Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1910 Nr. 22

Spalte:

687-690

Autor/Hrsg.:

Hobhouse, Walter

Titel/Untertitel:

The Church and the World in Idea and in History 1910

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

687

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 22.

688

pern gehört neuerdings mit zu England und das ift mit
Montenegro nicht der Fall). Gut ift die Darfteilung der
ruffifchen Kirchengefchichte, NB. bis zu Alexander
II. Daß hernach in Rußland noch recht wichtiges
gefchehen ift, ja gerade in unfern Tagen gefchieht, beachtet
der Verf. nicht, bezw. nur — und fehr unzureichend
— foweit die Sekten dort in Betracht kommen.
Das Werk von Palmieri ,La chicsa Russa. Le sue
odierne condizzoni e il suo riformismo dottrinale, 1908,
konnte er wohl noch nicht benutzen. Daß er von
Graß' großem Werke über die ruffifchen Sekten nichts
weiß, ift ihm aber doch zum Vorwurf zu machen. Was
A. über die fyrifchen Kirchen (die Jakobiten und Nefto-
rianer, einfchließlich der indifchen Thomaschriften), über
die armenifche, koptifche und abeffinifche Kirche vorträgt
, ift wieder in feiner Weife willkommen und brauchbar
, nur daß eben auch da das ,Altertum' und allenfalls
noch diejenigen weiteren Zeiten, die vorüber find,
den Hauptgegenftand der Darfteilung bilden. Eine ge-
wiffe Ausnahme macht die koptifche Kirche, die in dem
englifch regierten Ägypten heimifch ift. Es wird richtig
fein, daß diefe Kirche der englifchen Okkupation des
Landes ihre Rettung (vor dem Fanatismus des Mahdi)
zu danken hat, und daß die Kopten, die fich, wie der
Verf. erfahren hat, der englifchen Herrfchaft freuen, feiner
Sympathie begegnen, ift nicht zu beanftanden. Doch
felbft hier hätte Ä. gut getan, mehr konkretes Detail zu
bringen. Alfo im ganzen geht mein Urteil dahin, daß
das Buch von A. nützlich und anfprechend ift, wenn
man den Begriff der ,History' im allgemeinen begrenzt
auf das, was fchon ziemlich (oder recht) lange gewefen
ift. Der Titel erweckte mir zunächft eine andere Erwartung
.

Halle a. S. F. Kattenbufch.

Hobhouse, Walter, M. A., The Church and the World in

Idea and in History. London, Macmillan & Co. 1910.
(411 p.) 80

Die Engländer haben eine Art von Literatur fehr
viel mehr entwickelt, als wir, die der gelehrten und doch
nicht nur auf Fachleute berechneten Monographie. Unfere
populäre Literatur wird ja zum Teil von Gelehrten, oft
den beften Sachkennern bedient, aber fie ift meift allzu
knapp. Das oben bezeichnete Werk hat freilich noch
einen Spezialanlaß. Es repräfentiert nämlich die Bamp-
ton Lecturcs von 1909. Aber gerade die Einrichtung
diefer Vorlefungen zeigt auch den Sinn der Engländer,
den ich berührte. Das Thema ift das Verhältnis zwifchen
Kirche und Welt, nach der Idee und in der Gefchichte.
Wir haben in Deutfchland kein Werk, das dem Hob-
housefchen genau entfpräche. Wären nicht die Verhält-
niffe in England felbft doch ftark bevorzugt, fo würde
ich mich freuen, wenn das Werk ins Deutfche überfetzt
würde. Es ift in der Form frifch und lebendig, in der
Stoffauswahl glücklich, allenthalben für den Gebildeten
verftändlich, zugleich doch auch für den Sachkenner anregend
und vielfach belehrend. Man braucht nicht Theologe
zu fein, um dem Redner mit Intereffe folgen zu
können, und ift doch gerade auch als folcher ihm zum
Schluffe dankbar für das, was er geboten hat.

Die erfte Vorlefung gilt dem Neuen Teftamente,
nicht nur den Gedanken des Herrn felbft über feine
Gemeinde und ihr Verhältnis zur Welt, auch nicht den
weitern ,Gedanken' bloß darüber, die in den verfchie-
denen Schriften des N. T.s zutage treten, fondern ebenfo
der tatfächlichen Art, wie die ,Kirche' und die ,Welt',
die Gemeinde, die Jefus hinterläßt, die die Apoftel verbreiten
und leiten, und zum Teil die Judenfchaft,
zum Teil das Römerreich fich berühren. Hobhouse ift
nicht ängftlich der hiftorifchen Methode gegenüber, mit
der gegenwärtig das N. T. als Quelle behandelt wird.
Aber er glaubt der modernen ,Kritik' vieles nicht und

! wird damit recht haben. Die Art, wie Jefu Gedanken
vom Gottesreich im Rückfchlage zu Albrecht Ritfchls
an Leibnitz, Kant, Schleiermacher orientierter Denk-

