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Ausgabe:

1910 Nr. 19

Spalte:

604-605

Autor/Hrsg.:

Peters, Martin

Titel/Untertitel:

Der Bahnbrecher der modernen Predigt Johann Lorenz Mosheim in seinen homiletischen Anschauungen dargestellt und gewürdigt 1910

Rezensent:

Schian, Martin

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Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 19.

604

Das Buch ift im Befitze eines Kirchenälteften, des Herrn
K., in Berlin, der, zwifchen 1866 und 1870 Reifebegleiter
von Leo Tolftoi, etwa 1868 das Buch in Petersburg im
f. g. Kaufhaufe, einem ungeheuren Trödelmarkte, entdeckt
und um geringen Preis erworben haben will; er
habe feinen Fund fofort Tolftoi gezeigt und mit ihm über
den hohen Wert des Buches geredet.

Der Verfaffer unferer Schrift, Herrmann, unterzog
das Buch, vor allem das Konzeptblatt, einer eingehenden
Unterfuchung. Die Handfchrift mit den Korrekturen,
der Eigentumsvermerk, die Datierung, die Orthographie,
die Varianten waren fo unverkennbare Zeugniffe der Echt-
heit, daß gewiegtefte Lutherkenner, Archivare und Antiquare
an der Echtheit keinen Zweifel hatten; überdies
entflammt das Papier des Blattes aus dem 16. Jahrhundert,
und die gelbliche Tinte zeigt denfelben Farbenton, der
in den Handfchriften des 16. Jahrhunderts ftets gefunden
wird. Gleichwohl konnte Herrmann allerlei Bedenken
nicht loswerden, die nach und nach fich mehrten und
verftärkten, bis fie zu dem ficheren Ergebnis der Fäl-
fchung führten. So weift das Konzeptblatt ftarke Wurmlöcher
auf, die Blätter des Buches verfchwindend geringe;
das Papier des Buches ift italienifches, das des Blattes
deutfches Fabrikat; winzige Eigentümlichkeiten der Buch-
ftaben N und M, wie fie fonft bei Luther nicht nachweisbar
find; das Fehlen aller Interpunktionszeichen;
die Verwendung des y ftatt i in ,mir, wir, ein, mein, fein',
was nachweislich feit 1526 bei Luther fich nicht mehr
findet; die Datierung nach dem Kalenderdatum, nicht
wie fonft ftets bei Luther nach dem Heiligentage, die
Schreibung der Jahreszahl nicht mit arabifchen, fondern
mit römifchen Ziffern. Sodann ftellte fich heraus, daß
Johann Lang höchft wahrfcheinlich im November 1527
fich gar nicht in Wittenberg befand, fondern in feinem
Wohnort Erfurt; überdies erklärte Tolftoi auf eine
Anfrage, den Herrn K. nicht zu kennen und das
Buch nie gefehen zu haben. Endlich wies der bekannte
Chemiker Dr. Jeferich nach, daß die Tinte des Blattes
noch jetzt kopierfahig fei, während alle im 16. Jahrhundert
verwendeten Tinten nicht kopierfähig feien, und entdeckte,
daß die ominöfen Wurmlöcher früher dagewefen feien,
als die Schrift auf dem Blatt.

Da konnte kein Zweifel fein, daß in dem Konzept
des Liedes eine zwar fehr gefchickt ausgeführte, aber
unverkennbare Fälfchung des Autographons Luthers vorlag
. Die letzten Fragen; über den Urheber der Fälfchung
und ihre Verbreitung, wurden auch bald gelöft. Im Jahre
1898 nämlich fand in Berlin beim Landgericht I eine
Verhandlung ftatt gegen die Frau des Handelsmanns
Hermann Kyrieleis, die der Verbreitung gefälfchter
Lutherhandfchriften angeklagt war. Aus der Verhandlung
ergab fich, daß von dem genannten Kyieleis in den Jahren
1893—1896 nicht weniger als 90 falfche Lutherautographen
hergeftellt und an die erften Lutherkenner und an hervorragende
Antiquare des In- und Auslandes als echt verkauft
worden waren. Die Profpekte befonders einer Wiener und
einer Münchener Firma, die ihre Luthererwerbungen an-
priefen, erweckten durch deren große Zahl Verdacht; eine
öffentliche Warnung von D. Buchwald und dem Antiquar
Schulz in Leipzig führte zur Anklage der beiden Kyrieleis.
Aus den Gerichtsakten ergab fich, daß Kyr. im Juli
1896 den Picus Mirandula von der Firma Weigel in Leipzig
erworben und das Buch mit der Fälfchung und etwa 16
andern Fälfchungen an eine Wiener Firma verkauft hatte.
Zur Deckung der Gerichtskoften wurde die eingelieferten
Fälfchungen durch einen Gerichtsvollzieher verfteigert;
Mirandula mit dem Lutherlied erwarb ein Berliner
Antiquar, der das Buch an einen bald verdorbenen
Sammler in Berlin, jedoch ausdrücklich als Fälfchung, verkaufte
. Wie nun das Buch in die Hände des Kirchenälteden
K. gekommen id, entzieht fich der Nachforfchung. Jedenfalls
hat diefer Herr das Buch erd im Jahre 1898 erworben
, und feine romantifche Erwerbsgefchichte von

Petersburg und Toldoi 1868 hat er lediglich feiner dichtenden
Phantafie entnommen.

