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Ausgabe:

1910

Spalte:

524-525

Autor/Hrsg.:

Lepin, M.

Titel/Untertitel:

La Valeur historique du quatrième Évangile 1910

Rezensent:

Hennecke, Edgar

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bietet das Buch Goguels eine forgfältige Analyfe des
zweiten Evangeliums, die bei jedem Abfchnitt fragt, ob
Markus vor den Seitenreferenten die Priorität gebühre,
aus welchen Quellen er gefchöpft, was ihn veranlaßt
habe, das betr. Stück gerade hier unterzubringen. Eingerahmt
ift der Hauptteil mit dem Titel Les Clements
du recit (S. 35—297) durch Unterfuchungen über die Tradition
bezüglich des Markusevangeliums und feines Ver-
faffers fowie über den Plan des Markusevangeliums einer-
feits (S. 1—33), durch einen Abfchnitt über die Integriät
des zweiten Evangeliums und ,Conclusions' andererfeits
(299—310). Die ganze Arbeit zeichnet fich aus durch
gründliche Beherrfchung der einfchlägigen Literatur,
Sauberkeit in der Darlegung der Tatbeftände und be-
fonnene Ehrlichkeit in dem ftets fich erneuernden Hinweis
auf das Hypothetifche vieler der gezogenen Schlüffe.
Auch die Sorgfalt des Druckes darf man loben.

Daß Markus der ältefte der Synoptiker und von
den anderen benutzt ift, erfcheint Goguel mit Recht als
äußerft wahrfcheinlich. Aber ebenfalls zutreffend betont
er, daß daraus noch nicht folge, die einzelnen Perikopen
bei Markus müßten nun auch immer urfprünglicher fein
als ihre Parallelen bei Matthäus und Lukas. Er regiftriert
jedesmal forgfältig die Differenzen — auch was Johannes
an fynoptifchem Material befitzt, wird herangezogen —
und fucht dann zu einem Urteil zu kommen. Meißens
fällt es zugunften der Priorität des Markus aus, auch
bezüglich fo umftrittener Stücke wie die Gefchichte von
der Verfuchung (S. 53 f.) und von der Heilung des Gelähmten
(S. 69). In anderen Fällen freilich muß Markus
zurückftehen. Doch ift hier die Beweisführung Goguels
nicht immer zwingend. Ich wenigftens habe mich keineswegs
davon überzeugen können, daß der Text der Aus-
fendungsrede bei Markus ,n'est qu'un resume de celui de
Mathicn' (S 130). Und ,ohne Zögern' möchte ich den
fekundären Charakter der marcinifchen Perikope von der
Ehefcheidungsfrage nicht behaupten (194).

Faft mehr Fleiß noch als auf die Feftftellung des
Verhältniffes des zweiten Evangeliums zu Matthäus und
Lukas verwendet der Verfaffer auf die Ermittelung der
Quellen des Markus. Das diefem zu Gebote flehende
Quellenmaterial wird als recht reichlich gefchildert.
Markus benutzte die Petruserinnerungen und die Logien-
quelle, eine Sammlung von Streitgefprächen, einen Bericht
über Prozeß und Tod Jefu, dazu mancherlei andere
Traditionen. Ihnen entnimmt er feinen Stoff, ohne Kritik
zu üben, und ordnet ihn nach einem Plan, der von ver-
fchiedenen Gefichtspunkten beherrfcht ift und manchmal
recht gekünftelt anmutet.

Doch genügt die Aufzählung der Quellen und der
Hinweis auf die Art, wie der Evangelüt fie gebraucht
hat, nicht, um die Entftehung des Markusevangeliums
in leiner heutigen Gellalt zu begreifen. Wir find damit
vielmehr erft zu der Form gelangt, die der etwa im
Jahre 65 fchreibende Evangelift feinem Werke gegeben
hat. Es dauerte dann noch etwa zwanzig Jahre, bis das
zweite Evangelium das Ausfehen gewann, das es heute
zeigt. Das Evangelium hat nämlich weiterhin noch
mehrere Entwicklungsftadien durchlaufen — dies die
Form, welche die Theorie vom ,Proto-Markus' bei Goguel
aufweift (304). Zwifchen 70 und 75 wurde dem Evangelium
aus einer fchriftlichen Quelle chriftlichen Ur-
fprungs, die nicht die Logienquelle ift, die fog. fynopti-
fche Apokalypfe, die ihrerfeits fchon eine Gefchichte
hat (233—235), eingefügt, und zwar zunächft in einer
Geftait, die der lukanifchen ähnlich war. Dann zwifchen
75 und 85 empfing fie durch Umarbeitung die jetzige
Form, die Matthäus übernommen hat (S. 243—248). Im
gleichen Jahrzehnt wurden diel Bethanienepifoden (verfluchter
Feigenbaum, Salbung) dem zweiten Evangelium
einverleibt (249 f.). Auch die Vorbereitung des letzten
Mahles Mk. 14, 12—17 erklärt Goguel im Anfchluß an
Spitta für eine fpätere Zutat, durch die dem Mahl der

Charakter des Paffahmahls nachträglich aufgeprägt worden
fei (257 f.). Dagegen unterfcheidet fich G. von Spitta
durch die Ablehnung der Annahme von Lücken inner-

j halb des Markusevangeliums (301). Nur der Schluß ift
abhanden gekommen.

