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Ausgabe:

1910 Nr. 19

Spalte:

595-597

Autor/Hrsg.:

Amrhein, Hans

Titel/Untertitel:

Kants Lehre vom ‘Bewußtsein überhaupt’ und ihre Weiterbildung bis auf die Gegenwart 1910

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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595 Theologifche Literaturzeitung 1910 Nr. 19. 596

Thomae Hemerken a Kempis, Can., Opera omnia, volv-
minibvs Septem edidit additoqve volvmine de vita et
scriptis eivs dispvtavit Michael Josephvs Pohl. Vo-
lvmen primvm, tractatvvm asceticorvm partem primam
complectens. Catalogi antiqvissimi prima opvscvla
qvattvor et soliloqvivm animae. Fribvrgi Brisig.,
svmptibvs Herder MDCCCCX.

M. 6—; geb. M. 7.60; in Pergament M. 8 —

I. De pavpertate, hvmilitate et patientia sive de tribvs taber-
nacvlis. — De vera compvnctione cordis. — Sermones devoti. —
Epistvla ad qvendam cellerarivm. — Soliloqvivm animae. Adiectis
epilegomenis adnotatione critica indicibvs tabvlis photographicis ad
codicvm manv scriptorvm editionvmqve vetvstissimarvm fidem edidit
Michael Josephvs Pohl. (VII, 591 p.) 8»

Von der kritifchen Gefamtausgabe der Werke des
Thomas a Kempis, die der ehemalige Kempener Gym-
nafialdirektor ediert, ift 1902 der 5., 1904 der 2. u. 3.,
1905 der 6. Band erfchienen. Daß Pohl feitdem die
Hände nicht in den Schoß gelegt bat, zeigt u. a. fein
Auffatz in Nr. 21 der Literar. Beilage zur Kölnifchen
Volkszeitung von 1908 (vgl. das Referat von L. Schulze,
Theolog. Literaturbl. 1909 Nr. 47) über eine Handfchrift
der Bibliothek zu Cambrai, die Molinier zwar befchrieben
hat (Catalogue general des manuscrits publiques de
France. Departements, t. XVII: Bibliotheque de Cambrai
, Paris 1891, p. 318 Nr. 835), die aber bisher noch
nicht benutzt war. Sie ift von entfcheidender Bedeutung
für die Löfung der Frage, ob Thomas der Verfaffer der I
hnitatio ift. Bekanntlich läßt die Unterfchrift in dem
Antwerpener, jetzt Brüffeler Thomasautograph von 1441
die Möglichkeit beftehen, daß Thomas darnach nur als
Abfchreiber, nicht als Verfaffer der in der Hf. enthaltenen j
9 verfchiedenen Schriften des Thomas gelten foll. Ma-
billon, der Führer derer, die Thomas nur als Abfchreiber [
anfahen, wollte fich nur gefchlagen geben, wenn ihm ;
Hff. nachgewiefen würden, die älter wären als die erwähnte
von 1441 und Thomas ausdrücklich als den Autor bezeichneten
. Füne folche Hf. ift nun die von Cambrai, j
denn fie ift von 1438 datiert und nennt an zwei Stellen
Thomas als den Verfaffer der hnitatio. Pohl fchließt
mit der Frage, ob die Antithomiften daraus wohl diefelbe
Folgerung ziehen würden, die Mabillon zu ziehen fich
bereit erklärt habe. Im vorliegenden Bande p. 375 n.
kommt er auf die Sache nochmals zurück. In der Tat
fcheinen jetzt die Gründe, die für Thomas als den Verfaffer
der Imitatio fprechen, das erdrückende Übergewicht
erlangt zu haben.

Unfer Band enthält folgende Schriften des Thomas:
De paupertate, humilitate et patientia sive de tribus taber-
naculis; De vera compuuctione cordis; Sermones devoti;
Epistola ad quendam cellerarium; Soliloquium animae.
Mit unermüdlichem Fleiße und der Genauigkeit, zu der
nur die begeifterte Hingabe an ein Lebenswerk die Kraft
verleihen kann, hat Pohl die Hff. zufammengefucht, rangiert
, befchrieben, auf ihr Alter, ihr Verhältnis zu einander
, Orthographie und Interpunktion hin unterfucht,
ebenfo die Druckausgaben auf ihr Verhältnis zu den Hff.
und zu einander hin geprüft und danach den Text kon-
ftituiert, der von dem des Sommalius an mehr als 682
Stellen abweicht. Möge es dem greifen Verfaffer vergönnt
fein, die auf 8 Bände berechnete Ausgabe mit
dem glücklichen Erfolge, mit dem fie jetzt über die
Hälfte fortgefchritten ift, zu Ende zu führen!

Zwickau i. S. O. Clemen.

Amrhein, Dir. Dr. Hans, Kants Lehre vom ,Bewußt(ein
überhaupt' und ihre Weiterbildung bis auf die Gegenwart
. Mit einem Geleitwort von H. Vaihinger.

