jeden Lefer in den Stand gefetzt
hat, felbft zu urteilen.

Berlin-Weflend. Hugo Greßmann.

Lütgert, Dr. W., Die Vollkommenen im Philipperbrief und
die EnthuNaften in Theffalonich. (Beiträge zur Förderung
chriftlicher Theologie. Herausgegeben von A. Schlatter
und W. Lütgert. 13. Jahrgang 1909. 6. Heft.) Gütersloh
, C. Bertelsmann. (VIII, 102 S.) gr. 8° M. 1.60

Mit beharrlicher Konfequenz verfolgt Lütgert den
Weg, den er in feinen Schriften ,Freiheitspredigt und
Schwarmgeifter in Korinth' 1908 (f. Th. Litztg. 1909,
Sp. 166—168) und ,Die Irrlehrer der Paftoralbriefe' 1909
(Th. Ltztg. 1910, Sp. 70—72) eingefchlagen hat. Der Philipperbrief
und die Theffalonicherbriefe find ihm Dokumente
für die Exiftenz wefentlich desfelben ,religiöfen
Typus', den er in Korinth und den Gemeinden der
Paftoralbriefe entdeckt hat. Prinzipieller fexueller Libertinismus
, Ablehnung der Predigt vom Kreuz Chrifti,
Verwerfung der Auferftehungshoffnung, Verachtung von
Gottesfurcht, Gehorfam und Demut charakterifieren da
wie dort eine gefährliche religiöfe Verirrung.

Originell, fpitzfindig, gelegentlich auch mit fanfter
Gewalt gewinnt Lütgert die nötigen Zeugniffe. Gern
reiht er die Auslegungen feiner Vorgänger aneinander
und fpielt eine wider die andere aus, fo daß fich feine
Meinung als die letzte und einzig noch mögliche zu
ergeben fcheint. Einige Einzelheiten mögen feine Art
illuftrieren.

Aus Phil. 3, 11. 12 gewinnt er den Sinn, Paulus habe
fich gegen den Vorwurf verteidigen müffen, in feiner
Predigt fei der Satz enthalten: die Auferftehung liegt
fchon hinter mir. Lütgert erklärt, das Objekt zu tlaßov
Hellten die unmittelbar vorhergehenden Worte (S. 9—12).
Ich meine im Gegenteil, wenn Paulus im Interelfe der
Selbftverteidigung das hätte fagen wollen, was Lütgert
ihn äußern laßt, dann hätte er nicht verfäumt, durch
ein avxr)v hinter tlaßov feine Abficht unmißverftändlich
zu enthüllen. Daß etwas derartiges fehlt, ift mir ein
Beweis dafür, daß Paulus nicht ein beftimmtes Element,
fondern den Gefamtinhalt der Verfe 9—II als Objekt
im Auge hat. Vers 11 hängt viel enger als mit dem
Folgenden, mit dem Vorhergehenden: OWLiogcpi^ofisvog
reo {raväxqj avxov zufammen.

Phil. 3, 18. 19 bezieht Lütgert auf die chriftlichen
Libertiniften, die er an der Hand diefer Stelle befchreibt
(S. 23—32). Er unterfcheidet zwifchen Feinden Chrifti j
und Feinden des Kreuzes Chrifti, welch letztere — und i
zwar aus Prinzip und mit vollem Bewußtfein — es auch I
unter den Getauften gegeben habe. Ich weiß nicht, ob
viele Lütgert folgen werden. Ich für mein Teil vermag
es nicht, und finde die Deutung der Feinde auf Juden |

nach Rm. 11,28, 1. Cor. 1,23 ungleich näherliegend. Daß
Paulus fich nicht mit fo verletzendem Hohne, wie er in
diefem Falle aus Phil. 3, 19 erklingt, über die Befchneidung
hätte auslaffen können, ift ein Gefchmacksurteil, das
angefichts des herben Sarkasmus von Gal. 5, 12 unberechtigt
ift.

