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Ausgabe:

1910 Nr. 24

Spalte:

757-758

Autor/Hrsg.:

Heinzelmann, Gerhard

Titel/Untertitel:

Der Begriff der Seele und die Idee der Unsterblichkeit bei Wilhelm Wundt 1910

Rezensent:

Steinmann, Theophil

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757

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 24.

758

daß Tie fich berufen glaubt, die Gottmenfchheit mittels
der Kirche fortgefetzt zu realifieren, welche als Erziehungsanftalt
für den Himmel das Reich Gottes auf Erden
repräfentiert, welche die Gottmenfchheit Chrifti fortfetzt,
indem fie durch ihre Priefter die Wahrheit verkündet,
die VerfÖhnung im unblutigen Opfer beftändig gegenwärtig
hält und fie im Sakrament der Beichte mit der
übernatürlichen Gabe des heiligen Geiftes den Laien
vermittelt. Die Theologie hat diefen Standpunkt zu begründen
, und das gefchieht auch der Hauptfache nach in der
vorliegenden Enzyklopädie, die, foweit es dem Verfaffer
möglich ift, nicht nur einen irenifchen und weitblickenden
Standpunkt im übrigen vertritt, fondern auch den eigentümlichen
Bedürfniffen der Gegenwart gerecht werden
möchte.

Königsberg i. Pr. Dorn er.

Heinzelmann, Lic. Gerhard, Der Begriff der Seele und die
Idee der Unlterblichkeit bei Wilhelm Wundt. Darfteilung
und Beurteilung. Tübingen, J. C. B. Mohr 1910. (XII,
107 S.) gr. 8° M. 2 —

Hinter diefem wiffenfchaftlichen ErfUing fleht ohne
Zweifel eine tüchtige intellektuelle Kraft und felbftändiges
fcharflinniges Urteil. Die Arbeit kann fpeziell zum Zweck
der Auseinanderfetzung mit Wundt, aber überhaupt zur
Auseinanderfetzung über die Unfterblichkeitsfrage als
eine brauchbare Hilfe empfohlen werden.

Die Abficht des Verfaffers geht auf eine .Nachprüfung
der Unfterblichkeitsidee bei Wundt' (S. XII) im
Intereffe der Idee der perfönlichen, individuellen Un-
fterblichkeit. Dabei fcheint ihm der Weg über eine ausführliche
Auseinanderfetzung mit Wundts Seelenlehre
fuhren zu müffen; und ohne Zweifel ift ja auch Wundts
Seelenlehre für feine befondere philofophifche Unfterblichkeitsidee
wenn nicht allein, wie es nach S. XII
bei H. erfcheinen will, fo doch mit von grundlegender
Bedeutung.

H. gibt uns alfo zuerft eine Darfteilung erft von
Wundts empirifchem, dann von feinem metaphyfifchen
Seelenbegriff, darauf von feiner Unfterblichkeitsidee und
macht uns dabei in klarer Kürze mit allem Wefentlichen
bekannt, vielleicht gelegentlich zu knapp und darum
dann nicht befonders durchfichtig (z. B. S. 31 und 32 oder
auch S. 43, wo wir nicht erfahren, wiefern denn ,das
individuelle perfönliche Leben' an jenem unvergänglichen
Zweck teilnimmt). Diefer erfte Teil will wirklich nur
Darftellung fein. Für den Verf. wie für feine Lefer wäre
es aber gewiß noch förderlicher gewefen, wir hätten hier
anltatt eines folchen zutreffend orientierenden Referates
— und mehr fcheint der Verf. nicht erftrebt zu haben —
eine klare fyftematifche Herausarbeitung der Wundtfchcn
Gedankenwelt aus ihren letzten Motiven; wenn beifpiels-
weife einem Satz wie dem folgenden: .Seine ganze Pfycho-
logie ift negativ an der fubflanziellen Auffaffung des
Seelenlebens orientiert' für die Darlegung des Zufammen-
hangs der Wundtfchen Gedanken mehr praktifche Folge
gegeben wäre. Das wäre jedenfalls der Auseinanderfetzung
zu Gute gekommen, die jetzt doch mehr den
Eindruck einzelner fcharffinniger dialektifcher Waffengänge
macht, als den derjenigen Überwindung der be-
ftrittenen Pofition, die aus einem vollen Durchfchauen
ihrer letzten Motive wie von felbft herauswächft.