( weife, in den letzten zwei Dezennien bei uns als wefent-
lich, wenn nicht ganz und gar eschatologifche Intuitionen
verftanden wurden (H. kennt Joh. Weiß und A. Schweitzer),
dürfte in der Tat die Grenzen ihrer Wirkfamkeit erreicht
und überfchritten haben. Ritfchls Gedanken werden nicht
einfach wiederkehren, aber das Maß von Recht, das ihnen
innewohnt und das verkannt worden, wiedererlangen. Ob
H. Ritfehl kennt, weiß ich nicht, er zitiert ihn nie. Er
folgt wohl mehr anglikanifch-traditionellen ,Gewißheiten'
dem N. T. gegenüber, wenn er Jefu Vorftellung vom
Gottesreiche und von feiner perfönlichen Aufgabe fich
mehr auf der .kirchlichen' Linie bewegen läßt. Auch

; ich glaube, daß die .Kirche', d. h. die zu hiftorifcher

•■ Geltung gekommene Art von b/.x?.rioia, die fich an ihn
angefchloffen, von Jefu eigenem Willen, feiner ,Stiftung',

i viel mehr in fich trägt, als die Hiftoriker noch meift zu-
geftehen. H. hat, indem er vom N. T., fpeziell von
Jefus handelt, die Abficht, fich der Normen zu verge-
wiffern, mit denen er die Kirchengefchichte begleiten
und beleuchten kann. Und wer dürfte ihm das wehren?

j Er ift infofern nicht ,Hiftoriker', fondern Dogmatiker,

i als er fich ein Urteil darüber geblattet, ob jefus, kurz
gefagt, noch lebendig fei oder tot, ob er noch wieder
zu Leben und Kraft unter uns kommen könne, kommen
,follte', wenn er etwa empirifch vergeffen oder unwirk-
fam geworden fein möchte. Das ift freilich eine Frage,
die nicht eigens mit unterfucht werden kann, wenn
man ein Thema hat, wie H. es fich geftellt. Verf. läßt
nur keinen Zweifel, wie er die Frage im Prinzip beantwortet
. Seine Antwort ift ein Ja: Jefu Kirchenidee kann

; und ,foll' weiter gelten, ift für die moderne Frömmigkeit
nicht bedeutungslos, gegenftandslos geworden, fondern
wird ihr erft wieder Halt und Kraft geben. Daß
fie in weitem Maße tatfächlich einflußlos geworden ift, beweift
an fich nichts wider fie und erklärt fich aus der
Gefchichte des Verhältniffes von ,Kirche und Welt'.

Die zweite Vorlefung behandelt die ,Überwindung'
der Welt durch die Kirche, die dritte dann aber die

innere Umgeftaltung der Kirche durch die Welt, die
,Säkularifierung' der Kirche. Die vierte verfolgt hierauf
die Art, wie die Kirche fich in und nach der Völker-

I Wanderung die ,Barbaren' angliedert, im Mittelalter ihre
Miffionsaufgabe verlieht, fich ,erweitert'. In der fünften
kommt das Papfttum und fein Verhältnis zum neuen Weltreich
, dem /heiligen römifchen Reiche' unter den deutfehen

1 Kaifern, zur Darfteilung. Dann in der fechffen die ,Re-

1 Formation und ihre Folgen'. Verf. hat von Anfang an

j immer wieder betont, daß er fich genau an fein Thema
halte und darum nicht alles, was über die .Kirche', gar
über die ,Welt' zu fagen fei, vorzubringen oder auch
nur zu berühren beabfichtige. Er hat kurz fixiert, daß
Jefus eine ,fichtbare Gemeinde', eine organifierte Jün-
gerfchaft hinterlaffen habe. Zweierlei aber fetze Jefus
dabei voraus: 1, daß man frei feiner Gemeinde zutrete
(Gott vergewaltige nie einen Menfchen; der Glaube fei
über jede Art von Zwang, zugleich aber auch über Abdämmung
erhaben), 2. daß man Opfer für die Zugehörigkeit
zu diefer Gemeinde, für feinen ,Glauben' und
für fein Recht in der Kirche zu bringen bereit fei. Als
,Welt' Hellt H. einheitlich den .Staat' und feine Methode
hin, zumal auch feine Art fich der Religion anzunehmen,
fie zu ,fchützen', aber auch zu ,beftimmen', mindeftens
zu bevormunden. Nun verfolgt er, wie Kirche und
Staat fich zu einander verhalten haben, wie lange die
Kirche fich als Größe sui generis begriffen und behauptet
habe, wie der Staat fie zuerft halb achtlos, halb
feindlich angefehen, je länger je mehr in Furcht ge-

I mißhandelt, durch Verfolgung zu vernichten gefucht
habe, bis er fich vielmehr feinerfeits .chriftianifierte'. Und

I nun erft kommt die eigentliche Verfuchung an die Kirche