S. 39—47 ift dem Beweis gewidmet, daß Phil. 2,6—8
nicht von der Menfchwerdung des Präexiftenten handle,
fondern die Demut des irdifchen Herrn zur Anfchauung
bringe, der auf feine Gottebenbildlichkeit verzichtet
und die ihm verliehene Macht nicht gebraucht, um fich
irgendwie über das Niveau des Menfchlichen zu erheben.
Diefe Erklärung dürfte allein fchon an dem extvcjötv
fcheitern, das nicht befagen kann, Chriftus habe fich
fortgefetzt des Gebrauchs feiner göttlichen Kräfte ent-
fchlagen, fondern nur, er habe fich feiner Göttlichkeit
in einem einmaligen Akt entledigt.

Daß fich in Theffalonich eine libertiniftifche Richtung
herausgebildet hatte, die der Gemeinde gefährlich zu
werden anfing, ift angefichts von 1. Theff. 3, 6 fchwer zu
glauben. BefondersanfechtbarerfcheintindenErörterungen
über die Theffalonicherbriefe aber die Art, wie Lütgert
das Wort: ,der Tag des Herrn ift da' mit dem anderen
vertaufcht:,die Auferftehung ift fchon gefchehen'(S. 82—85).
Die Gegner der Theffalonicherbriefe follen eben gleicher
Art fein wie die von 2. Tim. 2, 16, und die Erinnerung
an die oben befprochene Deutung von Phil. 3, II. 12 foll
fich einftellen. Aber 2. Theff. fpricht überhaupt nicht
von Auferftehung und der erfte Brief nur in dem Sinn,
daß die Theffalonicher an der Totenauferftehung zweifeln
und Paulus ihnen gütlich zufpricht.

Die berühmte apokalyptifche Stelle 2. Theff. 2 verfteht
Lütgert als Weisfagung eines grandiofen Abfalls innerhalb
der Gemeinde. Die antinomiftifche Bewegung, die
fich fchon in der Gegenwart bemerklich macht, foll zu
gewaltiger Größe anfchwellen und einen Führer und
Vollender in dem ,Sohn des Verderbens' finden. Die
hemmende Macht ift das römifche Reich infofern als
die religiöfe Gefetzlofigkeit fich mit politifchen Revolutions-
gelüften verbindet (S. 92—99). Aber der ganze Tenor
der Beweisführung — um nur auf eins hinzudeuten —,
die Abficht des Paulus, die ungefund gefteigerte Erwartung
zu entfpannen, führt doch darauf, daß der Abfall
ihm etwas fchlechthin Zukünftiges ift. Er fagt nicht:
erft muß die Apoftafie noch ganz andere Formen annehmen
, fondern: erft muß fie kommen. Der Widerfacher
möchte fich wohl bemerklich machen, jedoch er kann
es nicht; denn noch ift er gehemmt.

Es hat mir leid getan, mich auch bei der Lektüre
diefer Studie des Eindrucks nicht haben erwehren zu
können, daß die Konftruktionen Lütgerts auf Einfällen ba-
fieren, die geiftvoll find und anregend wirken, aber fchlech-
| terdings nicht die erforderliche Solidität aufweifen, um die
ihnen zugemutete Laft zu tragen.

Marburg (Heffen). Walter Bauer.

Völter, Prof. Dr. Daniel, Polykarp und Ignatius und die ihnen
zugefchriebenen Briefe neu unterfucht. (Die apoftolifchen
Väter. II, 2.) Leiden, Buchhandlung und Druckerei
vormals E. J. Brill 1910. (V, 209 S.) gr. 8° M. 4 —

Der Verfaffer will der herrfchend gewordenen Anficht
von der PCchtheit der heben ignatianifchen Briefe ein
definitives Ende bereiten, um zugleich feine früher fchon
vorgetragene Hypothefe, Peregrinus Proteus fei der Verfaffer
der fechs Briefe an kleinafiatifche Gemeinden, der
Römerbrief aber eine Fälfchung, genauer zu begründen.
Er beginnt, um zu diefem Ziele zu gelangen, mit einer
Unterfuchung des Polykarpbriefs. Das Todesjahr des
Polykarp fetzt er auf 167, geftützt auf eine Konjektur
im Martyrium, welche ovQivaxiov ftatt oxaxiov lefen will
für die handfchriftliche Zeugen fehlen. Aber folche Da-