Heinzelmann kritifiert in feinen einzelnen Waffengängen
Wundts Theorie der unmittelbaren Erkenntnis,
feinen Kaufalitäts- und feinen Subftanzbegriff (meinen
Diffenfus von Hs. Kritik an diefen Punkten darzulegen,
würde zu weit führen), dann feinen empirifchen Seelen- J
begriff (Aktualitätstheorie und Theorie über die Einheit
des Bewuftfeins), endlich feine metaphyfifchen Reful-
täte (den nach Weife der Naturwiffenfchaft verfuchten
Regreffus auf letzte hypothetifche bloße Willens-
einndten, die dabei mit unterlaufende ,gewaltfame Ab- '

trennung der Vorftellung von dem Willen' (S. 84) und
das unzuläffige Operieren mit dem wohl dem Völker-
pfychologen, aber nicht dem Philofophen erlaubten
Terminus .Gefamtgeift', als handle es fich dabei wirklich
um eine dem Einzelgeift ganz analoge, nur umfaffendere
Größe), feine Einwände gegen den chrifHichen Unflerblich-
keitsglauben und feine eigene Unfterblichkeitsidee als
im Syftern felbft nicht wirklich ,objektiv begründet' (fie
ift nicht, wie er meint, Glaube, fondern Wunfeh) und
praktifch unbrauchbar, fofern die bloße ,Unvergänglich-
keit geiftiger Entwickelung' die für die fittliche Praxis

I auch nach Wundt unentbehrliche Idee eines bleibenden
Wertes tatfächlich aufnebt. Faktifch ift ja dies der
fchwache Punkt der Wundt'fchen praktifchen Philofophie;
der nie erreichte und feiende, immer nur werdende
Sinn ift fchon nach Fries' Kritik letztlich doch Sinn-
lofigkeit, und hier dürfte wohl Plato irgendwie im Recht
bleiben gegen allen metaphyfifchen Evolutionismus.

In feiner Auseinanderfetzung mit Wundts Einwänden
gegen perfönliche Unfterblichkeit fcheint mir H. dagegen
weniger glücklich. Das hat feine Urfache an dem Um-

' ftande, daß H. gegen Wundt ohne alle dringend erforderlichen
Scheidungen für die Unfterblichkeit ,der
Seele' kämpft. So heißt es z. B. S. 88 (gegen Wundts
Einwand aus der Gebundenheit des feelifchen Gefchehens
an die Naturbafis): ,Auf jeden Fall muß — nach Wundts
Betonung der Eigengefetzlichkeit des Geiftigen, welcher

I Begriff von H. ganz gleichbedeutend mit feelifchem

| Leben gebraucht wird — die Frage offen bleiben, ob
das menfehliche Seelenleben (!) nur unter den uns bekannten
Bedingungen möglich ift'. Hier verfällt der

I Apologet doch allzufehr in landläufige Ausflüchte. Flier
kann doch mit Recht gefragt werden: behauptet denn
der chriftliche Unfterblichkeitsglaube, recht verftanden,

j wirklich ernfthaft, daß das ganze individuelle Seelenleben
mit feinem befonderen Temperament, das ja doch zum
Greifen deutlich organifch bedingt ift, und mit feinen
befonderen Schwächen oder Vorzügen, kurz daß diefer

j MenfchN.N.mit all feinen feelifchen Befonderheiten unfterb-

j lieh fei? Oder ift es nicht vielmehr fo, daß innerhalb
dieles an den Leibesorganismus gebundenen individuellen
Seelengegebenen als in der ihm zugewlefenen Übungs-
ftätte ein Übergeordnetes zum Werden kommt, von
dem wir nicht wiffen, wie wir fein werden; und das individuell
fondergeartete Seelenleben gehört mit zu der
Hütte, die abgebrochen wird? Dann erft muß der auch von
Wundt erhobene Vorwurf wirklich verftummen, daß der
religiöfe Unfterblichkeitsglaube aus diefen feelifchen Individuen
Hinz und Kunz mehr macht, als ihnen zukommt,
letztlich aus keinem andern Grunde als deshalb, weil fie
felbft fich ganz natürlicher Weife fo befonders wichtig
find. Die eigentlich entfeheidende Frage liegt hier darum
nicht auf dem Gebiete der Pfychologie. Sondern darum
handelt es fich, unter welcher Vorausfetzung allein ein
wirklicher Sinn des geiftigen Lebens und ein wirkliches
Begreifen feiner Erscheinungen als vernünftig heraus
kommt. Diefe letzt entfeheidenden F'ragen berührt unfere
Unterfuchung ja natürlich auch (in den Schlußteilen),
aber fehr in der Kürze; die Hauptfache find pfychologifche
Erörterungen. M. E. hätte aber das Schwergewicht wie
der Darftellung, fo auch der Beurteilung gerade in jenen
fo kurz geratenen Ausführungen liegen müffen. Es
handelt fich H. ja doch um Wundts Unfterblichkeitsidee
und nicht eigentlich um feine Pfychologie. Und er gerät
fo tief in die Pfychologie hinein nur deshalb, weil er,
allerdings mit der landläufigen Meinung, ihre Bedeutung
für die Frage nach der Unfterblichkeit ganz bedeutend
überfchätzt. Hier aber fleht fchließlich An-
fchauung gegen Anfchauung. Wem es um eine wortwörtliche
Seelenunfterblichkeit geht, der wird den von
H. gewählten Weg der Unterfuchung zu gehen haben.

Gnadenfeld. Th. St ein mann.