Wird er hier die große Mehrzahl der Mitforfcher
auf feiner Seite haben, fo ruft fein Buch auf zahlreichen
Einzelpunkten Widerfpruch wach. Was er S. 149 über
den mutmaßlichen hiftorifchen Kern der Erzählung vom

! Meerwandeln ausführt, hat keinen Anfpruch auf Zuftim-
mung. Daß Markus (8, 31) in der Leidensweisfagung

'< ,nach drei Tagen', ftatt ,am dritten Tage' fage, weil er
in dem verlorengegangenen Schluß von einer Erfchei-
nung Jefu in Galiläa ,eine gewiffe Zeit nach dem dritten
Tage' berichtet hat (172 t.), kann ich nicht glauben. Er-
fcheinung ift nicht Auferftehung; und auch bei Markus
wird am dritten Tage das Grab leer gefunden. Daß
Mk. 10, I vorausfetze, Jefus fei bereits in Judäa gewefen
und habe dort die Mafien gelehrt (193), fcheint mir ein
zu fpitzfindiger Schluß zu fein. Befonders aber bin ich
der Meinung, daß der Werdeprozeß, den Goguel uns

I fchildert, zu kompliziert ift, um fich weiteren Kreifen
empfehlen zu können.

Aber dies freilich wird uns fein Buch lehren, daß
im fynoptifchen Problem Schwierigkeiten enthalten find,
die man heute noch nicht überwunden hat, und die vielleicht
immer einer allgemein befriedigenden Löfung
widerftreben werden. Dafür fowie für zahlreiche richtige
Punzelbeobachtungen fchulden wir ihm Dank; und auch
von feinen weiteren Beiträgen zu unferem Gegenftand
erwarten wir reiche Belehrung.

Marburg (Heffen). Walter Bauer.

Lepin, Prof. M., La valeur historique du quatrieme Evangile.

Deuxvolumes. Paris, Letouzey et Ane 1910. 8° fr. 8 —

Premiere partie: Les r6cits et les faits. (XI, 648 p.). —
Denxieme partie: Les discours et les idees. '426 p.).

Verf., der bereits vordem über l'origine du quatrieme
evangile gehandelt hat, ftellt fich von vornherein auf den
Standpunkt der Authentizität (Abfaffung durch den Lieblingsjünger
Joh.) und findet beides, die hiftorifche Be-
! richterftattung wie die Gedankenentwicklung des Evan-
j geliums mit diefer Annahme wohl vereinbar. Er will
diefe, vornehmlich gegen Loify, deffen Buch (f. ThLZ.
1904 Nr. 14) ihm ein Korpus der von ,den liberalen Exe-
geten aller Schattierungen' vorgebrachten Schwierigkeiten
darfteilt, durch vertiefende Behandlung nach beiden
Seiten ficherftellen. Danach bemißt fich auch die Einteilung
feines Werkes (Tl. I: Les recits et les faits; Tl. II:
Les discours et les idees), die an fich glücklich genannt
werden darf. Doch werden die neueften Aufhellungen
j (Wellhaufen, Schwartz, Spitta) von der Ausfuhrung noch
! nicht getroffen. Er würde fie natürlich abgelehnt haben,
j da er unzufammenhängende, fekundäre Darftellung auch
an offenkundigen Stellen, wie in c. 6 kurz vor und nach
dem Speifungsbericht, leugnet. Das Hauptanliegen ilt
1 ihm, den vorgegebenen Allegorismus oder Symbolismus
| in der Darftellung des Evangeliften zu bekämpfen, den
Loify allerdings gelegentlich überfpannte.

Wo aber eine fymbolifche Faffung zugegeben werden
; muß (generell I 254), gefchieht es doch nur fo, daß
I dadurch die wörtliche Zuverläffigkeit des hiftorifchen
Berichts nicht gedrückt wird. Mit Vorliebe wird nach-
zuweifen gefucht, daß die Berichterftattung zugleich unabhängig
von der fynoptifchen und in Harmonie damit
ift, und das Mittel der Konfequenzmacherei vom Standpunkte
der gegnerifchen Pofition aus zu ihrer Widerlegung
gelegentlich nicht verfchmäht. Was in der Berichterftattung
über die fynoptifche hinausgeht, wird auf
perfönliche Information des Evangeliften zurückgeführt.
Das Fehlerhafte der ganzen Methode beruht darauf, daß
eine Zufammennahme der Schwierigkeiten, die der fim-