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Ausgabe:

1910 Nr. 22

Spalte:

693-695

Autor/Hrsg.:

Scholz, Heinrich

Titel/Untertitel:

Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre 1910

Rezensent:

Mulert, Hermann

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693 Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 22. 694

her die Philofophen der intellektuellen Anfchauung ge- Perfönlichkeit Gottes. Endlich verfährt er apologetifch.

griffen haben: die Hypoftafierung der inneren Anfchau
ung als einer intellektuellen. Die pfychologiftifche Wendung
, die die Bergfonfche Philofophie dadurch nehmen
muß, liegt auf der Hand, ebenfo, daß die hiermit eingeführte
Anfchauung vielmehr nur die gemeine finniiche
Anfchauung ift, die, mit fo viel Recht fie ihre Frucht-

indem er die Religiofität als allgemein menfchliche Anlage
, das Chriftentum als vollkommenfte, als abfolute,
d. h. nicht perfektible Religion hinftellt, Chriftus als fin-
guläre, unüberbietbare Erfcheinung.

Diefe Dispofition, daß nämlich c. 2 fragt, wiefo
die Darlegung des Chriftentums von philofophifch-wiffen-

barkeit als Erkenntnisquelle im übrigen behauptet, doch ; fchaftlichen Prinzipien beftimmt wird, c. 3, wiefo in
für (ich zur Löfung gerade der metaphyfifchen Probleme j diefen philofophifch - wiffenfchaftlichen Formen doch
gänzlich unbrauchbar bleiben muß. Diefen Bedenken kann . religiöfe, chrilfliche Motive herrfchen, ift richtig und er-
fich auch Bergfon nicht verfchlicßen: ,Werden wir dann fchöpfend; die apologetifche Tendenz mancher kriti-
den Philofophen nicht in die ausfchließliche Betrachtung i fcher Reduktion wird, foweit es deffen noch bedurft hat

feiner felbft einfchließen? Wird die Philofophie nicht darin
beftehen, fich einfach leben zu fehen, wie ein fchläfriger
Hirt das Waffer fließen fieht?' (S. 34) Er antwortet,
indem er die Schwierigkeiten und Anftrengungen betont,
die ein rein intuitives Verhalten mit fich bringt, indem

klar erwiefen.

Die Grunddifferenz in der bisherigen Beurteilung
Sehls wird man fo formulieren dürfen: Strauß, die
Tübinger und Bender find wefentlich von feiner Philofophie
ausgegangen und fahen feine theologifchen Sätze

er auf die Aktivität hinweifl, die das Fernhalten der Be- 1 als Ergebnis ftarker Akkomodation an. Namentlich in
griffe erfordert. Hierin wird ihm gewiß jeder im Beob- J neuerer Zeit ift, u. a. von Kirn und Stephan, die ent-
achten einigermaßen Geübte recht geben; aber wird der ; gegengefetzte Tendenz vertreten worden: Schi, als Chrift,
Hirt dadurch, daß er aufhört fchläfrig zu fein, fchon j als religiöfer Denker habe mindeftens dasfelbe Recht,
zum Metaphyfiker? j felbftändig gewürdigt, aus fich heraus erklärt zu werden,

Göttinnen Leonard Nelfon. wie Schl- als Philofoph. Wefentlich in diefer Richtung

_5 '__.__- I geht auch das Buch von Scholz. In der Tat verbieten

Scholz Lic Heinr Chriftentum und WiHenfchaft in Schleier- Schls Selbftzeugniffe das unbedingt, daß feine Philofophie
maeners Glaubenslehre. Ein Beitrag zum Verftändnis a!s Mutter feiner Theologie od« gar feines Glaubens
iiiauiieis uiauuciioi-. e angefehen werde. Rein hiltonfch fteht es ja auch fo

der Schleiermacherfchen Theologie. Berlin, A. Glaue daß e_ in de, Theologie Gedanken früh vertreten und
Verlag 1909. (IX, 208 S.) gr. 8° M. 3.25; geb. M. 4.25 j beftändig feftgehalten hat, die von höchfter Bedeutung
Ift man der Meinung, daß im Verlauf der Ent- I für die weitere theologifche Arbeit geworden find, daß
Wicklung die von Kant über bchleiermacher zu Ritfehl er dagegen in der Philofophie zwar auch hervorragendes
hinführt das Verhältnis der Religion zum theoretifchen geleiftet hat, aber weder zu fo ftarker Wirkung gekom-
Denken,' zur Wiffenfchaft. zur Philofophie eine Haupt- j men ift, wie Kant, Fichte, Schelling, Hegel, noch auch,
frage, um nicht zu fagen, die Hauptfrage der fyftemati- i wenigftens in der Dialektik, fo bald und fo ficher zum
fchen' Theologie der Gegenwart geworden ift, fo wird Abfchluß gekommen ift, wie in der Theologie. Jenen
man eine Arbeit fehr willkommen heißen, die Schleier- j Selbftzeugniffen gegenüber, namentlich der in den Sendmachers
Stellung zu diefem Probleme gilt. Um fo mehr, j fchreiben an Lücke vollzogenen fcharfen Scheidung von
als es Schriften, die fich ausdrücklich mit diefem Thema Religion und Philofophie gegenüber, ift es höchltens mög-
befchäftigen, zum minderten aus neuerer Zeit m. W. über- heb. zu fagen, daß er zu folcher Scheidung erft im Lauf
haupt nicht gab. der ^eit gekommen ift, was auch Scholz hervorhebt;