(Kantftudien. No. 10.) Berlin, Reuther & Reichard
1909. (X, 210 S.) gr. 8° M. 6.80

Der Begriff ,Bewußtfein überhaupt' umfchließt für
manche neuere und neuefte Philofophen die letzte Antwort
auf die Fragen der Erkenntnistheorie, ja der Philo-
fophie. Da unter ihnen befonders mehrere namhafte
Forfcher der Gegenwart fich dabei unmittelbar auf
Kant berufen, fo verbindet fich in dem Streit um das
,Bewußtfein überhaupt', wie in fo mancher anderen
philofophifchen Frage der Gegenwart, das Intereffe der
Kantauslegung mit der Rechtfertigung des eigenen philofophifchen
Standpunktes.

Es war daher ein glücklicher Griff, als die Hallenfer
philofophifche Fakultät auf Veranlaffung H. Vaihingers
die Preisaufgabe (teilte: ,Kants Lehre vom Bewußtfein
überhaupt'. Der Verfaffer diefer Schrift erhielt den
Preis und die jetzt vorliegende Abhandlung ift eine
zum Zweck der Promotion unternommene Umarbeitung
und Erweiterung der Preisarbeit. Die in diefem Fall
ganz unentbehrlichen hiftorifch-terminologifchen und be-
griffsftatiftifchen Unterfuchungen find mit großer Sorgfalt
angeftellt. Das Vorkommen der Ausdrücke ,Bewußt-
fein', ,Apperzeption' fowohl in den vorkritifchen Schriften
Kants als in den beiden Auflagen der Kritik der reinen
Vernunft und in der fpäteren Zeit, wie auch der Sinn
des ,überhaupt' bei Kant wird aufs genauefte verfolgt.
,Bewußtfein überhaupt' ift von Kant jedenfalls zunächft
in demfelben logifch-verallgemeinernden Sinne gemeint,
wie z. B. von Anfchauung überhaupt, Befitz überhaupt,
Pflicht überhaupt, Staat überhaupt die Rede ift. ,Überhaupt
' bedeutet dabei etwa fo viel als ,im allgemeinen
betrachtet'. Gemeint ift alfo nicht ,mein momentanes
Bewußtfein, und mein individuelles Bewußtfein als Diefes,
auch nicht dein Bewußtfein mit feinen wechfelnden Inhalten
als Jenes, auch nicht fein Bewußtfein als ein
drittes, fondern das, was jedem Bewußtfein gemeinfam
ift, die allgemeine Form und das allgemeine Gefetz des
Ich-Seins, d. h. eben des Bewußtfeins' (S. 70). Unmerklich
bekommt aber das .überhaupt' in diefer befonderen
Verbindung doch einen ganz anderen Wert als in den
fämtlichen übrigen. Durch jenes logifch-allgemeine Bewußtfein
überhaupt wird ja die Allgemeinheit und Notwendigkeit
unferer Erkenntnis felbft hervorgebracht und
gewährleiftet und fo wird ,der Verftandesbegriff des
Bewußtfeins im allgemeinen'zum ,Vernunftbegrif-
eines — Allgemeinbewußtfeins, eines über die einzelnen
Individuen hinausragenden, hinausgreifenden, überindividuellen
Bewußtfeins' (S. 70). Allerdings verlaffen
wir damit das Gebiet des Logifch-Allgemeinen, ,wir
kommen ins Überlogifche', aber tun damit doch noch
keinen Schritt in das Gebiet einer neuen Realität. Nur
als methodifchen Kunftgriff, nicht einmal als Hypothefe
nimmt Kant ein folches Allgemein-Bewußtfein an. ,Meine
Erkenntniffe find dann objektiv, d. h. allgemein und notwendig
, wenn fie fo geformt find, wie fie fein müßten,
wenn fie einem allumfaffenden Allgemein-Bewußtfein,
dem Generalvertreter aller einzelnen Bewußtfeine unter-
ftellt würden' (S. 91). Doch ift diefes ,Bewußtfein überhaupt
' begrifflich nicht identifch mit der .Synthefis der
tranfzendentalen Apperzeption', d.h. mit der Gefttzmäßig-
keit, nach der alle Verbindung des Mannigfaltigen in
jedem Bewußtfein vor fich gehen muß. Von einem folchen
.Bewußtfein überhaupt' kann man ja auch, wie das fpäter
tatfächlich bei Laas gefchieht, fprechen, ohne jene vom
Verf. angenommene apriorifche Gefetzmäßigkeit alles
Denkens überhaupt anzuerkennen. Ebenfowenig aber
wie auf die tranfzendentale Apperzeption ift auf das
.Bewußtfein überhaupt' die Kategorie der Subftanz anwendbar
. Den verhängnisvollen, über den Kritizismus
hinausführenden, und damit zum unkritifchen Dogmatismus
verführenden Schritt vom logifchen Allgemeinbegriff
zum m etaphyfifchen Grundbegriff hat nicht