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Ausgabe:

1910

Spalte:

690-691

Autor/Hrsg.:

Vischer, Eberhard

Titel/Untertitel:

Die Lehrstühle und der Unterricht an der theol. Fakultät Basels seit der Reformation 1910

Rezensent:

Bornemann, Wilhelm

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heran, der fie aucli nicht gewachfen gewefen, die Ver-
fuchung, felbft zum Staat werden zu wollen, in .weltlicher
' Weife die Welt zu erobern, felbft zu einem !
,Reiche der Welt' zu werden und ihre Glieder fo zu ge- [
winnen und zu hegen (fie als ,Maffe' zu behandeln und
zu /zwingen'), wie es im Staate gefchieht. Ich kann natürlich
über das Detail hier nicht berichten. Bemerkenswert
ift z. B. in der zweiten Vorlefung befonders die
Frage, wie die Reichsregierung dazu kam und dabei
blieb, die Juden zu dulden, ja zu privilegieren, die
Chriften aber zu beargwöhnen und zu verfolgen. Der
Stoff, den H. vorführt, ift an fich meift kein neuer.
Aber er ift vielfach unmittelbar aus den Quellen ge-
fchöpft und H. verfteht es, farbige Bilder, anfchauliche
Illuftrationen zu gewähren. Gern fchöpft er auch aus
guter abgeleiteter Literatur, meift englifcher. Letzteres
foll nicht gefcholten werden, ift aber doch eine Schranke.
In der vierten Vorlefung z. B. hätte H. gewiß von
H. v. Schuberts Vortrag ,Das ältefte germanifche Chri-
ftentum oder der fog. Ärianismus der Germanen', 1909,
Nutzen ziehen können (wohl nicht mehr bei der erften
Ausarbeitung, aber vielleicht noch beim Drucke). Die
Reformation hat nach H. viel dazu beigetragen, daß das
,alte' erfte Chriftentum wieder erkannt und die Gedanken
Jefu wieder bemerkt und begriffen wurden. Sie hat wieder
Märtyrer für die Kirche erflehen laffen und das ift
ein ficheres Zeichen, daß die Kirche wieder begann, fich
auf fich felbft der Welt gegenüber zu befinnen. Aber
fie bleibt doch zuletzt in Halbheiten flecken. Das
,Staatskirchentum', der Eraftianismus (das ift englifch geredet
), verdirbt auch hier die Sache. Verf. kennt Luther
und die deutfche Entwicklung nicht fehr genau. (Sohms
.Kirchenrecht', Bd. I 1892, das ihm auch für die alte
Kirche, zumal das N. T., etwas hätte bedeuten können,
Riekers Werk ,Die rechtliche Stellung der evang. Kirche
Deutfchlands' 1893 u. a. — ich denke zumal auch an die
letzten Unterfuchungen von Drews, Hermelink, Karl
Müller über Luthers Anfchauungen von der Kirche: nur
Müllers Buch lag 1909 noch nicht vor — fie alle hat er
nicht berückfichtigt). Aber er ift den .kontinentalen*
Kirchen, dem .Proteftantismus' gegenüber (den er vom
englifchen evangelifchen Chriftentum als eine wefentlich
andere Form unterfcheidet), nicht etwa animos; er zitiert
von Luther mehr als ein Wort mit Sympathie. Und
vor allem wendet er feinem anglikanifchen Kirchentum,
der established church gegenüber, fo fehr er fie liebt,
nicht andere Urteilsmaßltäbe an. Er hat einen unparteilichen
Sinn.

Die beiden letzten Vorlefungen gelten der Gegenwart
, die fiebente mit der charakteriftifchen Überfchrift:
.The religious Chaos of To-day', worauf dann in der
achten noch ein , Outlook' in die Zukunft und eine Erörterung
der Hilfsmittel folgt, die die Kirche auch jetzt
der ,Welt' gegenüber befitze und auf die fie fich nur
befinnen müffe, um vieles beffern zu können. Was der
Redner in der fiebenten Vorlefung vorbringt, ift ein fehr
intereffanter Beitrag zur .englifchen Kirchenkunde'. Wir
haben in Deutfchland oft die Vorftellung, als ob das eng-
lifche Volk kirchlicher fei als unferes. Es fcheint doch
nicht, als ob das wirklich oder in bedeutfamem Maße
zutreffe. Ich las die Ausführungen, indem ich immer
wieder im Geifte ein ,ganz wie bei uns' hinzufügte. Ja,
das Problem der Staats- und Volkskirche! Ich kann
darüber mit Hobhouse hier nicht diskutieren. Wie die
achte Vorlefung zeigt, will er nicht Peffimift fein. Das
wäre auch in der Tat falfch. Manches in der Vergangenheit
, fpeziell in der ,alten' (vorkonftantinifchen) Chriften-
heit, fleht dem Redner (foweit ich urteilen kann), in zu
hellem Leuchten da. Und in der Gegenwart ift, wie mir
fcheint, mehr Licht, als er fieht. Aber gerade bei feiner
fcharfen Gegenüberftellung von ehedem und jetzt muß
man anerkennen, daß er dem Peffimismus entfchloffen
wehrt. Mit befonderer Freude blickt er auf die Miffion

