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Ausgabe:

1910 Nr. 20

Spalte:

635-636

Autor/Hrsg.:

Niebergall, Friedrich

Titel/Untertitel:

Jesus im Unterricht. Ein Handbuch für die Behandlung der neutestamentlichen Geschichten 1910

Rezensent:

Bornemann, Wilhelm

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635

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 20.

636

Nieberg all, Prof. Lic. Fr., Jefus im Unterricht. Ein

Handbuch für die Behandlung der neuteftament-
lichen Gefchichten. (Praktifch-theologifche Handbibliothek
. 11. Band.) Göttingen, Vandenhoeck &
Ruprecht 1910. (VIII, 174 S.) 8° M. 2.80; geb. M. 3.40

Niebergalls Büchlein unterfcheidet fich von den
bisherigen Hilfsmitteln für den Unterricht dadurch, daß
es einerfeits der Unterrichtspraxis unmittelbarer dienen
möchte, als es z. B. die populären Erklärungen des
N. T.s tun können, und daß es andererfeits doch nicht
ein ausgeführtes Präparationswerk wie diejenigen von
Thrändorf, Reukauf, Staude ufw. fein will. Es bringt
vielmehr an den evangelifchen Stoff im Ganzen wie
an die einzelnen biblifchen Gefchichten allerlei grund-
fätzliche Betrachtungen, kritifche Beobachtungen und
praktifche Ratfchläge heran. Dem Lehrer werden alfo
nicht didaktifche Anweifungen im Einzelnen, fondern
leitende Gedanken dargeboten, zunächft in allgemeinen
Überfichten, dann für jeden einzelnen Abfchnitt; und
zwar wird jede Gefchichte felbft noch dreifach beleuchtet
: 1. durch einleitende gefchichtlich-kritifche Er-
kenntniffe, 2. durch religiöfes Gedankengut, und 3. durch
,fo viele Winke und Anweifungen für Unter-, Mittel-
und Oberftufe, als der Raum und die Aufgabe felbft
erlaubte'. Der gefamte Stoff ift in freier Anordnung in
drei Gruppen geteilt: die Kindheitsgefchichte — die
Zeit des Wirkens Jefu (die Zeit der Vorbereitung; Jefus
heilt an Leib und Seele; Jefus im Kampfe um Werte
und Maßftäbe) — Leiden und Sieg; endlich folgt ein
kurzer, zufammenfaffender Anhang. So ift ein inhaltsreiches
und wertvolles Buch entftanden, das es dem
Lehrer außerordentlich erleichtert, die von der modernen
Theologie errungenen und für fie maßgebenden Er-
kenntniffe im Unterricht zweckmäßig, pädagogifch und
zufammenhängend geltend zu machen.

Wie nicht anders zu erwarten, ift auch diefe Nieber-
gallfche Arbeit gut lesbar, gedankenreich, frifch und
gefund in ihrer ganzen Art. Sie enthält, wenn fie auch
naturgemäß das Thema nicht erfchöpft, viele feine Bemerkungen
und treffende Formulierungen und ift in
jedem Abfchnitt außerordentlich anregend und des
Nachdenkens wert, — auch da, wo fie, wie es zuweilen
vorkommt, ein wenig übertreibt oder zum Widerfpruch
herausfordert. Daß bei dem richtigen Unterricht, zumal
dem religiöfen, Anfchaulichkeit und Stimmung von
ganz wefentlicher Bedeutung ift, erfcheint auch mir
überaus wichtig; und in diefer Hinficht gibt Niebergall
eine vortreffliche Anleitung. Aber ich glaube doch,
daß er an dem bisherigen Unterricht eine etwas fum-
marifche Kritik übt. Daß es doch auch fehr notwendig
ift, klare Begriffe herauszuarbeiten, erwähnt er felbft
(S. 74) und zeigt es auch felbft, nur daß feine Begriffe
und Lehren eben vielfach andere find als die traditionellen
. Und wenn er felbft in gewiffem Sinne feinem
Stoffe als Künftler gegenüberfteht und ihn mit künft-
lerifcher Anfchauung und Schöpferkraft behandelt, fo
ift das doch nicht ohne Weiteres dem Durchfchnitts-
lehrer gegeben oder zuzumuten. Deshalb wäre es recht
dankenswert gewefen, wenn N. wenigftens einige ausgeführte
Beifpiele dargeboten hätte. Denn die Ge-
fichtspunkte der modernen Theologie und Pädagogik
im Allgemeinen fich anzueignen, ift heutzutage nicht
mehr fo fchwer, die Durchführung im Einzelnen ift das
Allerfchwierigfte. Im übrigen zeigt auch N. — und
zwar mit gutem Recht —, daß man nach rein theore-
tifchen Gefetzen eben doch nicht alles glatt erledigen
kann. Hierher gehört, was er über die Behandlung der
Parabeln fagt (S. 85!.); ferner, daß er doch auch mehrfach
die Durchnahme und Einprägung folcher Sprüche
und Stoffe befürwortet, die noch über das Faffungs-
vermögen der Kinder hinausgehn; endlich auch, daß er

neben dem Evangelium unter Umftänden doch auch
dem Gefetz das Wort redet (S. 98).