Die Unterfuchungen Herrmanns enden mit einem
negativen Refultat; fie find gleichwohl von nicht geringem
Werte. Der Lefer folgt feinen Ausführungen mit
gefpanntem Intereffe; die Freude an der philologifchen
Akribie und dem detektiven Scharffinn verbindet fich
mit dem lehrreichen Einblick in das Gefchäft eines fehr
gefchickten Fälfchers, der mit raffinierteder Simulation
Gelehrte von bedeutendem Anfehen hat betrügen können.
— In einem Anhang (S. 26—32) werden die Kyrieleis'fchen
Lutherfälfchungen des genaueren vorgeführt; und fechs
höchd wertvolle Tafeln führen die wefentlichen
Daten zur Nachprüfung dem Lefer vor Augen.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Peters, Stiftspred. Martin, Der Bahnbrecher der modernen
Predigt Johann Lorenz Mosheim in feinen homiletifchen
Anfchauungen dargedellt und gewürdigt. Ein Beitrag
zur Gefchichte der Homiletik. Leipzig, A. Deichert,
Nachf. 1910. (VI, 227 S.) gr. 8° M. 4.80

Es bedarf nicht der wie eine Entfchuldigung klingenden
Verteidigung gegen den Vorwurf des Hidorizismus
(Vorrede und 6), wenn P. die theoretifchen Anfchauungen
eines Mosheim über die Predigt klarlegt. Solche hifto-
rifche Arbeiten werden wir immer brauchen; nur müffen
wir uns hüten, ihre Bedeutung für das Ganze zu über-
fchätzen. Sogar der Nachweis, daß Mosheim auch manche
,lebendige und nutzbare' Anregung geben kann, war für
die Begründung der Nützlichkeit der Arbeit nicht eigentlich
nötig; darüber, ob die Einreihung reichlicher eigener

I Urteile in die gefchichtliche Dardellung felbd befonders
förderlich war, läßt fich fogar dreiten. Vielleicht wäre
der Weg der Sonderung von Bericht und Urteil der beffere
gewefen. Doch haben die Urteile den Vorzug, daß
man in den gründlichen inneren Verarbeitungsprozeß,

j dem P. Mosheims Theorie unterzogen hat, hineinfchauen
kann. — P. beklagt mit Recht, daß für die Gefchichte
der Predigttheorie noch wenig gefchehen id (7); doch
fcheint er nicht alle vorhandenen Arbeiten zu kennen
(z. B. nicht meine Studie über die lutherifche Homiletik
1550—1600). Jedenfalls kann hier noch viel Arbeit geleidet
werden; und Mosheims .Anweifung, erbaulich zu
predigen' id gewiß in erder Linie eingehender Behand-

1 lung wert. Eine folche hat fie durch P. gefunden, und

j zwar nicht bloß im Sinne genauer Dardellung des Gedankeninhalts
diefer Schrift, fondern auch in dem weiterreichenden
einer Hineindellung der Predigttheorie in das
Ganze von Mosheims Anfchauungen. Wie M. über die
Kirche, das geidliche Amt, den Gottesdiend gedacht
hat, das wird einleitend in Kürze, aber durchaus zureichend
dargelegt. Auch an anderen Stellen des Buchs
zeigt fich das Bemühen nach Erfaffung der inneren Zu-
fammenhänge zwifchen M.'s Predigttheorie und feinen
übrigen Meinungen; z. B. id das Kapitel über die h.

I Schrift als Stoffquelle der Predigt unterbaut durch eine
Unterfuchung über M.'s Anfchauung von der Schrift
überhaupt (121 ff.). Die Gefichtspunkte, unter welche

I die Homiletik felbd gebracht wird, find diefe: Aufgabe
der Predigt, Zuhörer, Perfönlichkeit des Predigers, Inhalt
und Aufbau der Predigt, Stil, Abfaffung, Vortrag.
Dabei id nichts Wefentliches überfehen. Die Literatur
id nicht gerade in Überfülle, aber in guter Auslefe des
Wertvollen benützt; Heuflis Studie id vielfach herangezogen
, größtenteils zudimmend, einige Male auch in
kritifcher Auseinanderfetzung; auch meine Auffaffung
M.'s in meiner ,Sokratik' id beachtet; der Beandandung
meiner Auffaffung von der Vernunft bei M. (135 Anm.)
liegen richtige Beobachtungen zugrunde, nur daß P. wohl
nach der anderen Seite übers Ziel hinausfchießt. Eine
große Schwierigkeit bei derartigen Einzelunterfuchungen