Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1910 Nr. 19

Spalte:

597-601

Autor/Hrsg.:

Cramaussel, Edmond

Titel/Untertitel:

La Philosophie religieuse de Schleiermacher 1910

Rezensent:

Scholz, Heinrich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

597

Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 19.

598

Kant fondern haben erft einige feiner Epigonen getan. Er hat in der genannten Zeitfchrift den Inhalt wichtiger

(S. 93). 1 Schleiermacherfcher Schriften im Auszuge mitgeteilt und

Der zweite Teil der Schrift behandelt die ,Lehre erläutert: 1894 die Abhandlung über die Erwählungslehre,

vom Bewußtfein überhaupt' in der nachkantifchen Phi- 1896 die Abhandlung über fabellianifche und athanafiani-

lofophie, zuerft bei C. L. Reinhold, Salomon Maimon, fche Trinität, 1896 und 97 die Sendfehreiben an Lücke,

J. G. Fichte, Sendling, Hegel, in der .Fundamental- und | 1898 die Enzyklopädie. 1900 begannen feine Aufätze

Glaubensphilofophie', bei Fries, und dann bei Vertretern über die Dialektik, die unvollendet geblieben find. Drei

der neuelten Philofophie z. B. bei Riehl, Cohen, Lieb- Stücke hat er noch felbft veröffentlicht, das vierte ift nach

mann, Laas, Schuppe, Windelband, Rickert, Münfterberg, feinem Tode 1901 als Fragment gedruckt worden. Tiffot

Th. Lipps. Zuletzt werden die Einwände gegen das ,Be- hat auch die .Weihnachtsfeier' ins Franzöfifche überfetzt

wußtfein überhaupt'von Drews, E. von Hartmann, Rehmke (Paris 1892). Eine Überfetzung der Glaubenslehre, die

u. a. zufammengeftellt. Ihren Höhepunkt erreicht die bei feinem Tode im Manufkript vollendet und für den

metaphyfifche Realifierung des .Bewußtfeins überhaupt' 1 Druck beftimmt war, ift nicht erfchienen und wird auch

neueftens bei Th. Lipps, deffen Welt-Ich als ein gött- ; nicht erfcheinen >).

liches Allbewußtfcin die Grundlage der zur Natur- Trotz diefer bemerkenswerten Vorarbeiten ift die
philofophie erhobenen Naturerkenntnis bilden foll. Von neue Unterfuchung über Schleiermachers Religionsphiloden
meiden diefer .Philofophen des Bewußtfeins über- | fophie ein durchaus felbßändiges, auf lebendiger Anfchau-
haupt' glaubt aber der Verf. fagen zu können, daß fic ung der Quellen und forgfältigem Studium der Probleme
zwar das .Bewußtfein überhaupt' als bloßen Begriff be- ruhendes Werk. Auch id gerade die deutfehe Schleierzeichnen
, ihm aber doch unverfehens eine metaphyiifche ' macherforfchung an allen entfeheidenden Punkten fo
Realität unterfchieben (S. 205). Für diefe mißbräuchliche gründlich und eingehend berückfichtigt, daß fad kein
Verwendung des Terminus id aber nicht Kant felbd bedeutendes Buch überfehen id, ausgenommen etwa
verantwortlich zu machen. Für ihn id er nicht meta- Weißenborns Vorlefungen über Schleiermachers Dia-
phyfifch, fondern nur erkenntnistheoretifch, ein Hilfsbegriff , lektik und Dogmatik.

zur Begründung der objektiven Allgemeingültigkeit. Man kann die Schleiermacherfche Religionsphilo-

In feiner eigenen Faffung des Begriffes id der Verf. fophie von zwei Gelichtspunkten aus entwickeln, ent-

nicht immer ganz glücklich, wenn er teils felbd dafür weder im Querfchnitt, fydematifch, indem man die

den Ausdruck ,überindividuelles Bewußtfein' gebraucht 1 reifde Form feiner Ideen zum Grunde legt und die

(S. 70), teils von einer ,Idee' (S. 70 f. 91) teils von einem : früheren Kombinationen an geeigneten Punkten ein-

,Grenzbegriff'(S. 91) redet. Für einen .bloßen methodifchen fchaltet — oder im Längsfchnitt, hidorifch-genetifch,

Kundgriff' (S. 91) oder die nur .formale Bedingung des indem man die Entwicklung feiner Ideen durch ihre

Gegenftandes überhaupt' (S. 209) id damit entweder zu I verfchiedenen Stadien verfolgt und das Ganze durch

viel oder zu wenig getagt. Alles in allem hat aber die eine Überficht krönt, in der die wichtigden Refultate

forgfältige Unterfuchung das Verdiend, dem befonders diefes Prozeffes in ihrem organifchen Zufammenhange

in der allerneuden Philofophie zwifchen metaphyfifch- niedergelegt find. Beide Wege führen zum Ziel; und

realer und erkenntnistheoretifch-formaler Bedeutung I wenn auch die vollkommende Dardellung erd aus ihrer

fchillernden Begriff in der Lehre Kants feine Stelle an- Kombination entfpringen möchte, fo kann es bei der

gewiefen und ausreichendes Material zur Kritik neuerer j verwickelten Struktur des Gegendandes nur nützlich

mißbräuchlicher Verwendung desfelben geliefert zuhaben, fein, wenn jeder zunächd für fich befchritten wird.