Scholz legt in einem grundlegenden, erften Kapitel beffer werden wir das vielleicht überfehen, wenn einmal

dar, wie Schleiermacher einerfeits die Religion nicht auf
Demonftrationen gründen wollte und von der Speku-

der Entwicklungsgang feiner Dogmatik von 1804 an (wo er
zum erften Mal ein folches Kolleg hielt) bis 1821 bekannt

lation immer fchärfer fchied, auf der anderen Seite'aber fein wird. Gewiffe Differenzen der Beurteilung werden
beide nicht in Jakobis Art voneinander abfperren wollte. ' natürlich einem fo reichen Geift gegenüber immer mög-
Die Harmonie zwifchen Religion und Philofophie, der , lieh bleiben, und wenn es m. E. durchaus nötig ift, feine
er zuftrebte, hatte zur Vorausfetzung, daß feine Philo- religiöfen Gedanken zunächft felbftändig zu würdigen
fophie in .kombinatorifchem Stil' gehalten ift (d. h. die und nicht in einer ihm felbft fremden Weife philofo-
Ideenwelt ' immer in Verbindung mit dem wirklichen ^ phtfeh zu interpretieren (Baur und andere mußten ja
Leben erhält und eklektifch verfährt), den Dogmatismus vielleicht von ihrer ganzen Ideenwelt aus in folches
verwirft und der Gottesidee zuftrebt. Das zweite Kapitel Mißverftandnis verfallen), fo liegen die Gründe dafür
behandelt den wiffenfchaftlichen Charakter der Glaubens- z. T. außerhalb der Schl.fchen Schriften in Tatfachen
lehre, wie er zutage tritt in fyftematifcher Anlage, .kriti- feines Lebens — man muß fich immer gegenwärtig
fchem Stil' (formell: möglichfte Klarheit des Ausdrucks, halten, daß er alle Sonntage gepredigt hat! Die in
nicht biblifche Sprache; materiell: erkenntniskritifche Schieiermachers Schriften felbft liegenden Gründe aber

Erörterungen, z. B. über den GottesbegrirT) und ,evo
lutioniftifcher Methode' (d. h. kontradiktorifche Gegen

hat Sch. trefflich zufammengeftellt, um fo wirkfamer,
als er jeder Tendenz, Schi, zu unrecht in diefem Sinn

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fatze werden als äußerfte Glieder einer Reihe dargeflellt, 1 auszulegen, unverdächtig ift nach dem, was fich von

fo Gut und Böfe, Natürlich und Übernatürlich, Ver
nünftig und Übervernunftig), das dritte die apologetifche
Haltung der Glaubenslehre. Denn apologetifch
waren die Motive, aus denen Schi, die orthodoxe Dogmatik
verkürzte (Ausfcheidung des Kosmologifchen, Auf-
löfung der heilsgefchichtlichen Dramatik, Erweichung
folcher Begriffe wie Wunder, Infpiration u. a.), aus denen
der über der Glaubenslehre liegende pantheiftifche Schein
zu erklären ift — einen mit dem Chriftentum unvereinbaren
Spinozismus darf man zwar nicht in Sehls Determinismus
, feiner Lehre von der Einheit der göttlichen
Eigenfchaften und feiner Behandlung der Unflerblichkeit
finden, aber pantheiltifcher Schein wird tatfächlich ver-
urfacht durch Sehls Erklärung der^Allmacht Gottes,

feiner eigenen dogmatifchen Stellung erkennen läßt und
bei feinen fympathifchen Verftändnis für Spinoza.

Überhaupt ift er der Verfuchung entgangen, allzu
moderne Frageftellungen an Schi, heranzubringen, moderne
Ideen in Schi, hineinzudeuten. Sehls Situation war
anders: weder war die hiftorifche Kritik foweit wie
heute, noch hatte die mechaniftifche Denkweife die
Wucht, die fie feitdem gewonnen hat; eine davon ftark
abweichende, Neufchöpfungen anerkennende, wenn man
will dynamifche, nicht mechanifche Naturphilofophie war
Gemeingut der auf Kant folgenden idealiftifchen Denker
jener Tage. Wie Schi, nun das Verhältnis der wiffenfchaftlichen
zur religiöfen Weltanficht, des Wiffens zum
Glauben, der Philofophie zur Theologie gefaßt hat, das

feine Gedanken über Immanenz und Transzendenz fowie | hat Scholz im erften Kapitel wie am Schluß zufammen-