in unferen Tagen; hier find endlich wieder evangelifche
Methoden in Gang gefetzt. In der heimifchen Chriften-
heit mit ihren .Rechten' ift man noch innerlich, nicht
bloß äußerlich, unfrei. Ich kann mir nicht anders denken,
als daß H., ein Sorgenvoller, wie er ift, aber einer, der
in Liebe um die Kirche forgt, in England mit feinem
Buche Eindruck macht. Und auch unter uns follte er
Lefer finden!

Halle a. S. F. Kattenbufch.

Vifcher, Prof. D. Eberhard. Die Lehrftühle und der Unterricht
an der theol. Fakultät Balels leit der Reformation.

(Sonderabdruck aus der Feftfchrift zur Feier des
450jährigen Beftehens der Univerfität Bafel.) Bafel,
Helbing & Lichtenhahn 1910. (132 S.) gr. 8° M. 2 —

Es ift ein ausführlicher und gelehrter Beitrag, den
Eberhard Vifcher, der bei dem kürzlichen 450jährigen
Jubiläum der Univerfität Bafel auch die Feftrede im
Münfler gehalten hat, für die bei der gleichen Gelegenheit
erfchienene Feftfchrift geliefert hat. Vifchers Schrift
hat nicht blös für Bafel, an deren Univerfität in früheren
Zeiten die theologifche Fakultät die meiften Studenten
zählte, und für die Schweiz Intereffe; fondern jeder, der
für die Entwicklung der Univerfitäten und des theo-
logifchen Studiums Sinn hat, wird ihren Inhalt mit
Freude, Anregung und Dank lefen. Die Arbeit Vifchers
Hellt fich als eine Fortfetzung der für die Säkularfeier
der Univerfität Bafel von K. R. Hagenbach verfaßten
Feftfchrift (1860) dar; doch hat fie diefelbe zugleich
| mannigfach ergänzt und im einzelnen berichtigt. So hat
fie z. B. die inzwifchen erfchienencn reichhaltigen Unterfuchungen
und Darftellungen von Thommen, Burckhardt-
Biedermann, Luginbühl, Stähelin u. a. m. und eine Reihe
von felbftändigen Forfchungen des Verfaffers verwertet,
auch in gründlicher und untüchtiger Weife ein umfangreiches
, z. T. bisher nicht beachtetes Aktenmaterial,
Briefe und Lektionskataloge (der ältefte flammt von
1612) herangezogen. Auch wird über die jeweiligen
Reorganifationsverfuche, fowie über das Frey-Grynaeum
und das theologifche Konkordat genauer berichtet. So
gewährt die Schrift einen vortrefflichen Einblick in die
Entwicklung der Basler Univerfität und theologifchen
i Fakultät und damit zugleich in typifcher Weife in die
Entwicklung der Univerfitäten, der Theologie und Kirche
feit der Reformation überhaupt. Der Gegenfatz zu den
mittelalterlichen Verhältniffen und doch auch die Anknüpfung
an diefe im Reformationsjahrhundert, die fehr
langfame, aber innerlich begründete Entfaltung der ver-
fchiedenen Fächer aus der Behandlung des Ä. und N.
Teffaments, die Abhängigkeit der akademifchen Ordnungen
von den jeweiligen politifchen, kirchlichen und
und finanziellen Verhältniffen, die große Schwierigkeit
jeder durchgreifenden Reform, die Bedeutung einzelner
hervorragender Männer und Kreife für das Gedeihen und
die Entfaltung der Univerfität — das alles tritt deutlich
| hervor. Charakteriflifch für Bafel ift nicht bloß der Ein-
j Muß und die Wirkfamkeit beftimmter berühmter Familien
! und Gelehrtendynaftien, fondern ebenfo der innige Zu-
I fammenhang zwifchen der Basler Bürgerfchaft und der
I Univerfität und zwifchen dem kirchlichen und wiffen-
I fchaftlichen Leben. Namen wie Grynaeus, Buxtorf,
Werenfels, Frey, Merian, Stähelin, Ifelin, Burckhardt,
Riggenbach, Vifcher bezeugen das ebenfo wie die ,Frei-
j willige akademifche Gefellfchaft' (1835), der .Verein für
j chriftliche Wiffenfchaft' (1836) und das .theologifche Kon-
j kordat' (für Bafel feit 1871). Es ift einfach großartig,
wie der Kanton Bafel-Stadt, während unfere deutfchen
Univerfitäten fo zu fagen ein Hinterland von je mehreren
Millionen haben, mit feinen etwa 150COO Einwohnern
eine eigene, blühende Univerfität erhält!

An intereffanten Einzelheiten erwähne ich aus