Bei Kleinigkeiten — zuweilen erfcheinen mir Ausdrücke
nicht ganz paffend, Urteile nicht ganz richtig,
Formulierungen nicht ganz glücklich — halte ich mich
nicht auf. Aber in einigen fachlichen Punkten muß ich
meinen Diffenfus ausfprechen. Die Ausführungen über
das Kinderevangelium (S. 66 f.) finde ich doch reichlich
eng begrenzend. Bei Nikodemus (S. 80) fcheint mir
das Wichtigfte zu fein der Gegenfatz zwifchen den
peinlichen Unterfuchungen und Konftruktionen der
zünftigen Schriftgelahrfamkeit und dem freien, jeder unbefangen
fuchenden Seele zugänglichen Wefen des
Gottesgeiftes. Bei dem guten Hirten (S. 87 ff.) würde
ich die Pointe darin fehen, daß das freie Einfetzen des
Lebens das Eigentumsverhältnis und die Liebe bewcft.
Bei dem reichen Mann und dem armen Lazarus (S. 107 ff.)
liegt die Pointe in dem auch von N. hervorgehobenen
Schlußwort (Luk. 16, 27—31); die erfte Hälfte der Gefchichte
würde ich unbefangener und nicht dogmatifch
beurteilen wie N. Auch über das Gefpräch Jefu mit
der Samariterin denke ich didaktifch günftiger als er
(S. 77ff.), ebenfo über das Gleichnis von den 10 Jungfrauen
(S. 105 f.). Bei dem Säemann kehrt N. felbft
S. 92 h zu der Deutung zurück, die er S. 90 zunächft
— nach dem Buchftaben der Formel urteilend — abzulehnen
fcheint, die in Wirklichkeit doch aber Mt. 13,19 ff.
dargeboten wird. Bei dem barmherzigen Samariter ift
die Tendenz deutlich in der Formulierung der Frage
Luk. 10, 36 enthalten: es handelt fich um den Begriff
des ,Nächften', und Jefus zeigt, daß der verachtete Samariter
, indem er rechte Liebe übt, fich den Ehrentitel
des ,Nächften' erwirbt; in rechter Liebe fragt man nicht
,wer ift mein Nächfter?', fondern behandelt jeden Men-
fchen als feinen Nächften. Bei der Gefchichte von Maria
und Martha halte ich es nicht für fachgemäß, den Gegenfatz
von ,Arbeiten' und,Andacht' einzuführen (S.67ff.).
Es handelt fich vielmehr um die zwiefache Ausübung der

' Gaftfreundfchaft, ob man fich perfönlich, einheitlich und
hingebungsvoll dem Gafte widmet oder ihm, in allerlei
kleine Sorgen fich zerteilend, vielerlei darbietet, oder
mit andern Worten darum, daß man Gott oder feinem
Propheten recht dient, nicht indem man ihm allerlei
Dienfte erweift, fondern indem man fein Wort und feine
Nähe auf fich wirken läßt. Endlich fehe ich nicht ein,
weshalb ,das grundlegende Erlebnis für das Verftändnis
des Evangeliums, das gerade in der dankbaren Erkenntnis
befteht, feine Zugehörigkeit zu Gott der Gnade zu

i verdanken, für Kinder einfach unvollziehbar' fein foll

: (S. 119 f.).

Diefe Ausftellungen bitte ich den Verfaffer bei der
j hoffentlich fehr bald notwendigen zweiten Auflage
j freundlich prüfen zu wollen. Ich halte Niebergalls Buch
für eine bedeutfame und fehr willkommene Bereicherung
! unferer praktifch-theologifchen und pädagogifchen Lite-
j ratur. In erquicklicher Weife räumt es mit allerlei For-
I malismus, Schematismus und Dogmatismus auf. Ich
wünfche ihm unter Lehrern und Predigern viele nachdenkliche
Lefer.

Frankfurt a. M. D. Bornemann.

Mitteilungen.

t. liei der Verlofung, die das Papyrus-Kartell im Juli 1908 in
I Berlin vornahm, fielen der Gießener Univerfitätsbibliothek unter Papyrus-
I und Pergamentftücken, von denen das gotifch-lateinifche Bibelfragment
publiziert ift, auch Refte einer griechifchen Überfetzung des famaritani-
fchen Pentateuch (einige Verfe aus Deut. Kap. 24. 25. 27 und 29) zu.
Damit dürfte die vollftändige, in Ägypten verfertigte griechifche Überfetzung
des famaritanifchen Targum, das mehrfach zitierte Zctfiaoemxör,
deffen Exiftenz Sam. Kohn 1894 nachzuweifen gefucht hatte, in Frag-
, menten auf uns gekommen fein. Auch für die Septuagintaforfchung
fcheinen mir diefe Refte einigen Wert zu haben. Sie Hammen aus einer
Handfchrift, die in Unzialen mit je zwei Spalten auf der Seite, wenn ich
nicht irre, im 4. Jahrhundert gefchrieben ift, und wurden in Antinoe
I gefunden. Lic Qlaue, Gießen.