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Ausgabe:

1910 Nr. 22

Spalte:

691-693

Autor/Hrsg.:

Bergson, Henri

Titel/Untertitel:

Einführung in die Metaphysik. 1. Tsd 1910

Rezensent:

Nelson, Leonard

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 22.

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Vifchers Darfteilung noch folgende. Nach der Reformation
kam man in Bafel ein volles Jahrhundert mit nur
zwei theologifchen Profefforen aus; um 1650 wurde ein
dritter, 1855 ein vierter, 1866 ein fünfter hinzugefügt.
Dazu kamen dann noch die von dem ,Verein für chrift-
liche Wiffenfchaft' befoldeten 2—3 Dozenten. Daneben
beteiligten fich früher vielfach die Pfarrer am akademi-
fchen Unterricht. Ein fehr wefentlicher Gefichtspunkt
war und ift die Frage der Lehrkräfte. Mehrfach ift eine
akademifche Lehrtätigkeit früher unentgeltlich und frei
ausgeübt worden. Im 18. Jahrhundert, als ,die Bürgerfchaft
Bafels einen großen Pkamilientag bildete', ift
eine Zeitlang die letzte Entfcheidung bei der Berufung
durchs Los vollzogen worden. Auf die Amtstracht
haben die Basler Profefforen feit 1799 verzichtet. Regelmäßige
theologifche Prüfungen find leit 1745 abgehalten
worden. Bis fpät ins 17. Jahrhundert hinein ift in Bafel
trotz feines reformierten Bekenntniffes über die altkirchlichen
Perikopen gepredigt worden. Die Langfamkeit
der früheren, allerdings mit allem Möglichen vollgepfropften
exegetifchen Vorlefungen erhellt daraus, daß
z. B. der berühmte Wettftein 18 Jahre brauchte, um 13 Kapitel
des Johannesevangeliums zu erklären u. f. w. Beachtenswert
ift auch, daß Georg Müller bereits feit 1837
regelmäßige Vorlefungen über die Gefchichte der poly-
theiftifchen Religionen (alfo ,Religionsgefchichte') gehalten
hat.

Vifcher fchließt feine Schrift, der er als Beilagen
die Satzungen der theologifchen Fakultät von 1540, die
Stiftungsurkunde des Frey-Grynaeifchen Inftituts von
1747 und eine Fülle gelehrter Literaturnachweife angefügt
hat, mit einem beachtenswerten Abfchnitt über die
Profeffur für praktifche Theologie (S. 116 ff.). Dazu erwähne
ich, daß meine Ernennungsurkunde von 29. Januar
1898 mich ernannt hat ,zum ordentlichen Profeffor
für ältere Kirchengefchichte und praktifche Theologie
', und bemerke noch, daß eine befondere Profeffur für
praktifche Theologie durch die Tatfache, daß die fchwei-
zerifchen Theologieftudierenden ihre letzten Semefter faft
ausfchließlich in Deutfchland zubringen, außerordentlich
erfchwert werden dürfte. Der alma mater Basiliensis,
infonderheit ihrer theologifchen Fakultät wünfche ich
auch fernerhin alles Gedeihen, der Vifcherfchen Schrift
viele verftändnisvolle Lefer!

Frankfurt a. M. D. Bornemann.

Bergfon, Henri, Einführung in die Metaphyfik. Autori-
fierte Übertragung. Jena, E. Diederichs 1909. (58 S.)
gr. 8° M. 1.50; geb. M. 2 —

Die vorliegende Schrift, die fich durch ihre populäre
Form, ihren programmatifchen Charakter und die
Vorzüglichkeit der Überfetzung fehr zu einer erften Einführung
deutfcher Lefer in die eigenartige Gedankenwelt
des Verfaffers empfiehlt, gehört unter die in der Gefchichte
der Philofophie periodifch wiederkehrenden,
gegenwärtig wieder in wachsendem Anfehen befindlichen
Beftrebungen, den in den anderen Wiffenfchaften bewährten
begrifflich-logifchen Methoden in der Philofophie
den Rücken zu kehren und eine Metaphyfik der
intellektuellen Anfchauung aufzubauen. Zweifellos mit
Recht wird hier wieder und wieder gegen die Auffaffung
des Verftandes als eines felbftändigen Erkenntnisvermögens
polemifiert, gegen die Illufion, als ließe fich durch noch
fo weit getriebene begriffliche Determinierung jemals
das Individuelle der unmittelbaren Anfchauung erfchöpfen.
Die Metaphyfik, deren Obliegenheit es nach der Definition
des Verfaffers ift, ,ohne Symbole auszukommen',
muß fich daher — fo wird hier gefciiloffen — zu der
eigentlichen und einzigen Quelle wahrer Erkenntnis, der
Intuition, erheben, um aus ihr den Gehalt zu fchöpfen,
den die bisher durch das Beifpiel der anderen Wiffenfchaften
irregeführte Reflexionsphilofophie vergeblich zu
faffen bemüht war.