Dresden. Th. Elfenhans. | Der Verfaffer der vorliegenden Monographie hat

den letzten Weg gewählt und die Genefis der Schleier-

Cramaussei, Prof. Dr. Edmond, La philosophie religieuse macherfchen Religionsphilofophie in den Mittelpunkt
* Cibrairie Kündig If9. ; g~ Ä^Ä^ft

(288 p.) 8° >r- 5 Perioden: 1) die Epoche der werdenden Individualität

Es id ein fchöner Triumph für Schleiermacher, daß {Formation philosophique et religieuse); 2) die Epoche
das Verdändnis für feine Größe und für das Produktive j der erden originalen Konzeptionen {Apologie de rcli-
in feiner Erfcheinung auch im Auslande aufzuleuchten gion 1799—1809); 3) die Epoche der fydematifchen
beginnt Im Jahre 1903 hat der englifche Forfcher Ro- Entwürfe und Vorarbeiten {Organisation religieuse
bert Munro ein Schleiermacher-Buch veröffentlicht, an 1809—1820); 4) die Epoche der vviffenfehaftlichen Voll-
dem die deutfehe Forfchung mit Unrecht vorüberge- endung und Reife {Elaboration scientifique de la doctrine
ganzen id {Schleiermacher, Personel and Speculative, 1821—-1834).

Paisley 1903). Durch die Frifche der Auffaffung und Diefe Einteilung hebt die Knotenpunkte in Schleier-

die Unbefangenheit des Urteils wird diefe fchöne Mono- machers innerer Entwicklung im ganzen richtig und zu-
graphie zu einem würdigen Denkmal deffen, was Sc leier- treffend heraus. Nur die Abgrenzung der zweiten Epoche
macher gewollt und geleidet hat. Und folange wir erregt Bedenken. Die Berufung nach Halle 1804 id ge-
Diltheys zweiten Band nicht haben, kann diefe Le- rade auch für die intellektuelle Entwicklung Schleierbensbild
uns geben, was Schenkels Üächenhafte Dar- 1 machers fo entfeheidend gewefen, daß es fich empfehlen
dellung vom Jahre 1868 nicht vermocht hat: einen j möchte, den Einfchnitt hier und nicht erd 1809 zu machen,
pladifchen Eindruck von Schleiermachers Art und Kraft, , Was den Verfaffer bewogen hat, fo weit herunterzugehen,
von der Größe und Dauerhaftigkeit feiner Bedrebungen. id die Überlegung, daß erd die religiöfe Erhebung der
InFrankreich und der franzöfifch-reformiertenSchweiz I Jahre 1806—1808 in Schleiermacher den Sinn für die
id man begreiflicherweife viel früher auf Schleiermacher j Bedeutung des Gemeinfamen in der Religion recht le-
aufmerkfam geworden. Unter den älteren Dardellungen 1 bendig erregt, und feinem Denken dadurch eine Wendung
der Schleiermacherfchen Theologie id die Abhandlung j gegeben habe, die die empfindlichde Schranke feiner
F. Lichtenbergers (1832—1899), im zweiten Bande j erden fchöpferifchen Periode, die Enge des romantifchen

feiner Histoirc des idees religieuses en Allemagne depuis
le milieu du XVIII' siede jusquä nos jours, Paris 1873,
die gründlichde und vorzüglichde. Nach ihm hat den
der Genfer Profeffor D. Tiffot (1824—1900) durch eine
Reihe von fcharffinnigen und treffenden Analyfen, die
in der Revue de theologie et de philosophie erfchienen
find, befonders um Schleiermacher verdient gemacht.

Individualismus, fieghaft überwindet, und der Anfangspunkt
neuer, fruchtbarer Konzeptionen wird (vgl. S. i3Sf.).

1) Ich verdanke diefe Nachricht Herrn Profeffor Elidel in Genf,
dem Mitherausgeber der Revue dt thiol, et de phil. —■ Von Schleiermachers
Schriften find nur noch die Monologen, von Louis Segond,
Geneve 1839, ins Franzöfifche übertragen; doch i(t diefe Überfetzung, nach
einer Mitteilung von Herrn Prof. Lob dein-Straßburg, ungenießbar.