So klar der Ausgangspunkt diefes Gedankengangs —

' die Betonung der Mittelbarkeit und Leerheit der Reflexion

[ — ift, fo gewagt und anfechtbar erfcheinen die daran
geknüpften Folgerungen. Dies zeigt fich vielleicht am
klarften in Bergfons Polemik gegen Kant. Daß fich aus
bloßer Logik keine Metaphyfik machen läßt, hat be-

| kanntlich auch fchon Kant eindringlich gelehrt. Wenn er
trotzdem die Metaphyfik der intellektuellen Anfchauung ver-

I worfen hat, fo ift er damit keineswegs fich felbft untreu
geworden. Vielmehr war er fich darüber klar, daß die An-

I nähme einer metaphyfifchen Intuition eine nicht weniger

! phantaftifche Fiktion ift wie die Ploffnung, eine Metaphyfik
aus bloßen Begriffen abzuleiten. So wahr es ift,

1 daß aus bloßer Reflexion keine metaphyfifche Erkenntnis

j entfp ringen kann, fo wahr ift es andererfeits, daß wir

] nur durch Reflexion zum Bewußtfein um die metaphyfifche
Erkenntnis gelangen können. Daraus, daß die

j Erkenntnisquelle der Metaphyfik nicht in der Reflexion
liegt, läßt fich alfo nicht fchließen, daß fie in der Intuition
liegen müffe.

Die Argumentation Bergfons würde in der Tat zu
viel beweifen. Dadurch, daß die Metaphyfik ohne Be-

j griffe auskommen foll, würde fie fich allerdings von den

I anderen Wiffenfchaften hinreichend unterfcheiden. Aber
wie kann fie unter diefen Umftänden felbft noch den
Charakter einer Wiffenfchaft haben? Wiffenfchaft muß

! ihre Erkenntnilfe in Urteilen formulieren und ift dadurch
notgedrungen auf den Gebrauch von Begriffen ange-
wiefen. Was wird alfo aus der Wiffenfchaft .Metaphyfik',
wenn die Begriffe für fie verbotene Ware find? Bergfon
hilft fich hier mit der Unterfcheidung von eigentlichen
und uneigentlichen Begriffen. .Sicherlich', fagt er von

I der Metaphyfik, ,find ihr die Begriffe unentbehrlich'. Aber
im Gegenfatz zu den ,ftarren und fertigen Begriffen' der

[ anderen Wiffenfchaften find ihre Begriffe .gefchmeidige,
bewegliche, faft [?| flüffige Vorftellungen, die immer bereit
find, fich den flüchtigen Formen der Intuition anzubilden'
(S. 13). Wir gelangen fo ,zu flüffigen Begriffen, welche
fähig find, der Wirklichkeit in all ihren Windungen zu
folgen und die Bewegung des inneren Lebens der Dinge
anzunehmen' (S. 43). Hier verfällt ja Bergfon unvermerkt
gerade in den von ihm fo heftig bekämpften Fehler, oder

I was find feine .unfertigen' und .flüffigen' Begriffe anderes
als die verdeckte Wiedereinführung des widerfprechenden
Verfuchs, das Allgemeine und Unveränderliche, das dem
Begriff unaufhebbar eigen ift, mit dem Individuellen und

! ftets Wechfclnden der Anfchauung zu verfchmelzen ? Die

| Vergleichung mit der Infinitefimalanalyfis, auf die Bergfon
zur Erläuterung hinweift, ift hier in der Tat fehr
lehrreich, jedoch in einem feiner Abficht ganz entgegengefetzten
Sinne. Eine um einen Punkt einer Kurve fich

I drehende Gerade nimmt fukzeffive alle Lagen einer Sekante
an und läßt uns für die Anfchauung einen ftetigen
Übergang der Sekante in die Tangente erkennen. Begrifflich
aber ift zwifchen einer Sekante und einer Tangente
ein durch nichts zu überbrückender Unterfchied,
die Tangente läßt fich vielmehr nur als die nie erreichbare
Grenzlage der Sekante definieren, und der Gedanke
eines Übergangs des einen Begriffs in den andern bleibt
eine logifche Abfurdität. Entweder alfo wir bleiben bei
der Anfchauung flehen, dann gelangen wir überhaupt zu
keiner Wiffenfchaft, und folglich auch nicht zur Meta-

' phyfik, oder aber wir fuchen Metaphyfik, alfo Wiffenfchaft
, dann müffen wir wohl oder übel die Anfchauung
verlaffen und uns der Reflexion anvertrauen.

Diejenige Intuition, auf die Bergfon die Mttaphyfiker
verweift, ift denn auch wenig geeignet, den Kantifchen
Leugner einer intellektuellen Anfchauung in Verlegenheit
zu fetzen. Ihr Objekt ift der Ablauf des inneren Lebens,

| die Beweglichkeit der Dauer'. Man fleht leicht, daß wir
hier das Auskunftsmittel vor uns haben, zu dem von je-